Kapitel 9
Rosena verlor das Gleichgewicht und wäre gestürzt, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte. Erschrocken starrte sie in mein Gesicht. „Was ist das?"
„Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden."
Langsam löste ich Rosenas Hand aus meiner. Sie schien nicht einmal zu bemerken, dass ihre Fingern mich fest umklammerten.
Das Schiff schwankte erneut und nun konnte ich auch das Heulen hören. Jetzt fiel es mir wieder ein. „Hat Do..., ich meine der Kapitän, nicht etwas von einem heranziehenden Sturm gesagt?"
Rosenas Gesicht erhellte sich, als sie sich erinnerte. „Das hat... Huch!" Wieder schwankte sie.
„Ich muss an Deck gehen." Eilig versteckte ich die Zeichnung, die sie mir geschenkt hatte, in meinem Gepäck und schlüpfte in meine Jacke.
Dann eilte ich nach oben. Rosena folgte mir merklich langsamer, denn immer wieder geriet sie durch das Schwanken aus dem Gleichgewicht. Ein aufgeregter Mika kam mir entgegen, der offenbar jemanden suchte. „Wo ist Rosena?", keuchte er.
Ich deutete nur wortlos nach hinten und er stürzte auf die junge Frau zu. Sie begannen aufgeregt miteinander zu diskutieren. Mir fehlte die Zeit zu lauschen. Außerdem hatte ich auch kein Interesse daran, ich musste zu Alyn.
An Deck peitschte mir sofort Wind entgegen. Der Fluss hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt. Meine Haare schlugen mir ins Gesicht und ich war sofort durchnässt. Der Himmel blitzte und kurz darauf ertönte ein krachendes Donnern, das die Rufe der Matrosen übertönte.
Der Kapitän hielt das Steuerrad fest umklammert, während Degendan verschiedene Befehle brüllte. Von Alyn keine Spur.
Eine Segel, das offenbar nicht sachgemäß befestigt worden war, löste sich und flatterte wie wild im Wind auf und ab.
„So kümmere sich doch jemand um das Segel", rief Degendan wütend, aber keiner der Männer schien sich angesprochen zu fühlen. Manche warfen zwar einen Blick darauf, aber offenbar hingen sie alle zu sehr an ihrem Leben, als dass sie bei dem Sturm nach oben geklettert wären. Das tat schon jemand anders. Eine weitaus zierlichere Gestalt erklomm geschickt die Wanten.
„Alyn!", brüllte ich. Bei den Göttern, war sie wahnsinnig geworden? Sie könnte abstürzen und sterben. So schnell ich konnte, rannte ich über Deck, musste jedoch immer wieder innehalten, wenn das Schiff in eine andere Richtung geworfen wurde. Meine Arme hatte ich weit von mir gestreckt, wodurch es mir leichter fiel, das Gleichgewicht zu halten. Einmal wäre ich fast ausgerutscht, denn auf Deck hatten sich längst Wasserpfützen gesammelt, die durch den strömenden Regen stetig größer wurden.
Die Matrosen wichen eilig zur Seite, sonst hätte ich sie vermutlich umgestoßen. Fast wäre ich an den Wanten vorbeigeschlittert, konnte aber gerade noch eines der Seile ergreifen.
Alyn hatte längst die Spitze erklommen und begann die Querstange entlangzurobben. Eilig kletterte ich nach oben, während ich immer wieder hin- und hergeworfen wurde. Je höher ich kam, desto stärker wurde der Wind und zweimal rutschte ich beinahe ab, konnte mich aber im letzten Moment wieder fangen.
Mein Herz pochte so laut, dass ich es trotz des Sturmes hören konnte. Ich betete zu allen Göttern, dass Alyn nicht fiel und verfluchte diese zur gleichen Zeit. Ihre Leichtsinnigkeit würde sie irgendwann noch ins Grab bringen. Ich hoffte, dieser Moment lag noch fern.
Von der anderen Seite robbte ich in ihre Richtung und sie riss überrascht die Augen auf. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ein besonders heftiger Windstoß riss ihre Worte mit sich. Wie in Zeitlupe kippte sie zur Seite und ihr Griff löste sich von der Stange.
Panisch wollte sie diese wieder packen, aber ihre Fingern rutschten von der nassen Stange ab. Rückwärts stürzte sie Richtung Deck.
Ich überlegte nicht lange, sondern schmiss mich nach vorne. Für einen ewig andauernden Moment war zwischen meinen Händen nichts als Luft und Regen, dann spürte ich ihre kalte Haut. Sofort schlossen sich meine Finger mit festen Griff darum.
Ein Ruck ging durch meinen Körper und ich dachte, ich würde nun ebenfalls abstürzen. Aber meine rechte Hand umklammerte weiterhin die Stange und auch meine Beine hatten sich darum gewickelt. So hing ich fast kopfüber in schwindelerregender Höhe, während Alyn sich panisch an meiner Hand, ihrem Rettungsanker, festklammerte.
„Lass mich nicht los", keuchte sie. Ich konnte ihre Worte zwar nicht hören, aber das brauchte ich nicht.
„Niemals", erklärte ich und es war die Wahrheit. Lieber würde ich selbst mit ihr in die Tiefe stürzen, als sie loszulassen. Langsam zog ich meinen Arm nach oben, während meine Füße, die mit der Stange verhakt waren, zeitgleich gegen diese drückten, sodass die Hebelwirkung eintrat.
Mein ganzer Körper brannte und vor Anstrengung biss ich die Zähne zusammen. Das Unwetter um mich herum war vergessen, ich sah nur Alyns angstvollen Blick und etwas versteckter, das tiefe Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte. Sie glaubte daran, dass ich sie retten würde und diese Tatsache verlieh mir ungeahnte Kräfte. Obwohl mein Körper immer noch nicht seine alte Form zurückgefunden hatte, gelang mir etwas, was ich noch nie zuvor geschafft hatte. Mit einem Schrei wuchtete ich Alyn auf Höhe der Stange.
Sofort packte sie diese und zog sich hoch. Keuchend saß sie mir gegenüber. Ihre Lippen waren direkt vor meinen und obwohl wir uns fünf Scal über dem Boden befanden, mein ganzer Körper schmerzte und wir die ganze Zeit um unser Gleichgewicht bemüht waren, küsste ich sie. Ihre Lippen waren kalt und nass vom Regen, aber es war mir egal.
Wieder einmal schien die Zeit stehenzubleiben. Dann jedoch drang ein lautes Krachen an mein Ohr und wir beide zuckten zusammen. „Wir sollten das Segel reffen", schlug Alyn mit zittriger Stimme vor und einem leicht wahnsinnigen Lachen hevor.
Gemeinsam schafften wir es mit einiger Mühe. Bevor wir zurück zu den Wanten robbten, musterte ich sie ernst. „Versprich mir eins. Tu das nie wieder. Ich hätte wegen dir fast einen Herzinfarkt bekommen."
Sie lächelte mühsam. „Wenn ich nur so von dir einen Kuss bekomme, werde ich es wieder tun."
Gegen meinen Willen verzogen sich meine Mundwinkel nach oben. „Wir sehen uns unten... und bitte stürz nicht ab."
Sie brachte es tatsächlich fertig, einen Arm zu heben und mir zu salutieren. Dann verschwand sie aus meiner Sicht.
Eilig machte ich mich ebenfalls an den Abstieg. Meine Hände zitterten und mein Herz klopfte immer noch wie verrückt. Als unter meinen Füßen wieder fester Boden war, wurde ich sofort von den Matrosen bestürmt. Einige klopften mir auf die Schultern, andere sahen nur furchtbar erleichtert aus. Ich kümmerte mich nicht um sie, sondern hielt Ausschau nach Alyn. War sie ebenfalls heil unten angekommen?
Panik drohte sich breizumachen, als ich sie nicht ausmachen konnte, doch dann entdeckte ich sie. Ihr zweiter Fuß berührte gerade das Deck und ihre Beine waren gespreizt, als sie um ihr Gleichgewicht rang. Dann jedoch richtete sie sich auf und warf mir ein strahlendes Lächeln zu.
Degendans Stimme durchbrach das aufgeregte Gerede der Matrosen. „Zurück an eure Posten, ihr Taugenichtse!"
Sofort sprangen die Männer auseinander und eilten zurück zu ihren Aufgaben. Wieder blitzte es, aber dieses Mal dauerte es eine ganze Weile, ehe es auch donnerte. Der Regen hatte ebenfalls etwas nachgelassen. Offenbar war das Schlimmste überstanden.
An der Reling konnte ich Rosena entdecken, die nach unten starrte. Als ich näher trat, sah ich ihr totenbleiches Gesicht. Immer wieder musste sie würgen, während Mika schützend hinter ihr stand und ihr Haar hielt.
Sie stöhnte, woraufhin ich hurtig Reißaus nahm.
Alyn beobachtete mich nachdenklich und ich tat es ihr mit derselben Intensität gleich. Rosenas Worte geisterten in meinem Kopf herum. Zugegebenermaßen hatte sie nur die Wahrheit ausgesprochen, aber ich wusste nicht, ob ich mich je würde ändern können.
Glücklicherweise riss mich der Kapitän aus meinen Gedankengängen. „Ihr und Eure Freundin habt sehr töricht gehandelt."
Ich seufzte. „Erzählt das jemanden, der das noch nicht weiß."
„Es war allerdings auch sehr mutig. Meine Männer werden sich schämen, wenn ich ihnen deutlich mache, dass sie von einer Frau übertrumpft wurden. Es hätte ihre und nicht die Eure Aufgabe sein sollen. Durch ihr Zaudern haben sie Euch in Lebensgefahr gebracht und das wird Konsequenzen haben." Er sagte dies mit so zorneserfüllter Stimme, dass ich um das Seelenheil der Matrosen fürchtete. Allerdings verstand ich seine Wut, sie hätten nicht zögern dürfen.
„Trotzdem muss auch ich mich entschuldigen. Ich hätte schneller sein sollen", erklärte ich bedrückt. Wenn ich Alyn nicht so gekränkt hätte, wäre sie erst gemeinsam mit mir an Deck gekommen und ich hätte sie von dieser Torheit abhalten können. So wäre sie beinahe gestorben.
„Euch trifft keine Schuld. Eure Freundin ist ein sehr unabhängiges Wesen und in der Lage ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ihr Landleute mögt das vielleicht anders sehen, aber unter den Piraten befinden sich viele Frauen, die den Männern in nichts nachstehen. Sie sind genauso mutig und verwegen. Darum genießen sie genauso viel Respekt. Eure Alyn würde eine großartige Piratin abgeben."
„Setzt ihr bloß keinen Floh ins Ohr. Ihre Zukunft liegt in den Armen eines standesgemäßen Gatten und nicht bei Gesetzlosen."
„Ihr glaubt nicht an eine gemeinsame Zukunft." Ich schwieg, denn die Worte des Kapitäns waren mehr eine Feststellung als eine Frage gewesen.
„Ich wünschte, ich wäre von Adel, aber ich bin ein Niemand. Sie ist wie die Sonne. Allgegenwärtig und mein Herz erwärmend, aber unerreichbar. Beim Spiel mit dem Feuer verbrennt man sich zu leicht."
Der Kapitän runzelte bei meinen poetischen Worten die Stirn. „Ihr habt eine poetische Ader. Doch es ist wahr und Ihr könnt es nicht sein lassen."
Ich lächelte süffisant. „Ich habe schon immer die Gefahr geliebt."
Nach einem langen Blick in Richtung Alyn seufzte der Kapitän schließlich. „Ich denke, sie wird niemals in den Armen eines anderen glücklich. Es seid Ihr, den sie will. Solange Ihr noch in dieser Welt weilt, wird sie niemand anderem eine Chance geben."
Auch wenn ich versuchte es zu vermeiden, machte mein Herz bei diesen Worten einen Satz. „Ich bin ohnehin totgeweiht. Sie weiß das, aber wir sind beide längst verloren. Wenigstens für eine Weile konnte ich so leben, wie ich es immer wollte. Das ist mehr als ich mir jemals erhofft habe. Wenn ich sterbe, wird sie sich immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge an mich zurückerinnern und vielleicht wird sie einmal ihren Kindern Geschichten von mir und den Abenteuern, die wir gemeinsam erlebt haben, erzählen."
Der Kapitän klopfte mir aufmunternd auf die Schultern. „Ihr seid ein alter Schwarzseher." Mit diesen Worten wandte er sich ab und begann Krähe zusammenzustauchen, der offenbar Ausschau nach Piraten halten sollte, aber seinen Posten verlassen hatte.
Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen und der Himmel begann aufzuklaren. Trotzdem wurde es kaum heller, denn während das Unwetter getobt hatte, war es Abend geworden. Meine nasse Kleidung klebte an meinem Leib und Gänsehaut hatte sich auf meiner Haut breitgemacht. Der Wind hatte nachgelassen, zerzauste mir jedoch weiterhin das Haar, als ich an der Reling stand und in die Dämmerung starrte.
Am fernen Flussufer konnte ich die Konturen von Bäumen ausmachen. Durch den Sturm hatten wir ungewollt einiges an Strecke gutgemacht. Auch wenn wir uns immer noch in Seyl befanden, hatten wir es doch schon halb verlassen, denn an dieser Stelle bildete der Side bereits die natürliche Grenze zwischen meinem Heimatland und Jamar.
Noch in derselben Nacht würden wir die Grenze gänzlich überqueren und der Fluss, den wir befuhren, würde nicht länger Side heißen, sondern zum Sidun werden.
Mein Körper fühlte sich kalt an. Darum ging ich nun doch unter Deck, um mir trockene Kleidung anzuziehen. Unsere Kajüte war leer. Beide Frauen befanden sich offenbar noch an Deck. Gerade als ich ebenfalls dorthin zurückkehren wollte, ertönte ein leises Wiehern. Bei diesem Geräusch übermannte mich das schlechte Gewissen. Die Pferde mussten panische Angst gehabt haben, während sie im Bauch des schwankenden Schiffes eingesperrt gewesen waren. Allerdings hatte ich nicht einen Gedanken an sie verschwendet.
Eine weitere Lektion, die mir meine Eltern in meiner frühen Kindheit erteilt hatten, hatte gelautet, immer gut zu Tieren zu sein. Auch wenn ich mich nicht mehr an den genauen Wortlaut des Lieblingsspruches meiner Mutter erinnern konnte, so war dessen Aussage unweigerlich in meinem Kopf eingebrannt. Jemand der schlecht zu Tieren war, war kein guter Mensch. Wobei der Umkehrschluss nicht immer galt.
Ich war froh, dass ich niemandem begegnete, denn meine Wangen brannten wie Feuer. Normalerweise hatte ich meine Gefühle besser im Griff, aber bei dieser Erinnerung überkam mich unweigerlich das schlechte Gewissen.
Farah schnaubte erfreut, als ich den engen Raum betrat. Wie immer schmiegte sie vertrauensvoll ihre Nüstern in meine Halsbeuge und ich umarmte ihren weichen Hals. Dann untersuchte ich sie auf Verletzungen. Erleichtert atmete ich auf, als ich keine finden konnte. Turrim hingegen hatte einen kleinen Schnitt an der Flanke. Offenbar hatte er sich an einem zertrümmerten Holzstück geschnitten, als er wie in Raserei in seiner Box auf und ab gestürmt war. Ich flüsterte ein paar Worte der Entschuldigung und sah dann nach Isa. Die arme Stute hatte es offenbar am schlimmsten getroffen. An ihren Beinen befanden sich zahlreiche Wunden und ihre Augen waren immer noch weit aufgerissen. Nervös zuckte sie zurück, als ich langsam ihre Gelenke abtastete. Am Zustand ihrer Box konnte man ihre Panik nur zu leicht erkennen. Überall waren Bretter zertrümmert, sodass es einem Wunder glich, dass sie es nicht geschafft hatte zu entkommen. Das wäre vermutlich ihr Ende gewesen.
Ich massierte sie leise und murmelte die Melodie eines Schlafliedes, das mir meine Mutter oft vorgesummt hatte. Als sie sich etwas entspannt hatte, führte ich sie in die Box zu Farah. Die beiden Stuten beschnupperten sich und kurz darauf standen sie schon eng aneinander gedrängt.
Ich blieb noch ein Weilchen bei den Tieren und verwöhnte sie mit Streicheleinheiten. In dieser Zeit fasste ich einen Entschluss. Ich würde Alyn nichts davon sagen, denn ich wusste, dass sie es sich niemals verzeihen könnte, die Pferde vergessen zu haben. Sie hing mit Leib und Seele an den Tieren, insbesondere an Turrim. So würde sie sich noch lange mit Vorwürfen plagen und ich wollte sie nicht unglücklich sehen. Wenn ich Glück hatte, würde sie niemals darauf kommen. Und Glück hatte ich immer in ungewöhnlich großem Maße besessen, denn auch wenn ich mich oft in Todesgefahr befunden hatte, war ich immer mit dem Leben davongekommen.
Als ich an Deck zurückkehrte, brannten nur noch die Lampen, die unsere Position gegenüber anderen Schiffen signalisierten.
Ein Schatten näherte sich mir, in der Hand eine Lampe. Als er näher trat, konnte ich erkennen, dass es sich um Mat handelte. Verdutzt starrte er mich an. „Was macht Ihr noch so spät hier draußen?", erkundigte er sich.
„Ich konnte nicht schlafen und hoffte, von der frischen Luft einen klaren Kopf zu bekommen."
Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Wenn Ihr meint."
„Wie geht es dem vergifteten Matrosen?"
Mat grinste. „Er hat das ganze Unwetter verschlafen. In Zukunft wird er hoffentlich die Finger von Rauschmitteln lassen."
„Das sollte er wohl tun", meinte ich sardonisch, worauf mein Gegenüber die Stirn runzelte.
„Wisst Ihr etwas, von dem ich nichts weiß?"
Ich winkte ab. „Nichts von Bedeutung." Dann kniff ich die Augen zusammen. „Aber sagt, dort in der Ferne, sind das nicht die Konturen eines unbeleuchteten Schiffs?"
Neben mir kniff Mat ebenfalls die Augen zusammen. „Ich sehe nichts."
Ich zuckte mit den Schultern. „Dann habe ich mich wohl geirrt."
„Ich werde dem trotzdem nachgehen. Wir erreichen bald Jamar, da kann man nie sicher sein. Dieses Land ist die Hochburg sämtlicher Flusspiraten."
Er verschwand unter Deck und ließ mich allein. Besorgt beobachtete ich den Schatten, der in weiter Ferne über das Wasser glitt. Ich war mir sicher, dass es sich dabei um ein Schiff handelte. Angestrengt versuchte ich mehr zu erkennen, aber die Dunkelheit hüllte alles in ihren finsteren Mantel. Die Mondsichel war hinter Wolken verborgen, nur eine Spitze war zu sehen.
Das Wasser des Side schimmerte in geheimnisvollen Schwarz. Ein Poltern ertönte und ich fuhr herum. Mat kam auf mich zu, in einer Hand hielt er ein Fernrohr.
Er verzog schmerzhaft das Gesicht. „Bin über ein Seil, das im Weg lag, gestolpert", erklärte er mir, obwohl ich nicht gefragt hatte.
„Haltet einmal." Energisch drückte er mir seine Lampe in die Hand. Dann setzte er das Fernrohr ans Auge und suchte das Gewässer vor uns ab.
Seine Miene wurde düsterer. „Ihr habt recht. Dort segelt tatsächlich ein Schiff. Das muss ich dem Käpt'n melden."
Erneut verschwand er. Dieses Mal ließ er jedoch seine Lampe zurück. Ich rieb mir erschöpft die Stirn. Mein Kopf brannte vor Müdigkeit, aber ich würde kein Auge zutun, ehe wir nicht die Grenze zu Jamar überquert hatten und ich sicherstellen konnte, dass ich mich nicht in eine Marionette des Großmagiers verwandelte.
„Wo ist es?", hörte ich die Stimme des Kapitäns. Er trug eine einfache braune Hose und hatte sich offenbar in Eile ein weißes Hemd angezogen, denn es war sowohl nur halb als auch schief zugeknöpft. Sein dunkles Haar stand in alle Richtungen.
Mat reichte ihm das Fernrohr und wies in die Richtung, in der sich das Schiff befand. Der Kapitän schien es genau unter die Lupe zu nehmen. Seine Miene wurde von Sekunde zu Sekunde düsterer. Schließlich senkte er langsam die Hände, aber starrte weiter unverwandt in die Dunkelheit. „Es ist gut, dass Ihr das Schiff frühzeitig bemerkt habt. Allerdings wird es uns nichts nutzen."
„Wie meint Ihr das?", fragte Mat ängstlich.
Der Kapitän winkte ab. „Du kannst deinen Kontrollgang fortsetzen. Das Schiff wird uns nicht vor den frühen Morgenstunden erreicht haben."
Zögerlich blieb Mat stehen.
„Missachtest du etwa meinen direkten Befehl?", zischte der Kapitän und sein Matrose schlug eilig die Haken zusammen und machte sich aus dem Staub.
Ich blieb stehen und legte abwartend den Kopf schief. Der Kapitän seufzte. „Bei dem Schiff handelt es sich um die Schwarze Jungfrau, das größte Schiff, das den Sidun befährt. Es ist schneller als die Wellenkönigin und die Mannschaft hat mehr als das Dreifache der meinigen."
„Das heißt, wir haben keine Chance?"
Der Kapitän schien auf einmal um Jahre gealtert und mir fielen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf. „Nein. Sie werden uns möglicherweise alle niedermetzeln."
„Was wollt Ihr tun?"
Man konnte sehen, wie schwer dem Mann neben mir die folgenden Worte fielen. „Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder wir geben das Schiff auf und fliehen über Land, denn noch befinden wir uns im Hoheitsgebiet von Seyl, oder wir kämpfen bis zum bitteren Ende."
„Was ist die dritte Möglichkeit?", fragte ich, obwohl ich es längst ahnte.
„Oder wir ergeben uns", schloss der Kapitän resigniert.
Lange starrten wir in die Dunkelheit, in der irgendwo eine gefräßige Bestie darauf wartete, uns mit Haut und Haaren zu verschlingen.
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