Kapitel 14

Timo hatte lange gezögert, Delia wieder aufzusuchen. Nachdem er ihr so großspurig verkündet hatte, bei ihm handle es sich um den Thronfolger, wollte er unter keinen Umständen ihr Gesicht sehen, wenn er ihr eingestand, dass er sich geirrt hatte. Zweimal war er vor ihrem Häuschen gestanden, hatte aber wieder kehrtgemacht. Bei einem dritten Mal war sie nicht zu Hause gewesen. Beim vierten Mal hatte er vor ihrer Tür gewartet.

Sie hatte ihn dort vorgefunden, aber nicht ins Innere gebeten. Ihr Haar war von dem kühlen Wind zerzaust. „Ich bin nicht der Prinz", hatte Timo unverwandt verkündet.

Gespannt hatte er ihre Miene betrachtet. Sie hatte die Stirn gerunzelt. „Das dachte ich mir schon."

„Aber..."

Sie hatte geseufzt. „Du solltest gehen."

„Warum?"

„Weil es hier nicht sicher für dich ist. Wenn die Oberen herausfinden, was du weißt, werden sie dich einsperren oder beseitigen und meine Gesellschaft fördert das nur. Ich habe... Dinge getan, die dein Ziehvater nicht gutheißt. Wenn er herausfindet, dass du mit mir bekannt bist, wird das nicht gut enden."

Timo hatte sich aufgerichtet. „Das war's also?"

Sie hatte sich eine Strähne aus dem Gesicht gestrichen und sich Timo genähert. Ihre Lippen hatten nur knapp vor den seinen Halt gemacht. „Es tut mir leid. Ich wünschte, es wäre nicht so gekommen. Bleib mir fern."

Damit war sie an ihm vorbeigeglitten und hatte die Tür vor seiner Nase verschlossen. Sein Flehen hatte sie ignoriert.

Eigentlich hatte Timo den Worten des in der Perdille eingesperrten Herzogs von Sarkand nicht geglaubt. Doch der Mann hatte recht. Er hatte nichts mehr zu verlieren, war längst ein totgeweihter Mann. Timo hatte ihm versprochen, ihn zu begnadigen, sollte er erst einmal gekrönt sein. Somit hatte sich der Herzog ins eigene Fleisch geschnitten, mit der Behauptung Timo sei auf keinen Fall ein Prinz.

Timo hatte mit niemanden darüber gesprochen. Aber einmal hatte er Orik gefragt, was wäre, wenn sie sich irrten. Der Obere Kriegsminister hatte ihn nur stirnrunzelnd angestarrt. „Wir irren uns nicht. Wer hat dir das eingeredet?"

Timo hatte sich bemüht desinteressiert zu wirken. „Niemand. Aber wir wissen es nicht sicher."

„Vertraust du uns etwa nicht?"

„Doch", hatte Timo eilig versichert. Seitdem versuchte er einen Ausweg zu finden. Sollte er den Herzog verraten? Die Oberen würden ihn vielleicht töten, aber war das so schlimm? Der Mann war kaum mehr am Leben, sein Verstand glitt zwischen Wahnsinn und lichten Momenten hin und her. Allerdings würden die Oberen ihn davor noch ausquetschen wie eine überreife Frucht. An sich konnte Timo das nicht gleichgültiger sein. Der Mann war ein Verräter.

Einem Teil von ihm gelang es jedoch nicht länger, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Er hatte das Elend gesehen, er hatte mit Delia gesprochen, Prandos Worte und auch die des Herzogs. Die Auspeitschung des Grafen von Winterau. Vielleicht hatten sie alle richtig gelegen und er war ein Narr gewesen.

Ein anderer Teil von ihm weigerte sich jedoch, das zu glauben. Die Oberen hatten ihn immer gut behandelt. Sie sorgten sich ehrlich um das Land. Oder etwa nicht?

Timo rieb sich seine Schläfen. Er war müde und sein Kopf schmerzte. Er hatte in den letzten Wochen schlecht geschlafen. Die Zerrissenheit in ihm bescherte ihm Albträume und hielt ihn wach.

Er hatte es nicht gewagt, noch einmal zu dem Herzog zu gehen. Der Mann hätte ihm sowieso nicht mehr verraten. Er misstraute Timo, hatte dies sogar offen zugegeben. Niemals würde er sein Wissen preisgeben. Orik schien zudem etwas zu ahnen. Ihm war aufgefallen, dass sein Ziehsohn in letzter Zeit häufig abwesend wirkte und die dunklen Schatten unter seinen Augen konnte dieser auch nicht verbergen.

Inzwischen war sich Timo nicht mehr sicher, ob die Oberen ihn am Leben ließen, wenn sie erfuhren, dass er sich mit einem Hochverräter traf. Vor allem, wenn sie herausfanden, dass er in Wirklichkeit ein ganz gewöhnlicher Mann war und kein blaues Blut durch seine Adern floss.

Allmählich wurde er selbst wahnsinnig. Er brauchte jemanden, mit dem er sich austauschen konnte. Auch wenn sie ihn aus ihrem Leben ausschließen hatte wollen, brauchte er sie. Sie würde einen Rat wissen.

Nach einer besonders langweiligen Unterrichtsstunde in Politik, sprang Timo auf. Der alte Mann, der ihn unterrichtete, nahm es missbilligend zur Kenntnis. Timo konnte seinen Lehrer nicht leiden und er war sich sicher, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Der dürre Mann behielt zwar seine persönlichen Gedanken stets für sich, seine Lehrmeinung entsprach jedoch genau der, der Oberen. Seit Timo mit dem Herzog gesprochen hatte, meinte er den Widerwillen in den Augen vieler Palastangestellten zu sehen. War dieser schon immer da gewesen, oder bildete sich Timo das alles ein?

Auf dem Gang begegnete ihm wieder einmal der Graf von Verdun, der stellvertretende Kommandant der Le'Hag. Der ältere Mann hatte einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht, aber als er Timo bemerkte, verschwand dieser und machte einem gezwungenen Lächeln Platz. „Der junge Herr", begrüßte er ihn mit einem Nicken. „Wie läuft der Unterricht?"

Timo beobachtete den Le'Hag genau. Doch er konnte nicht feststellen, ob sich der Mann ehrlich für seine Fortschritte interessierte oder nur vorgab, es zu tun.

„Gut", erwiderte er und Verdun neigte seinen Kopf.

Timo zögerte und der Le'Hag wollte weitergehen, da ergriff Timo doch noch das Wort. „Glaubt Ihr, ich bin der echte Prinz?" Er war sich nicht sicher, ob er gerade einen Fehler begangen hatte, doch der Graf war stets ehrlich zu ihm gewesen. Zudem war er immer ein unauffälliges Gegengewicht zu den Oberen und betrachtete Vieles aus einem anderen Blickwinkel.

„Zweifelt Ihr etwa?", antwortete der Le'Hag mit einer Gegenfrage.

Timo zögerte, noch konnte er zurückrudern. „Ja", sagte er schließlich.

„Warum?"

„Jemand hat behauptet, er hätte den wahren Thronfolger gekannt." Für einen kurzen Moment sah er etwas im Gesicht des Le'Hag aufblitzen. Es verschwand jedoch so schnell, dass Timo sich nicht sicher war, ob es überhaupt dagewesen war.

Auf einmal kam ihm dieses Gespräch dumm vor. Der Le'Hag war den Oberen unterstellt, er musste zwangsläufig glauben, Timo sei der wahre Thronfolger. „Ich muss gehen", sagte Timo hastig und ging eilig davon. Es kostete ihn einiges an Mühe, nicht zu laufen. Stur starrte er nach vorne, auf keinen Fall wollte er das Gesicht des Le'Hags sehen.

Timo knöpfte seinen Mantel zu und verließ den Palast. Als er durch das Tor schlendern wollte, das in die Palastmauern eingelassen war, hielten ihn die dort positionierten Gardisten auf. Verwirrt blieb er stehen.

„Wo wollt Ihr hin?", fragte ihn einer der Männer förmlich. Timo kannte ihn, hatten sie doch den ein oder anderen Trainingskampf gegeneinander ausgefochten. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Mann ihn noch geduzt.

„In die Stadt", gab Timo bereitwillig zur Auskunft. Er war überrascht, dass sie ihn das fragten. Bis jetzt hatte er ein und ausgehen können, wie er wollte. Schließlich kannte ihn jedermann. „Darf ich fragen was das soll?", fragte er als die Gardisten keinerlei Anstalten machten, ihn passieren zu lassen.

„Es tut mir leid, aber der Obere Kriegsminister hat befohlen, Euch keinesfalls ohne Begleitung ziehen zu lassen." Der Mann, der das gesagt hatte, hieß Arnold und war einer der wenigen gewesen, die Timo nicht gemieden hatten.

„Wieso denn das?" Timo runzelte die Stirn.

„Er hat uns keinen Grund genannt. Da müsst Ihr ihn selbst fragen."

Da Timo begriff, dass es sinnlos war, machte er verärgert kehrt und stapfte ins Innere des Palastes. Ohne Umwege suchte er Oriks Arbeitszimmer auf und klopfte an. Als ein „Herein" ertönte, öffnete er die Tür.

Sein Ziehvater saß hinter seinem Schreibtisch, missbilligend sah er auf. „Was willst du?", fragte er. „Ich bin gerade sehr beschäftigt."

„Wieso darf ich das Palastgelände nicht verlassen?", kam Timo ohne Umschweife auf den Grund seines Anliegens zu sprechen.

„Du bist der Thronfolger. Glaubst du, wir würden zulassen, dass dir etwas passiert?" Orik klang verärgert.

„Aber wer sollte mir denn etwas tun?", fragte Timo erstaunt. „Ich dachte, die Seylaner hoffen allesamt auf ihren König."

„Die meisten ja. Allerdings glauben nicht alle, dass du dieser König sein wirst. Sie wittern eine Verschwörung, halten dich für eine Marionette unsererseits. Sie würden dich, ohne zu zögern, töten, damit du auf keinen Fall den Thron besteigen kannst."

„Aber das ist doch dumm!", rief Timo aus.

„Natürlich", entgegnete Orik. Er ließ seine Feder sinken. „Aber die meisten Menschen sind nicht besonders klug. Das ist der Grund, warum wir auf dich bauen. Du kannst diesen irrgeleiteten Seelen die Augen öffnen."

Oriks Vertrauen ehrte Timo und für einen Moment vergaß er seine Zweifel. „Ich möchte in die Stadt."

„Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du das Palastgelände nicht verlässt."

„Bitte, Vater", flehte Timo.

Orik runzelte die Stirn. „Was gibt es in Krylanid so Dringendes?", wollte er misstrauisch wissen.

„Nichts", versicherte Timo hastig. „Es ist nur... das sind doch alles meine Untertanen. Ich muss sie sehen." Selbst in seinen Ohren klangen diese Worte lahm, doch Orik zuckte nur mit den Schultern.

„Wie du wünschst." Er legte die Feder ab und faltete die Hände. „Wenn du jemanden findest, der dich begleitet, dann darfst du gehen."

Timo sprang auf und bedankte sich. Erst als er die Tür hinter sich verschlossen hatte, wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wen er fragen sollte. Es gab nur noch wenige Gardisten im Palast. Die meisten waren abgezogen worden, um den Nordwesten zu verstärken, in dem es bereits zu einigen tödlichen Scharmützeln gekommen war. Die übrigen Wachen, die Timo aufsuchte, waren alle auf ihren Posten und konnten diesen nicht verlassen. Allmählich begriff Timo, dass sein Ziehvater es genau darauf angelegt hatte.

Trübsinnig setzte er sich auf die Vortreppe des Palastes und starrte auf die hohe Mauer und das verschlossene Tor. Irgendwo dort draußen war Delia, unerreichbar für ihn. Ob sie überhaupt noch an ihn dachte?

„Ich bin erstaunt, dass ich Euch schon wieder antreffe", sagte eine Stimme über ihm. Timo wandte den Kopf und erkannte Verdun, der ihn mit leicht amüsierter Miene musterte.

„Ich darf das Palastgelände nicht verlassen", erklärte Timo missmutig.

Der Le'Hag starrte auf das Tor. „Ich schätze, die Oberen wollten nicht, dass Euch etwas passiert."

„Das weiß ich auch", entgegnete Timo unwirsch. „Aber ich muss in die Stadt."

Der ältere Mann fragte nicht nach dem Grund. „Ich fürchte, ich kann Euch nicht helfen."

Timo seufzte, dann richtete er sich auf. „Doch, das könnt Ihr. Orik hat mir erlaubt, das Gelände zu verlassen, wenn ich jemanden finde, der mich begleitet."

„Und das soll ich nun tun?"

„Nun, mit Euch wäre ich sicher. Wer greift schon einen Le'Hag an."

„Ich muss eigentlich auf Patrouille", wandte Verdun ein.

„Bitte. Ihr könnt mich auch allein lassen. Sobald ich hinter dem Tor bin, gehe ich meines Weges und Ihr des Euren."

„Also schön."

Timo wusste nicht genau, wie er den Le'Hag überzeugt hatte, aber es war ihm gleich. Er würde Delia sehen!

Der Graf ging zum Stall und Timo folgte ihm auf den Fuß. Der Le'Hag sattelte seinen Schimmelwallach, ein prächtiges Tier. Wenn der Mann seine weiße Uniform trug, gaben die beiden sicher ein eindrucksvolles Bild ab. Allerdings hatte der Graf heute nur seinen üblichen Anzug und darüber einen wärmenden Mantel an.

„Ihr nehmt Euch kein Pferd?", fragte er und riss Timo damit aus seinen Gedanken.

Timo schüttelte den Kopf. „Es wäre hinderlich", erklärte er. Außerdem war er noch nie ein besonders guter Reiter gewesen. Obwohl er Pferde mochte, beruhte das nicht immer auf Gegenseitigkeit und nachdem ihn ein besonders bockiges Exemplar abgeworfen hatte, zog er es vor, zu Fuß zu gehen.

Der Graf saß auf und reichte ihm eine Hand. „Dann setzt Euch hinter mich. Zumindest, bis wir außer Sichtweite sind."

Tatsächlich ließen ihn die Wachen ohne Umstände passieren.

„Soll ich Euch nicht doch begleiten?", fragte der Graf und Timo schüttelte den Kopf.

Er war froh, dass der Le'Hag ihn nicht bedrängte.

Aufgeregt näherte er sich Delias Häuschen. Sein Herz schlug schneller. Er wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie ihn antraf.

Vor ihrer Tür zögerte er. Jetzt wo die Sonne schien und keine Schneemassen auf der Straße lagen, wurde ihm erst richtig bewusst, wie heruntergekommen alles aussah. Die ehemals weiße Wand war braun und fleckig. Schimmel und Fäkalien hatten sie verfärbt. Die Tür war verzogen, schien nicht mehr richtig zu schließen und Holzwürmer hatten ihr übel mitgespielt. Der Riss in der Fensterscheibe hatte sich vergrößert und kleine Ausläufer gebildet. Ein leichter Schlag und die Scheibe würde zerspringen. Timo erinnerte sich an die misstrauische Nachbarin und klopfte eilig. Niemand antwortete. Erst jetzt wurde ihm klar, dass sie vielleicht gar nicht Zuhause war. Er würde warten.

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und taumelte als diese nachgab. Er fand sein Gleichgewicht wieder und spähte in das dunkle Innere des Häuschens. Wenn die Türe offen war, konnte er eigentlich auch eintreten und dort auf Delia warten. So würde er der unsympathischen Nachbarin entgehen.

Er betrat den Wohnraum und rümpfte die Nase. Es roch so merkwürdig. Richtig unangenehm. Übelkeit überkam Timo und er bemühte sich nur durch den Mund zu atmen. Vielleicht hätte er doch lieber draußen warten sollen. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht, dass durch die dreckige Scheibe fiel. Er erblickte eine unförmige Form auf dem Boden, die sich leicht bewegte. Timo trat näher und der Gestank wurde, wenn möglich, noch intensiver. Zuerst glaubte er, es handle sich um einen Kadaver, dann erkannte er die menschliche Form. Er starrte direkt auf einen halb zerfressenen Leichnam, Maden hatten ihren Weg ins Innere gefunden und wuselten überall herum. Timo erkannte Delias Züge und erhaschte noch einen kurzen Blut auf das getrocknete Blut auf dem Boden, dann wurde alles schwarz.


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