Kapitel 2

Später lag ich auf dem Bauch, die Arme unter dem Kopf verschränkt, während Alyn am Bettrand saß. Sie wirkte äußerst zufrieden. Ich betrachtete ihren Körper unter halb geschlossenen Lidern und ergötzte mich an ihrem Anblick. Sie beugte sich über mich und strich mir sanft über den Rücken. „Deine Narben...", begann sie und ich hob leicht schläfrig den Kopf. „Was ist damit?"

Sie zögerte. „Ich weiß nicht... Sie erscheinen mir blasser..."

Ich richtete mich auf und erblickte ihre zweifelnde Miene. „Ich muss mich täuschen", meinte sie. „Das Siegel hingegen – es schimmert so unheimlich schwarz wie eh und je."

Ich wollte mir über diese seltsame Begebenheit lieber keine Gedanken machen und ehe ich etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür. Alyn und ich wechselten einen raschen Blick, dann schlüpfte ich schnell in meine Hose und warf mir das Hemd über.

Es klopfte erneut und ich öffnete die Tür, das Hemd noch nicht zugeknöpft. Vor mir stand die Wirtin. Sie schien nervös. „Ich habe Tee gemacht." Sie hielt mir zwei dampfende Tassen hin. „Ihr solltet ihn trinken, bevor er kalt wird."

Alyn trat an meine Seite und empfing die Tassen, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, die Wirtin anzustarren. „Danke, das ist sehr gütig."

Die Wirtin lächelte scheu, warf mir einen letzten unsicheren Blick zu und verschwand eilig. Nachdenklich sah ich ihr hinterher.

„Das ist nett von ihr. Willst du?" Alyn hielt mir eine der Tassen hin. Ich schüttelte den Kopf. „Ich trinke nicht so gerne Tee. Quahve ist mir weitaus lieber. Vielleicht später."

Alyn zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst." Sie nahm einen großen Schluck und verzog demonstrativ genießerisch den Mund. „Du weißt ja nicht, was dir entgeht."

Sie leerte die Tasse in Rekordgeschwindigkeit. Dann gähnte sie. „Ich glaube, ich schlafe jetzt." Sie warf sich regelrecht aufs Bett und schlief sofort ein, während ich nur verdutzt dastand, das Hemd immer noch nicht zugeknöpft. „Dir auch eine gute Nacht", murmelte ich.

Es war still im Haus, kein Geräusch ertönte. Offenbar waren die anderen ebenfalls zu Bett gegangen. War ich zuvor ebenfalls kurz vorm Einschlafen gewesen, war ich nun umso wacher. Ich warf einen Blick durch das kleine Fenster. Draußen sah ich nur Schwärze, das Dorf war zu klein, um Straßenlaternen zu haben. Nur in der Ferne erkannte ich zwei flackernde Lichter. Vermutlich die Wachen.

Plötzlich drang ein leises Poltern von unten an mein Ohr. Dann ein Knarren, gefolgt von Stille. Ich schlich zur Zimmertür, einen meiner Dolche, die stets griffbereit lagen, in der Hand.

Langsame Schritte näherten sich. Ich hörte ein Klopfen an einer der gegenüberliegenden Türen. Erst leise und dann immer lauter. Als keine Antwort kam, hörte ich, wie sich die Tür knarzend öffnete. Dann gelangten die Schritte zum nächsten Zimmer und das Ganze wiederholte sich.

Jetzt verstand ich.

Als das Klopfen an unsere Tür drang, öffnete ich rasch und hielt dem Besucher meinen Dolch an die Kehle.

Ein leiser Aufschrei.

„Warum tut Ihr das?", fragte ich die leichenblasse Wirtin.

Sie schluckte. „Ihr seid wach... Was für eine ... Überraschung."

„Ich mag keinen Tee", erklärte ich.

Ich konnte ihre Angst förmlich riechen. „Ich verstehe", würgte sie hervor.

„Geht voraus." Ich schob sie aus dem Türrahmen und sie taumelte rückwärts, dann drehte sie sich um und marschierte zitternd die Treppe nach unten. Ich bedeutete ihr, sich zu setzen. Dann nahm ich ihr gegenüber Platz. Den Dolch behielt ich in der Hand. „Es ist zwar kein Messer, aber glaubt mir, ich bin ein guter Werfer", warnte ich sie, woraufhin sie erstarrte.

Ich lehnte mich zurück. „Was bekommt Ihr für diesen Verrat? Geld?"

„Mein Mann, meine Söhne - sie werden sterben. Das ist nicht rechtens."

„Darin stimme ich Euch zu. Aber ich habe diesen Krieg weder begonnen noch gewollt. Auch kann ich ihn nicht verhindern. Was hat das also mit mir oder meinen Reisegefährten zu tun?"

„Ihr solltet dort auch stehen!", stieß sie hervor. „So wie jeder Mann im dienstfähigen Alter." Sie schluchzte auf.

„Ich sagte bereits, dass wir keine Verweigerer sind."

„Ich weiß." Sie schniefte vernehmlich und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht.

„Aber Ihr habt mir nicht geglaubt."

„Ich wollte ja", verteidigte sie sich. „Aber was solltet Ihr sonst sein? Wenn Ihr freigestellt seid, warum reist Ihr dann umher und arbeitet nicht?"

Ich seufzte. „Wir sind auch nicht freigestellt. Mein Freund stammt aus Skaramesch. Dieser Krieg betrifft weder ihn noch sein Land. Er hat jedes Recht, nicht zu kämpfen."

„Und Ihr? Stimmt es, was Ihr gesagt habt? Dass Ihr ihn beenden könnt?"

„Ihr hofft, dass ich die Wahrheit sage, wollt mir vertrauen, und gleichzeitig wollt Ihr mich ausliefern. Das erscheint mir etwas widersprüchlich. Ich kann Euch jedoch versichern, dass wir alles versuchen werden. Dass es uns gelingt, kann ich jedoch nicht garantieren. Aber eines solltet Ihr noch wissen: Wenn die Le'Hag etwas von unserer Anwesenheit mitbekommen, werden sie uns nicht in den Krieg senden, sondern unversehens in den tiefsten Kerker werfen. Dann werden sie uns leise und still verschwinden lassen. Vielleicht werden sie uns auch unverrichteter Dinge wieder abziehen lassen. Das weiß ich nicht. Aber es gibt nur diese zwei Optionen. Mit keiner davon wäre Eurer Familie geholfen."

Sie schien zu verstehen. „Es tut mir leid. Ich... ich wusste einfach nicht weiter. Werdet Ihr mich töten?"

Ich lachte auf. „Nein. Warum? Ihr habt nichts Falsches getan. Außer Euch in Dinge einzumischen, die außerhalb unseres Verständnisses liegen."

„Ich verstehe nicht..."

Ich seufzte. „Ich auch nicht." Dann stand ich auf. „Und jetzt werde ich eine Runde schlafen. Es liegt in Eurer Hand, ob jemand etwas von diesem Gespräch erfährt oder nicht. Gute Nacht."

Ich wandte mich ab und ließ sie hinter mir zurück.

Alyn schlief noch immer. Ich schlüpfte aus meinem Hemd und legte mich neben sie. Den Dolch platzierte ich unterm Kopfkissen.

Nach einer Weile fiel ich ebenfalls in einen tiefen Schlaf. Wirre Träume quälten mich. Allein lief ich durch die menschenleeren Straßen Krylanids. Nur meine Schritte dröhnten laut auf dem Pflaster, sonst herrschte Totenstille. Es schien, als wären alle in eiliger Hast aufgebrochen. Seltsamerweise wunderte ich mich jedoch nicht darüber. Stattdessen stand ich auf einmal einer Frau gegenüber und obwohl ich mich nicht mehr erinnern konnte, wie sie aussah, wusste ich doch, dass es sich um meine Mutter handelte. „Ich bin tot", sagte sie. „Ich bin tot und dein Vater ist tot."
„Alle sind tot", erwiderte ich.

Sie nickte. „Aber wer herrscht dann?", fragte sie und auf einmal stand nicht mehr meine Mutter vor mir, sondern die geheimnisvolle Frau aus meinen Träumen. „Du steht in der Schuld der Götter."

Ich wich zurück, von einer namenlosen Angst gepackt, und rannte los. Auf der Flucht vor irgendetwas. In diesem Moment machte ich mir keine Gedanken darüber, sondern rannte einfach. Schließlich riss ich die Augen auf.

Den Rest des Tages sollte dieser Traum mich nicht mehr loslassen, so unsinnig er auch gewesen war.

Die anderen jedoch waren guter Stimmung. Zuerst hatten sie sich nur mühsam aus den Federn gequält, jetzt jedoch waren sie mit Energie erfüllt. Allein die Wirtin besaß ebenso dunkle Ringe unter den Augen wie ich.

Sie empfing uns mit einem etwas verzerrten Lächeln und servierte uns Frühstück, während sich Alyn und Lapislazuli angeregt über die Vorteile von Frauen an der Macht unterhielten. Rosena beschäftigte sich mit dem Jungen und versuchte ihm mit beneidenswerter Ausdauer akrid beizubringen. Ob ihre Versuche von Erfolg waren, konnte ich jedoch nicht beurteilen, denn der Junge redete nie. Sphen starrte auf sein Essen. Er wirkte ungewohnt nachdenklich. Eigentlich gehörte er zu jenem Schlag Menschen, der immer in Bewegung war und sich nur selten zu lange mit einem Gedanken beschäftigte. Deshalb hatte er es bei den Assassinen auch nie zu einem höheren Rang gebracht. Ihm fehlte einfach die Geduld, ein Opfer zu observieren und auf die beste Gelegenheit zu warten. Ihm wurde einfach zu schnell langweilig.

„Was ist los?", fragte ich ihn.

„Ich frage mich, wie dein Land so mächtig werden konnte. Es ist alles dreckig, die Menschen stinken und eure Bauwerke sind klein und nicht für die Ewigkeit gemacht."

Ich öffnete den Mund, um zu einer Antwort anzusetzen, schloss ihn dann aber wieder. Probierte die Worte aus, aber alle schienen falsch. „Du hast recht", meinte ich schließlich. „Aber Seyl ist schon lange ein zerrüttetes Land. Unsere alten Bauwerke erheben sich immer noch stolz und trotzen Witterung und Verfall. Aber vieles von dem, was wir einst wussten, ist in Vergessenheit geraten. Ich weiß nicht, warum, auch die alten Dokumente schweigen darüber. Sollten wir einmal nach Krylanid kommen, bekommst du mit eigenen Augen zu sehen, was ich meine. Die Stadt steht Agba in Sachen Architektur nichts nach. Aber sie strahlt nicht mehr. Die Oberen sind nur das Ende eines langen Prozesses, der sich über die Jahrhunderte gezogen hat."

Er ließ sich meine Worte durch den Kopf gehen. „Warum ändert denn niemand etwas daran?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Die meisten sind damit beschäftigt zu überleben. Vor allem in diesen Zeiten. Wer etwas sagt, wird überhört. Solange die Not nicht zu groß ist, schert sich niemand darum."

„Bei Beladah, ihr nehmt das einfach hin?" Sphens Stimme war gefüllt mit Unglaube.

„Bevor wir Seyl verlassen haben, gab es Aufstände. Wenn Menschen glauben, sie sind am Tiefpunkt angelangt, werden sie oft mit ungeahnter Kraft und Zähigkeit erfüllt. Aber der Krieg raubt ihnen nun die letzte Hoffnung. Viele glauben, das Ende sei nah. Wegen des Unrechts, dass die Menschen einst am Volk der Elfen begangen haben. Dass es sich räche und die Oberen nur seine Vorboten wären."

„Ihr seid ein abergläubisches Volk."

Ich lachte. „Die Skara glauben, dass die Welt untergehen wird, wenn eine Stute das große Herbstrennen von Agba gewinnt. Deshalb dürfen daran nur Hengste teilnehmen. Und du nennst mein Volk abergläubisch?"

Sphen runzelte die Stirn. „Das ist was anderes."

Ich zuckte mit den Schultern. Das Thema war nicht wichtig genug, um deswegen eine Diskussion anzufachen.

Stumm verzerrten wir beide den Rest unseres Mahls. Dann schulterten wir unser Gepäck und verabschiedeten uns höflich. Als ich den anderen durch die Tür folgen wollte, hielt mich die Wirtin kurz zurück. „Ihr..." Sie unterbrach sich. „Bitte tut alles, dass ich meinen Mann und meine beiden Söhne wieder in die Arme schließen kann."

Ich rang mir ein Lächeln ab, das hoffentlich Zuversicht ausstrahlte. „Natürlich." Ich wandte mich zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne. „Wie ist Euer Name?"

Verwirrung stahl sich in ihr Gesicht. „Noemi, Herr."

Ich deutete ein Nicken an. „Es war mir ein Vergnügen." Und ich meinte es ernst. Ich genoss die Ehrlichkeit, die sie mir entgegen gebracht hatte, trotz ihres Fast-Verrates.

„Wie ist Euer Name?", wagte sie zu fragen.

„Senn", stellte ich mich vor. „Einfach Senn."

Bevor ich mich umdrehte, erhaschte ich aus dem Augenwinkel ihre merkwürdige Miene. Dann lenkte Alyn meine Aufmerksamkeit auf sich.

Später grübelte ich jedoch über diesen Ausdruck. Ihr musste mein Name schon zuvor zu Ohren gekommen sein. Bloß in welchem Zusammenhang?


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top