Kapitel 72
Auf einmal stand Sad'ahad neben mir. Sphen zuckte zusammen und verstummte. Dann starrte er merkwürdig erleichtert gen Boden. „Ich sollte gehen", meinte er leise.
Ich wollte ihn aufhalten, aber ich sah ein, dass es zwecklos war. Was auch immer Sphen mir Wichtiges zu sagen hatte, es musste warten.
„Was wollt Ihr?", fragte ich Sad'ahad rüder, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. Entweder er schien meinen Tonfall nicht bemerkt zu haben oder es war ihm gleich. „Ich wollte mit Euch reden."
Ich seufzte. Diese Nacht würde ich wohl nicht mehr viel Schlaf bekommen. „Was ist?"
„Ich wollte nur einmal die Gelegenheit nutzen, um mit dem Mann zu reden, der mir die Augen geöffnet hat."
„Ach ja?" Ich bemühte mich, nicht schnippisch zu klingen. Das war eine Sache, die Frauen vorbehalten sein sollte.
„Ihr seid mein großes Vorbild."
Vielleicht konnte ich ihn nur nicht leiden, weil er ein Mann der Worte war und ich eher auf Taten zählte. „Ihr schmeichelt mir", erwiderte ich müde, weil es das war, was er hören wollte.
„Aber nicht doch. Gedenkt Ihr Euch an die Spitze der Assassinen zu setzen, sollte unser Putsch gelingen?"
„Das sind harte Worte, die Ihr da in den Mund nehmt."
Sad'ahad winkte ab. „Die Wahrheit."
„Um Eure Frage zu beantworten: Nein, ich habe mit diesem Leben abgeschlossen. Ich werde Euch helfen und dann den Assassinen endgültig den Rücken kehren."
„Das ist bedauerlich" Hätte ich nicht das kurze Aufhellen seiner Miene gesehen, hätte ich ihm dieses Possenspiel abgenommen. Es hatte seinen Grund, warum er es nie zu einem Meister gebracht hatte. Ihm fehlte es an den entscheidenden Qualifikationen.
„Ich bin sicher, die anderen werden wollen, dass Ihr einen neuen Anführer bestimmt."
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe nichts mehr mit ihnen zu schaffen. Sie werden nicht auf das Wort eines Fremden hören."
„Ihr habt selbstverständlich recht. Aber sollten sie es doch wollen, wüsstet Ihr bereits, wen ihr wählen werdet? Entschuldigt, wenn ich das frage, aber als Anführer des Widerstands muss ich mich um vielerlei Dinge kümmern. Es heißt, ich erledige das souverän und mir gefällt die Arbeit, aber..." Er verstummte und ich hob eine Augenbraue.
„Aber?"
„Ihr müsst verstehen, dass die meisten keine Ahnung haben, wie man führt und ich sollte es frühzeitig wissen, damit ich meinen Nachfolger ausbilden kann. Damit er das Amt in Eurem Sinne weiterführt."
„Ich werde darüber nachdenken." Mit diesen Worten verbeugte ich mich mit einem knappen Nicken und schritt zur Luke.
Sad'ahad schien zu verstehen, dass unser Gespräch beendet war und er drängte mich nicht weiter. Oben wartete Rashkel wie prophezeit auf mich. Gemeinsam verließen wir den Stall, während ich ihm leise von dem Gespräch mit dem Lehrer erzählte.
„Was gedenkst du zu tun?"
„Ich? Was soll ich schon machen? Ich habe es Sad'ahad ebenfalls schon gesagt. Ich werde mich raushalten. Es ist nicht meine Sache. Ich bin keiner von euch."
Rashkel lachte. „Natürlich. Aber Junge, es heißt nicht umsonst ‚einmal Assassine, immer Assassine'."
Die Gänge waren wie ausgestorben, als wir leise durch sie marschierten. Selbst wenn uns jemand entdeckt hätte, besaß Rashkel vermutlich die Autorität dazu. Niemand würde an seiner Treue zweifeln.
Mein schlechter Einfluss war offenbar gewaltig, wenn es mir gelungen war, jemanden wie ihn zu korrumpieren.
Als Rashkel meine Zelle öffnete, seufzte ich und betrat sie. Bevor er abschloss, fixierte der ältere Assassine mich ernst mit seinen dunklen Augen. „Wir haben noch drei Tage. Sieh zu, dass du morgen ausgeruht bist. Ich werde das Training sicher nicht schleifen lassen."
Spöttisch salutierte ich. „Ja, Herr."
Ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Ich meine es ernst."
Das tat er tatsächlich. In den nächsten drei Tagen forderte er mich mehr als in den vorhergegangenen zusammen. Meine Muskeln schienen nur noch aus Butter zu bestehen, während meine Lunge jeden Moment zu kollabieren drohte. Jeden einzelnen Abend fiel ich in mein hartes Bett und schlief sofort ein, bevor ich auch nur meine Kleidung ablegen konnte.
Einen Vorteil hatte die Sache: Ich hatte keine Zeit in düstere Gedanken zu versinken. Dafür war ich viel zu beschäftigt, am Leben zu bleiben.
Am vierten Tag schließlich wachte ich mit klopfendem Herzen auf. Es war noch stockfinster draußen. Durch die schmalen Eisenstäbe, die das Fenster vergitterten, fiel nicht einmal Mondlicht. Obwohl ich müde war, konnte ich vor Aufregung nicht mehr schlafen. Aus diesem Grund lag ich wach und starrte an die Decke. Mir war kalt und all die Zweifel, die in den vergangen Tagen unter der Oberfläche geschlummert hatten, brachen nun mit aller Macht hervor.
Deshalb fiel mir ein Stein vom Herzen, als ich hörte, wie sich der Schlüssel drehte. Draußen war es wie immer noch dunkel, sodass mich der Lichtschein der Kerze regelrecht blendete. Ich kniff kurz die Augen zusammen, dann richtete ich mich auf.
Rashkels Miene wirkte verschlossen. Seine harten Züge ließen ihn älter als normalerweise aussehen. „Du bist wach", stellte er das Offensichtliche fest.
Ich nickte. „Ja, ich konnte nicht mehr schlafen."
Anstatt mich wie sonst immer zu hetzen, ließ sich Rashkel ächzend neben mir auf der Bettkante nieder. „Bereit, ein letztes Mal gegen mich anzutreten?"
„Ich hoffe nur, dass dem so sein wird."
„Natürlich." Er klang genauso müde, wie ich mich fühlte.
„Warum ist die Welt ein ungerechter Ort?", sinnierte ich und er schwieg lange.
„Vielleicht, damit wir nach etwas Besserem streben können."
Ich seufzte. „Etwas Besseres. Wer von uns hat schon die Macht, etwas zu ändern?"
Rashkel erhob sich langsam. „Ich nicht. Aber du scheinst sie zu besitzen."
Ich schnaubte und er kommentierte meine abfällige Reaktion mit einem strengen Blick, der deutlich machte, in welcher Beziehung wir beide eigentlich stehen sollten. „Ich kenne deine Lebensgeschichte, vergiss das nicht. Du änderst das Schicksal vieler Menschen. Ob freiwillig oder nicht, sei mal dahingestellt. Und jetzt änderst du etwas an meiner Ausdauer, nervige Schüler zu unterrichten. Wir haben Zeit bis Sonnenaufgang. Dann müssen die Turnierteilnehmer vor dem Großmeister erscheinen."
Ich musste über Rashkels seltsame Wortwahl grinsen, aber als mir bewusst wurde, was wir heute tun würden, wurde ich schlagartig wieder ernst.
Viel Zeit blieb uns nicht. Als die Sonne den Horizont überschritt, waren wir inmitten eines Übungskampfes. Ich hatte Rashkel gerade in arge Bedrängnis gebracht und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis ich ihn entwaffnen würde. Darum war es kein Wunder, dass der ältere Assassine es nur allzu eilig hatte, den Kampf zu beenden. „Wir müssen los", brachte er hervor, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Ich grinste und steckte meine beide Sennen wieder in die speziell für sie angefertigten Scheiden. Obwohl ich dem Morden ein für alle Mal abgeschworen hatte, in der Hoffnung, Alyn würde es gutheißen, genoss ich es – wie ich mir eingestehen musste – mit ihnen zu kämpfen. Es war etwas, was ich gut konnte, und nachdem Rashkel mich in den letzten Tagen mit anderweitigen Waffen gegen sich hat antreten lassen, war es eine besondere Freude.
Er klopfte mir auf die Schulter. „Gut gemacht."
Wäre ich noch ein einfacher Schüler gewesen, hätte ich mich über dieses Lob unbändig gefreut. Selbst jetzt konnte ich ein flüchtiges Lächeln nicht unterdrücken.
Als wir jedoch zum Speisesaal gelangten, verdüsterte sich meine Laune. „Ich werde doch nicht vor allen Assassinen treten müssen, oder?" Es war eine rhetorische Frage, denn ich kannte die Bräuche ebenso gut, wie Rashkel es tat.
Er antwortete dennoch. „Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig." Er wirkte genauso unglücklich darüber, wie ich es war.
Der Speisesaal war gerammelt voll. Überall quetschten sich Assassinen auf den sonst so reichlich verfügbaren Sitzplatz. Spannung lag in der Luft. Niemand beachtete uns, denn die Aufmerksamkeit galt entweder dem Banknachbarn oder den Männern vorne auf dem Podest.
Ich erspähte Sphen und Karim, die die Köpfe zusammensteckten. Karim nickte mir kurz zu, als er mich entdeckte. Rashkel führte mich in die entlegenste Ecke des Saales.
Dort saßen weniger Leute, war es doch zu weit vom Geschehen entfernt. Zu meiner Überraschung war einer von ihnen der Säbelträger, der bei meiner Ankunft am Tor Wache geschoben hatte. Rashkel stellte ihn mir vor. „Das ist Imor, ein ehemaliger Schüler von mir. Sehr talentiert." Der Säbelträger riss erstaunt die Augen auf, als er die großzügigen Worte hörte, nickte aber gelassen.
„Das ist Kasar", erklärte Rashkel an ihn gewandt.
„Ich weiß", meinte der junge Mann leise.
„Ach tatsächlich? Der Großmeister ließ doch verlauten, dass seine Identität ein Geheimnis bleiben soll."
Imor lachte bitter. „Oh ja, das hat er uns sehr deutlich zu verstehen gegeben. Wir hatten nur das Pech, an jenem schicksalshaften Tag Wache zu stehen."
Ich hob eine Augenbraue ob der Übertreibung.
Er bemerkte meine Skepsis. „Ich habe viel nachgedacht in den letzten zwei Wochen."
Rashkel seufzte. „Du kannst es nicht lassen, die Überzeugungen sämtlicher Leute, denen du begegnest, ins Wanken zu bringen, nicht wahr?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts getan."
Imor warf mir einen merkwürdigen Blick zu, schwieg aber, weil sich in genau diesem Moment Abdajah von seinem bequemen Sessel erhob und nach vorne trat. Er begann eine leidenschaftliche Rede zu halten, an deren Ende alle Assassinen begeistert aufsprangen und jubelten. Trotzdem kam ich nicht umhin, zu bemerken, dass Imor eine finstere Miene zog.
„Heute haben wir uns alle zusammengefunden, um den ersten Tag der aufregendsten Woche des ganzen Jahres einzuläuten. Heute werden die jüngeren Mitglieder unseres Ordens, den älteren beweisen, was sie alles gelernt haben. In den letzten Tagen sind viele von euch von weit her gereist. Besonders möchte ich diejenigen begrüßen, die ihre Arbeit in den Stützpunkten in fremden Ländern verrichten. Unsere Nachbarn aus Jamar und Beerland, sowie aus Solitar, aber insbesondere auch die, die aus Seyl und Acerum angekommen sind. In Ländern, die sich im Krieg befinden, ist die Arbeit immer besonders hart. Deshalb gelten auch unsere Gedanken denjenigen, die zwischen die Fronten geraten sind und dies nicht überlebt haben. Aber diese kommende Woche, wird uns Anlass zur Freude bieten. Wir werden mit unseren Rekruten mitfiebern und dürfen stolz auf sie blicken, denn sie sind unsere Zukunft. Einige von ihnen treten zum ersten Mal an, andere von ihnen haben auch die letzten Male gekämpft. Wir wollen alle für ihren Ehrgeiz würdigen."
Abdajah machte eine Kunstpause, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören, so andächtig wie alle lauschten.
„Damit all den Zuschauern ein kleiner Vorausblick gewährt werden kann, werde ich nun jeden einzelnen Teilnehmer und ihren jeweiligen Mentor vorstellen." Dieses Ritual war nur aus Geldgier heraus entstanden. Denn auch wenn es niemand offiziell aussprach, so waren die zahlreichen Wetten ein äußerst lukratives Geschäft.
Einer der Männer oben auf der Empore – bei ihnen handelte sich prinzipiell nur um Meister des vierten oder fünften Ranges – reichte Abdajah eine lange Liste. Dieser begann die einzelnen Rekruten aufzurufen. Manche von ihnen waren noch Milchgesichter und grün hinter den Ohren, andere wirkten erfahrener und schienen schon ein oder zwei Turniere hinter sich gebracht zu haben. Alle von ihnen hatten eins gemeinsam: Sie wirkten aufgeregt und strahlten mit einem breiten Grinsen in die Menge, als sie sich neben Abdajah versammelten, der jedem einzelnen von ihnen viel Glück wünschte.
Vier von ihnen waren Schüler von Rashkel, was ich überrascht zur Kenntnis nahm. Der ältere Assassine schien mein kurzes Stirnrunzeln bemerkt zu haben. „Hast du gedacht, ich hätte neben dir niemanden zum Ausbilden?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Es erstaunt mich nur, dass es so viele sind." Schließlich bedeutete das auch eine Menge Prestige. Je mehr Schüler ein Mentor besaß, desto höher wurden seine Fähigkeiten in Bezug auf die Ausbildung eingeschätzt. Die meisten hatten nur einen oder zwei, manche drei und nur ganz wenige vier.
Mit mir besaß Rashkel stolze fünf Schüler. „Ihr habt viel Arbeit", stellte ich fest.
„Die meisten von ihnen sind Grünschnäbel. Du hast einen großen Altersvorteil."
„Es ist ungerecht", stellte ich fest. „Ich bin bestimmt zehn Jahre älter als der Erfahrenste von ihnen."
„Dafür hattest du nur zwei Wochen. Natürlich macht es keinen Unterschied, weil das Turnier wohl nie stattfinden wird."
Abdajah hob die Hände in einer dramatischen Geste. Während ich mich mit Rashkel unterhalten hatte, hatte der Großmeister alle Rekruten auf die Empore gerufen und war auf irgendeine Art und Weise die lange Liste wieder los geworden. Ich wappnete mich dem, was nun unweigerlich folgen würde.
„Das diesjährige Turnier hat einen besonderen Teilnehmer. Jeder von euch kennt seinen Namen, auch wenn die wenigsten ihn persönlich gekannt haben. Er ist eine Legende in unseren Reihen, als derjenige, der mit unserem Orden gebrochen hat und nach dem Mord an meinem Vorgänger geflohen ist." Raunen erhob sich, als alle angeregt mit ihren Banknachbarn zu tuscheln begannen. Suchende Blicke glitten durch den Raum. Abdajah klatschte energisch in die Hände und holte sich so die Aufmerksamkeit wieder. „Uns ist es gelungen, ihn für unsere Sache zurückzugewinnen. Schließlich dürfte allgemein bekannt sein, dass er eines unserer besten Mitglieder war. Doch nun muss er sich erst wieder profilieren. Meine Herren, darf ich euch Kasar vorstellen."
Der Lärm, der nun ausbrach, war ohrenbetäubend. Steif erhob ich mich und schritt nach vorne. Ich weigerte mich, meinen Blick zur Seite schweifen zu lassen, um all die erstaunten, entsetzten, von Abscheu gezeichneten Gesichtsausdrücke zu sehen. Ich fixierte allein Abdajah, der mich mit triumphierender Miene beobachtete. Wie lange hatte er auf diesen Moment hingearbeitet? Es würde unweigerlich seine Macht und Karriere an die Spitze treiben und ich erkannte, dass er sich in Gedanken bereits in die Annalen des Ordens eingehen sah.
Die jungen Rekruten wichen zur Seite, als ich mich zu ihnen gesellte. Sie hatten Angst vor mir. Ich hatte in den letzten zwei Wochen zugenommen und fast zu alter Form zurückgefunden, nun passte mein äußeres Erscheinungsbild auch wieder zu dem Ruf, den ich mir unbeabsichtigt erarbeitet hatte.
Ich war froh, als sich der aufgebrachte Saal wieder beruhigte und die einzelnen Mentoren auf die Empore kamen.
Rashkel stellte sich fast demonstrativ an meine Seite und mich überkam ein kurzer Anflug von Dankbarkeit.
Abdajah entließ alle mit großen Worten. Am frühen Nachmittag, wenn die Sonne ihren Zenit überschritten hatte, würden sich alle in die Wüste aufmachen, um dort die Kämpfe zu beobachteten. Die Arena dazu, war ein nahezu kreisrundes Loch, das auf natürliche Weise entstanden war. Später jedoch hatten menschliche Hände den Felsen, der es einrahmte, bearbeitet und zahlreiche Steh- und Sitzgelegenheiten geschaffen. Denn die vielen Innenhöfe der Feste waren nicht dazu geeignet, eine derartige Menschenmasse aufzunehmen.
Aus diesem Grund würden, bis auf wenige, alle die Feste verlassen. Diese mussten die unbeliebteste Arbeit verrichten: Wache schieben. Jedes zweite Jahr fieberten die Assassinen der Wacheinteilung in dieser Zeit ebenso entgegen wie dem Turnier selbst. Jedes zweite Jahr waren die freudigen Ausrufe laut, wenn man dem Dienst entkommen war, und die Enttäuschung groß, wenn man eingeteilt wurde.
Aus diesem Grund war es auch nicht schwer, mit einer eingeteilten Wache zu tauschen.
Während sich alle in die Wüste aufmachten, würden einige zurückbleiben. Unter ihnen waren unter anderem Sphen und Karim.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top