Kapitel 74

Als ich benommen die Augen öffnete, befand ich mich einem kurzen Zustand der vollkommenen Orientierungslosigkeit. Ich blinzelte ins gleißende Licht, ehe die Erinnerungen einsetzten. Schlagartig fiel mir alles wieder ein und ich richtete mich stöhnend auf. Mein Kopf dröhnte und mein Körper schmerzte. Aber ich war am Leben.

Ich befand mich in einem Meer aus Geröll, Steinen und Felsbrocken. Das, was von der Schattenfeste übrig geblieben war. Vorsichtig und zittrig erhob ich mich. Ich lebte noch.

Ich konnte es immer noch nicht fassen. Wie war das möglich? Meine Kehle kratzte und ich wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Dann musste ich würgen und erbrach rotgefärbten Staub. Erschöpft wischte ich mir den Mund ab. Meine Sorge um Alyn ließ mich weitertaumeln. War sie heil hinausgekommen? Ich konnte nur hoffen, dass Sphen sie beschützt hatte.

Langsam machte ich mich an den Abstieg. Meine Beine fühlten sich wie Butter in der Sonne an. Immer wieder rutschte ich ab und schlitterte ein paar Scal weiter in die Tiefe. Mit rissigen Fingern verkrallte ich mich in alle Fugen, die sich mir boten. So näherte ich mich stückweise dem sicheren Erdboden.

Ein paar Kiesel lösten sich unter meinem Griff und polterten nach unten. Ich folgte ihnen zittrig. Als ich endlich am Boden stand, atmete ich heftig. Meine Knie wackelten so stark, dass ich mich kurz setzen musste. Erleichterung überkam mich. Ich war wahrlich noch am Leben. Fast hätte ich irre gelacht. Dann humpelte ich weiter. Ich konnte nur hoffen, dass ich Alyn dort fand, wo sich die letzte Phase meines Plans abspielen würde: In der Arena.

Der Weg schien endlos. Obwohl es bereits früher Abend war und ich überwiegend im Schatten der hohen Felsen marschierte, schwitzte ich. Nach kurzer Zeit musste ich Halt machen, weil ein stechender Schmerz in meiner Schulter einsetzte, den ich zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Als ich unbewusst mit einer Hand die entsprechende Stelle berührte, war sie danach voller Blut. Mir fiel der Splitter ein, der immer noch in meiner Haut steckte.

Mit einem kurzentschlossenen Ruck zog ich ihn heraus. Es war möglicherweise eine dumme Entscheidung, denn so war die Wunde nicht mehr verstopft. Andererseits hatte er mich in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Ein Schmerzenslaut entfuhr mir und kurz drehte sich alles. Meine Beine gaben nach und ich ließ mich gegen eine der Felswände sinken. Aus dem bereits halb abgerissenen Ärmel meiner Tunika bastelte ich einen provisorischen Verband, der sich rasch rot färbte.

Trotzdem musste ich weiter. Ich musste wissen, ob es Alyn und Sphen gut ging. Schließlich war ich es, der sie in diese Gefahr gebracht hatte.

Schon bevor ich die Arena ausmachen konnte, hörte ich eine Kakophonie wild durcheinander rufenden Stimmen.

Am oberen Ende der in Stein gehauenen Stufen blieb ich stehen. Neugierig starrte ich nach unten. Sämtliche Assassinen waren aufgesprungen und deuteten aufgeregt auf die Gestalten in der Mitte der Arena. Eine von ihnen war Abdajah, bei den anderen handelte es sich um Sad'Ahad, sowie Karim und weitere Widerständler. In Sad'ahads Hand war ein uraltes, in Leder gebundenes Buch. Der Kodex.

Langsam stieg ich die Stufen hinab. Niemand beachtete mich. Mein Blick fiel auf eine Gestalt weiter am Rand. Sie war zu weit entfernt, als dass ich Details erkannt hätte, aber ich wusste, dass sie es war.

Erleichterung überkam mich. Alyn hatte es lebend nach draußen geschafft.

Am liebsten wäre ich auf sie zugestürmt, aber ich zügelte mich. Es gab Wichtigeres zu tun. Der Erste und Einzige, der mich bemerkte, war Rashkel.

Der ältere Assassine stand am Fuß der Treppe und hatte finster die Arme verschränkt. Obwohl er mich unmöglich gehört haben konnte, drehte er sich um und sein Gesicht drückte vollkommene Überraschung aus. Ich rang mir ein Lächeln ab.

„Du bist am Leben."

„Ich hatte schon immer mehr Glück als Verstand."

Er musterte mich. „Das kann man wohl sagen. Du bist nicht so leicht totzukriegen. Zäher als der Rest der Menschheit zusammen. Wie bist du entkommen? Es wurde ein Bote geschickt, der hellaufgelöst bestätigt hat, dass die Feste tatsächlich nur noch aus einem Haufen Geröll besteht. Der Lärm war ja bis hierher zu hören und Sad'ahad hat seinen Erfolg bereits dir gewidmet. Auf dass du in Frieden ruhen mögest. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass du ihn zu einem würdigen Bewahrer des Kodexes ernannt hast, als du mit ihm unter vier Augen gesprochen hast."

Stirnrunzelnd starrte ich zu dem Lehrer hinüber. „Niemals hätte ich das getan. Die Assassinen haben doch nicht den einen Usurpator gestürzt, nur um den nächsten auf den Thron zu setzen."

Auf einmal glitzerte in Sad'ahads Hand ein Dolch und schneller als ich es ihm zugetraut hätte, rammte er die Waffe in Abdajah, der gurgelnd zusammenbrach.

Geschrei ertönte und manche Assassinen sprangen auf. Die Widerständler jedoch hielten sie davon ab, zu Abdajah zu gelangen, der sich stöhnend am Boden wälzte.

Sad'ahad breitete die Arme aus. Allmählich begann ich diese Geste wirklich zu hassen. Sie schien heuchlerisch. „Meine lieben Mitbrüder. Wir wollen einen Neuanfang wagen und das funktioniert nur, wenn der Kopf des Ungeheuers abgeschlagen wird." Er verwendete genau dieselbe Metapher, die auch ich immer benutzt hatte. Nur dass ich zu gut wusste, dass sie nicht funktionierte.

„Derjenige, den wir einst als Verräter beschimpft haben, hat es uns möglich gemacht, zu unseren ehrenvollen Ursprüngen zurückzukehren. Er hat den Kodex aus der einstürzenden Feste gerettet und das mit seinem Leben bezahlt. Wollt ihr dieses selbstlose Opfer wirklich zerstören, indem ihr euch weigert, unsere uralten Gesetze anzuerkennen?"

Die Assassinen blickten einander nachdenklich an. Man konnte sehen, wie Sad'ahad sie mit seinen Worten auf seine Seite zog.

„Es fällt mir schwer im Angesicht dieser tragischen Umstände darauf zu beharren, aber wir müssen unseren Orden neu strukturieren. Wir alle wollen einen bestimmten Mann an der Spitze, doch eben dieser Mann weilt nicht mehr unter uns. Deshalb erkläre ich mich dazu bereit, seine Nachfolge anzutreten, so wie es sein Wunsch gewesen ist. Ich wünschte, ihr hättet ihn so kennenlernen dürfen, wie ich es getan habe. Er war schon damals ein beeindruckender Junge gewesen."

Staunend lauschte ich ihm. Wie konnte er es wagen, eine derart dreiste Lüge zu verbreiten? Ich hatte niemals auch nur ein Wort mit ihm gewechselt. Aber niemand schien ihn anzuzweifeln.

Rashkel wirkte ebenfalls überrascht.

Kurzentschlossen straffte ich mich, was mir meine Schulter sofort mit einem stechenden Schmerz quittierte. Trotzdem musste ich diese Scharade nun beenden.

„Ihr lügt." Ich hatte nicht geschrien, aber meine Stimme war laut und deutlich hörbar durch die besondere Akustik, die in der Arena herrschte.

Sämtliche Köpfe fuhren herum. „Wer spricht da? Wer wagt es, derart abfällig über mich zu sprechen?"

„Ihr habt ihn nicht gekannt."

Sad'ahad verschränkte die Arme. „Wie könnt Ihr so etwas behaupten?"

Ich trat vor Rashkel, sodass er mich deutlich sehen konnte. „Weil ich selbst immer noch am besten weiß, mit wem ich gesprochen habe."

Sad'ahad taumelte nach hinten, während ich mich ihm langsam näherte. War das mein eigener Atem, der derart rasselte? „Senn!" Alyn kam auf mich zu. Tränenspuren zeichneten sich deutlich auf ihren verdreckten Wangen ab. „Bei den Göttern, du lebst. Ich hatte solche Angst um dich. Wir wollten dir einen Weg freihalten, aber wir waren nicht stark genug. Wir... wir haben gewartet, aber du bist nicht hinausgekommen. Als dann die ganze Feste zusammengestürzt ist, wussten wir, dass du es nicht geschafft hast. Wie kannst du jetzt hier sein?"

„Ein Wunder", murmelte ich müde.

„Du bist verletzt, du musst verarztet werden."

Vorsichtig schob ich sie von mir. „Ich muss noch etwas klären."

Sad'ahad wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier. „Wie ist das möglich?", fragte er tonlos.

„Ihr seid ein Lügner. Ihr seid kein Heilbringer, auch wenn Ihr Euch gerne als solcher seht. Euch geht es nur um eines, genau um das, was so viele von uns antreibt: Macht. Aber das muss ein Ende haben. Ich habe Euch nicht unterstützt, nur um vom Regen in die Traufe zu gelangen. Ich habe den Kodex beschafft, um meinen ehemaligen Mitbrüdern vor Augen zu führen, welchen Werten sich dieser Orden einst unterwarf. Die Assassinen waren diejenigen, die für Ordnung sorgten. Sie kamen immer dann zum Einsatz, wo die Gardisten der Städte und die Soldaten des Landes versagten. Sie haben den Dreck aufgeräumt. Das war ihre Berufung. Sie haben getötet, ja, aber niemals Unschuldige und niemals aus Willkür. Sie lebten inmitten ihrer Mitmenschen und nicht in einer Festung versteckt in der Wüste, wo sie ihrem exklusiven Lebensstil frönten. Aus diesem Grund habe ich dem Orden einst den Rücken gekehrt. Denn mit diesem Wissen konnte ich nicht so weitermachen."

Alyn stützte mich, als mir die Knie nachzugeben drohten. „Wie kommt es, dass du immer halbtot durch die Gegend läufst?", schimpfte sie leise.

Ich musste grinsen. „Das liegt daran, dass ich dich so gerne berühre."

Sie setzte eine empörte Miene auf, aber ich konnte sehen, dass sie ein amüsiertes Lächeln verbarg.

Die Assassinen jubelten und klatschten. „Du hast alles ruiniert!" Sad'ahad spie Gift und Galle. Meine Augen weiteten sich, als ich sah, wie er seinen Dolch zog und auf mich zu stampfte. Weder Alyn noch ich waren bewaffnet. Erschrocken wich ich zurück, stolperte aber über meine eigenen Füße und stürzte zu Boden. Alyn, an der ich mich immer noch festklammerte, riss ich mit mir. Sad'ahad grinste irre. „Das wirst du noch bitter bereuen! Du wirst mit mir untergeh..." Mitten im Wort verstummte er und starrte verdutzt auf das Messer, das in seiner Kehle steckte. Dann kippte er auf mich. Sein Körper erbebte noch einmal, dann lag er still. Die weitgeöffneten Augen schienen mich anklagend anzustarren. Langsam schob ich ihn von mir.

„Braucht Ihr Hilfe?" Rashkel reichte Alyn die Hand, dann half er mir auf. Anschließend zog er sein Messer aus Sad'ahads Kehle.

„Ihr habt ihn getötet."

„Natürlich. Ich lasse nicht zu, dass irgendjemand meinen Schüler bedroht."

Inzwischen herrschte ein regelrechtes Gerangel. Die Anhänger Abdajahs griffen die Unterstützer Sad'ahads an, die sich wiederum auf Rashkel stürzen wollten, aber von Karim und ein paar anderen davon abgehalten wurden.

Völlig überfordert starrte ich in das Gewimmel. „Tu doch was", heischte mich Alyn an.

Verblüfft blickte ich zu ihr. Sie war von braunem Staub überzogen, aber ihre Augen funkelten zornig. „Wieso ich? Ich kann gar nichts tun. Ich bin doch nicht einmal bewaffnet."

Sie hob nur auffordernd die Augenbrauen. Kurz dachte ich nach und wich dabei einem Schwertstich aus.

„Sphen!"

Der junge Mann, der anfangs eher im Hintergrund gestanden hatte, hörte mich und bahnte sich seinen Weg zu mir.

Er wirkte gehetzt. „Wir werden uns gegenseitig umbringen."

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn du es verhindern kannst."

„Ich?" Völliger Unglaube stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Soll ich sie etwa alle durch die Luft wirbeln lassen?"

„Nein, ich dachte da an etwas anderes." Ich erklärte es ihm und er wich zurück.

„Das kannst du nicht ernsthaft verlangen!"

„Wie du schon sagtest, sie werden sich alle gegenseitig umbringen. Also entscheide dich schnell."

Er seufzte. „Na gut. Aber du übernimmst die Verantwortung."

Ich zwinkerte ihm zu. „Kein Problem, Junge. Ich bin sowieso der Sündenbock für alles."

Zuerst bemerkte man keine Veränderung, außer dass Sphen immer blasser wurde. Ich winkte Alyn zu mir und sie verstand sofort was ich von ihr wollte. Kluge Frau.

Sie stützte Sphen, sodass dieser wieder etwas Farbe gewann. Plötzlich kamen die Kämpfe zum Erliegen und sämtliche Assassinen fassten sich entsetzt an die Kehle und schnappten verzweifelt nach Luft. Niemand dachte mehr daran, jemanden anzugreifen, waren sie doch alle viel zu beschäftigt nach Atem zu ringen.

Zeit für meinen Auftritt. Ich schluckte. „So weit ist es also schon mit euch gekommen. Jetzt bringt ihr euch alle gegenseitig um. Ich persönlich habe damit kein Problem, denn wir Assassinen sind eine Plage für die Welt. Vielleicht solltet ihr euch gegenseitig ausrotten. Sphen hier hilft gerne nach. Oder ihr legt für einen Moment eure Waffen nieder und hört mir zu." Auffordernd blickte ich in die zunehmend panischere Menge. Einer nach dem anderen ließ die Waffen fallen und als auch die letzte auf dem Boden landete, gab Sphen ihnen die Luft zurück, die so dringend benötigten.

„Das war Wahnsinn", murmelte Rashkel neben mir, der ebenfalls nicht von der Atemnot betroffen war.

„Ich weiß."

Jeder einzelne Assassine starrte mich an. Niemand wagte es auch nur einen Finger zu rühren, aus Angst ersticken zu müssen. „Euch sollte bewusst werden, dass unser Orden in Wirklichkeit ein Konstrukt aus Lügen ist. Viele von euch mögen das längst geahnt, einige sogar gewusst haben, aber der Großteil hat diese Tatsache einfach als unvermeidlich akzeptiert. Ihr habt die einmalige Gelegenheit, etwas daran zu ändern. Ihr habt den Kodex wieder, der es euch ermöglicht, nach seinen Regeln zu leben. Ihr könnt euch etwas Neues aufbauen, Familien gründen und dafür sorgen, dass die Menschen nicht mehr in Furcht über euch sprechen, sondern mit Respekt. Ich kann euch nicht dazu zwingen, sich für diese Lebensart zu entscheiden. Wer gehen will, kann das gerne tun."

Ich holte tief Luft. „Es ist allein eure Entscheidung."

Während die Assassinen angeregt diskutierten, sackte ich auf den Boden. Mir tat alles weh. Alyn kniete sich neben mich. „Das war großartig."

„War es das? Ich hasse Reden."

Sie grinste. „Du machst dich gut."

„Muss wohl an den Schmerzen liegen." Ich schloss die Augen. Für einen Moment gönnte ich es mir, mich auszuruhen.

„Halt Senn! Nein, stirb nicht!" Alyns verzweifelte Stimme sorgte dafür, dass ich meine Augen wieder öffnete.

„Ich sterbe nicht", murmelte ich. „Ich bin nur erschöpft."

Erleichtert drückte sie mich an sich. Ich genoss es mehr als ich jemals zugeben würde, mit dem Gesicht zwischen ihre Brüste gepresst zu werden. Nur schade, dass eine Stoffschicht zwischen mir und ihrem begehrenswerten Körper lag.

Sofort fühlte ich mich etwas besser. Erst später wurde mir bewusst, dass sie mir Energie gegeben hatte.

„Kasar?" Eine männliche Stimme riss mich aus meiner Versonnenheit. Ich löste mich von Alyn, deren Kleidung nun einen unförmigen und dreckigen Abdruck meines Gesichts zeigte.

Ich rappelte mich auf.

Einer der Assassinen war vorgetreten. „Werdet Ihr uns führen?"

Stille.

Alyn stieß mich sacht an. „Er spricht mit dir."

Ich lachte. „Ich? Nein!" Als ich die langen Gesichter sah, seufzte ich. „Ich habe vor Jahren dem Orden den Rücken gekehrt und bereue diese Entscheidung nicht. Ich werde woanders dringender gebraucht." Mein Blick fiel auf Karim. „Aber dieser junge Mann gäbe einen großartigen Anführer ab."

Karim starrte mich entsetzt an. „Kasar..."

„Er will diese Macht nicht, also wird sie ihn auch nicht korrumpieren. Oder zumindest nicht in der nächsten Zeit."

Karim blickte finster gen Boden und verfluchte mich leise.

„Er hat den Widerstand ins Leben gerufen. Ohne ihn würden wir nicht hier stehen. Ihm habt ihr das alles zu verdanken. Nicht mir. Ich bin nur ein Gast, der nun weiterziehen muss. Ich werde euch nicht zwingen, irgendjemanden zum Anführer zu bestimmen, aber Karim hat meinen Segen."

Die Assassinen schienen mit dieser Entscheidung einverstanden, denn sie umringten meinen ehemaligen Kampfgefährten.

Erschöpft zog ich mich zurück. Ich setzte mich auf eine der Steinflächen. Alyn nahm neben mir Platz und auf der anderen Seite tat Rosena es ihr gleich. „Senn, du warst wunderbar", sagte sie leise und wirkte etwas verlegen.

„Du bist auch großartig. Ohne dich wäre das gar nicht möglich gewesen. Wie lange kannst du die Attrappe des Kodexes aufrechterhalten?"

„Ich weiß es nicht."

„Ro hat es sogar geschafft, ihn im Schlaf beizubehalten", erklärte Alyn stolz.

Die junge Frau wurde rot. „Das ist einfach so passiert."

„Das ist ausgezeichnet. Dann wird Karim genug Zeit haben, ihn kopieren zu lassen."

Sphen trat auf uns zu. Er wirkte äußerst angespannt. „Wir sollten reden", murmelte er.

„Ich habe mich schon gefragt, wann du damit herausrücken würdest."

Die beiden Frauen und der Assassine blickten mich überrascht an. „Du weißt es?"

„Dass Sphen ein Edelstein ist? Ja."

„Seit wann?"

„Ich habe gesehen, wie dein Stein geleuchtet hat, Alyn. Als ihr mich zurückgelassen habt."

„Es tut uns so leid", entschuldigte sie sich.

„Schüttelt eure Schuldgefühle ab. Es war das einzig Richtige. Ich bin froh, dass ihr es geschafft habt."

„Wie bist du entkommen?"

Ich lächelte geheimnisvoll. „Offenbar hatte ich die Unterstützung der Götter." Bevor sie weiterfragen konnten, wandte ich mich an Sphen. „Warum hast du mich damals angelogen?"

„Weil ich es nicht wusste. Als du mich nach einem Stein gefragt hast, dachte ich, du meinst einen Kiesel oder einen Felsbrocken. An meinen Steinreif habe ich nicht gedacht." Er schob seinen Ärmel nach oben und ich konnte einen schmalen Reif um seinen Bizeps ausmachen. Es war ein schlichtes Band aus einem gelblichen Edelstein. „Ich habe den Stein einst auf Suche nach Schätzen ausgebuddelt. Mein Vater hat diesen Reif daraus gemacht. Komischerweise ist er mit mir mitgewachsen."

Seltsamerweise nahm ich diese ungewöhnliche Tatsache recht gelassen hin. In den letzten Monaten hatte ich so viel Unglaubliches erlebt, dass mich unmögliche Dinge nicht mehr schreckten.

„Alyn hat mir alles erzählt. Ich werde euch begleiten."

Ich nickte abwesend, während mein Blick an Karim hängen blieb, der immer noch unter einem Meer aus Leibern begraben war. Kaum zu glauben, dass er und ich einst bittere Rivalen gewesen waren. Er hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert. Ich war mir sicher, dass er die Assassinen auf einen guten Pfad zurückführen würde.

„Wir sollten gehen", entschied ich schließlich.

„Du willst dich nicht verabschieden?" Alyn klang erstaunt.

„Ich habe hier nichts mehr zu suchen. Es ist schon lange nicht mehr meine Heimat und ich bin meinen ehemaligen Mitbrüdern längst fremd geworden." Außerdem hatten wir schon genug Zeit verloren.

Alyn warf Rosena einen vielsagenden Blick zu, woraufhin diese nur mit den Schultern zuckte. Ich erhob mich ächzend. „Kommt ihr?"

Gerade als ich die Treppen erklomm, ließ mich ein Ruf innehalten. Ich drehte mich genervt um und wartete auf Rashkel, der mir eilig folgte.

Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, wirkte er zerzaust. Selbst während unserer zahlreichen Übungskämpfe war er stets tadellos gekleidet gewesen und jedes Härchen hatte auf seinem kurzgeschorenen Haupt an der richtigen Stelle gelegen. Sein Mantel war leicht staubig.

„Sagt nichts. Ich werde nicht warten, bis sich die Leute wieder an mich erinnern. Auf keinen Fall", erklärte ich, als er tief Luft holte.

Er lachte. „Natürlich. Das war mir bewusst. Ich wollte dir nur alles Gute wünschen. Vielleicht werden wir uns ja eines Tages wieder begegnen. Ich hoffe es sehr, denn ich habe deine Gesellschaft genossen."
„Das habe ich auch", musste ich mir eingestehen.

Wir schwiegen beide, denn keiner schien so recht zu wissen, was noch zu sagen wäre. Schließlich fasste ich mir ein Herz. „Achtet auf Karim. Er ist ein guter Kerl, aber unerfahren."

Er nickte, ehe er mich auf die in Skaramesch übliche Weise verabschiedete: Er legte eine Hand ans Herz und verneigte sich. Ich tat es ihm nach, dann drehte ich mich um.

Erst am oberen Ende der Treppe schaute ich noch einmal zurück. Die wenigsten schienen etwas bemerkt zu haben, nur Imor starrte genau in meine Richtung. Obwohl die Distanz zu groß war, meinte ich zu spüren, wie sich unsere Blicke trafen, dann wandte er sich ab und stiefelte zu Rashkel. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich an diese Wochen etwas wehmütig zurückerinnern würde, aber schon jetzt spürte ich einen Hauch von Kummer über diesen Abschied.

„Seit wann bist du so großzügig mit Komplimenten?" Alyns Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

„W-was?"

„Weil du die einfache Sprache offenbar nicht verstehst: Seit wann findet sich in deinem Wortschatz eine so hohe Konzentration an positiven Äußerungen?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Es schien mir ein guter Moment, damit anzufangen."

Alyn grinste und hakte sich bei mir unter. „Jetzt lass uns die Sklaven abholen und nach Agba zurückkehren."

Ich wandte mich von der Richtung, in der vor Kurzem noch die Schattenfeste gestanden hatte, ab. Die Assassinen hatten eine hervorragende Kenntnis über Oasen. Sie würden es ohne Probleme nach Agba, der Perle der Wüste schaffen.

Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass etwas, was so lange Teil meines Lebens gewesen, nun endgültig vorbei war.

Dann lächelte ich Alyn an. „Ja."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top