Kapitel 71
Die nächsten Tage liefen ähnlich ab. Vor Sonnenaufgang holte mich Rashkel ab und hetzte mich um die ganze Feste, bevor er mir Dehnübungen anordnete. Nach einer kurzen Pause, in der ich zumeist Chandri besuchte und mit ihr gemeinsam buk, reichte mir Rashkel meine Sennen, sodass ich gegen ihn in einem Übungskampf antreten konnte. Anfangs ging es mir nicht anders als beim ersten Mal, aber jeden Tag hielt ich ein bisschen länger durch, bis ich ihn am sechsten Tag entwaffnete. Rashkel schlug mir daraufhin grinsend auf die Schulter mit den Worten „Du bist wieder da". Nachmittags setzten wir uns zusammen und führten lange Gespräche.
Hätte das Turnier nicht wie ein Schatten über mir gehangen, hätte ich die Zeit fast genießen können, denn niemand verlangte von mir, irgendwelche Menschen zu töten. Noch nicht. Doch auch der Gedanke an Alyn und Rosena trübte meine Stimmung. Zudem wusste ich, dass meine Zeit ablief.
Zu Beginn der zweiten Woche meiner Rückkehr traf ich auf Karim. Nach einem langen Aufenthalt in den Bädern war ich gerade auf dem Weg zu Rashkel, als er mir entgegenkam.
„Kasar", begrüßte er mich. Verschwörerisch steckten wir die Köpfe zusammen. „Hast du Rashkel schon überzeugen können?" Er grinste, als er meine erstaunte Miene sah. „Wenn es einer schafft, diesen sturen Bock auf unsere Seite zu ziehen, dann du."
„Ich weiß nicht. Ich bin mir sicher, dass er viele Handlungen vonseiten des Großmeisters und seiner Unterstützer nicht gutheißt, aber ich glaube, er steht auf seiner eigenen Seite."
„Arbeite weiter daran. Ach ja, Sphen hat sich mit deinen Frauen getroffen. Ihnen geht es den Umständen entsprechend gut. Sie sind bereit."
Ein Lächeln stahl sich mir auf die Lippen. Natürlich waren sie das. „Morgen Abend", sagte ich. „In den Stallungen. Ich werde Rashkel mitbringen. Sollte ich nicht auftauchen, müsst ihr ohne mich handeln."
Karim nickte. „Ich werde es weitergeben. Bist du dir sicher, dein Plan wird funktionieren?"
„Ich weiß es nicht. Aber mir ist nichts Besseres eingefallen. Es wird euch die Gelegenheit geben, das Ruder herumzureißen."
Eine Gruppe Assassinen, die an uns vorbeikam, grüßten Karim ehrerbietig und ignorierten mich. „Ich muss gehen", entschied ich. „Man sollte uns nicht zu oft miteinander sehen."
Karim verabschiedete sich und ich eilte weiter.
„Du wirkst zerstreut", stellte Rashkel fest.
Ich bemühte mich um ein Lachen, das mir reichlich misslang. „Ich denke über eine rein hypothetische Sache nach."
„Die da wäre?"
„Wenn die Assassinen wieder an den Kodex zu glauben beginnen, würdet Ihr das gutheißen?"
„Du willst natürlich eine rein hypothetische Antwort."
Ich nickte.
„Natürlich ja. Unser Orden ist längst verkommen. Wir leben jenseits der Gesetze und niemand traut sich, uns Einhalt zu gebieten. Wenn es kein anderer macht, dann müssen wir uns selbst darum kümmern."
„Wenn der Kodex plötzlich wieder auftauchen würde, würdet Ihr dann gegen diejenigen vorgehen, die sich weigern, seine Regeln zu akzeptieren?"
Rashkel schwieg lange, dann seufzte er, während er sinnierend in die Ferne starrte. „Ich schätze, es muss getan werden. Aber was soll das alles? Diese merkwürdigen Fragen."
„Nichts. Es war ja nur hypothetisch."
Er betrachtete mich aus gerunzelter Stirn. „Meine Augen mögen vielleicht allmählich schwächer werden, aber mein Verstand ist dadurch nicht beeinträchtigt. Was hast du vor?"
Ich zögerte, aber dann gab ich mir einen Ruck und erörterte ihm meinen Plan. Angespannt musterte ich das Mienenspiel in seinem Gesicht. Entweder er würde jetzt aufstehen und den Großmeister vorwarnen oder er machte sich unweigerlich zum Mitverschwörer.
Prüfend beobachtete er mich. „Das ist ziemlich riskant. Es könnten Menschen sterben."
Ich nickte unglücklich. „Ich weiß. Ich hoffe nur, es lässt sich vermeiden. Es ist jedoch die einzige Möglichkeit, die mir in den Sinn gekommen ist. Vielleicht würde ich es schaffen, gemeinsam mit Alyn und Rosena zu fliehen, aber dann sind wir für den Rest unseres Lebens Gejagte und es ändert sich nichts."
„Nehmen wir mal an, ich würde dich unterstützen – was müsste ich tun?"
„Rein hypothetisch?"
Er lachte. „Rein hypothetisch."
Ich erläuterte es ihm und er nickte. „Ich werde dir helfen. Du bist ein vernünftiger Junge und ein kluger Kopf, anders als viele hier."
Den folgenden Tag war ich unkonzentriert und musste dadurch einige Schläge verschiedenster Waffen einstecken. Nachdem ich mich mit meinen Sennen längst wieder ohne Schwierigkeiten gegen Rashkels stumpfes Schwert wehren konnte, waren wir dazu übergegangen, mit anderen Waffen zu trainieren. Natürlich waren unsere Kämpfe nur pro forma, denn wir beide wussten, dass ich die Waffen niemals wieder anrühren würde, sollte alles gut gehen. Aber das Schicksal spielte einem manchmal den ein oder anderen Streich, also nahm ich unsere Übungseinheiten durchaus ernst. Ich wollte für alle Eventualitäten gerüstet sein.
Rashkel war die Ruhe in Person. Niemand wäre jemals darauf gekommen, dass er einen Verrat plante. Er besaß sogar den Nerv, sich über politische Unruhen und den Wandel der Zeit zu unterhalten, als wir wieder gemeinsam an seinem Holztisch saßen. Für gewöhnlich hatte ich meine Aufregung besser im Griff und war selbst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber inzwischen stand für mich längst zu viel auf dem Spiel.
In einem hatte der alte Großmeister recht gehabt. Als ich damals vor ihm stand und er mich mit dem Wissen empfangen hatte, dass er sterben würde, war er erstaunlicherweise nicht überrascht oder geschockt gewesen. Stattdessen hatte er wissend gelächelt und mir aufmunternd zugenickt. „Vielleicht bist du meine Strafe, gesandt von Beladah oder welche Macht auch immer über unser Schicksal entscheidet, Junge. Einst war ich so alt wie du und von denselben Idealen angetrieben, aber merke dir eines: Macht korrumpiert. Irgendwann verliert man seine Gefühle und letztendlich ist man innerlich tot. Ich habe viele Dinge getan, bei denen ich in jüngeren Jahren vor Abscheu den Kopf abgewandt hätte.
Es ist an der Zeit zu sterben, denn Erlösung werde ich in diesem Leben nicht mehr finden. Ich bin ein alter Mann, der sein Amt missbraucht hat, und sich wie ein Süchtiger an seiner Macht festklammert. Aber das Schlimmste ist die Einsamkeit. Wenn du nicht enden willst wie ich, dann such dir Freunde, für die du dein Leben geben würdest, quer durch alle Kulturen und Stände. Denn Weitsichtigkeit gewinnt man nicht einfach so, sie wächst mit der Zeit. In deinem Herzen. Such dir Freunde, Junge, und lass sie dein Gewissen sein."
Für einen Moment hatte ich gezögert. In diesem Moment hatte der Großmeister seine altersbefleckte Hand um meine glatte geschlossen und sich den Dolch, den wir beide ergriffen hatten, in den Leib gerammt.
Bis heute hatte ich seine Worte nicht vergessen können.
Rashkel seufzte. „Du solltest besser aufpassen. Wie soll ich aus dir je einen anständigen Assassinen machen, wenn du die Aufmerksamkeitsspanne eines kleinen Kindes hast? Grübel doch nicht ständig um was gewesen ist und sein könnte, sondern konzentriere dich auf das Hier und Jetzt. Die Zeit vergeht zu schnell, als dass man sie so vergeuden könnte."
Ich rang mir ein Lächeln ab. „Tut mir leid. Was sagtet Ihr?"
Der ältere Mann brummte etwas und stand unvermittelt auf. „Lass uns gehen."
Auf dem Gang trafen wir zu meiner Bestürzung Adel an. Er schien über unsere Begegnung genauso wenig erfreut wie ich. „Hast du deinen Schüler angemessen bestraft?", wandte er sich ohne Umschweife an Rashkel und ignorierte mich voller Absicht.
Der nickte nur. „Wenn du uns jedoch entschuldigen würdest, wir müssen weiter."
„Ach, wohin denn?"
Ich bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, als ich den argwöhnischen Unterton hörte. Angespannt wartete ich Rashkels Reaktion ab. Dieser grinste. „Mein Schüler ist manchmal zu aufrührerisch, deshalb hoffte ich, ein paar Runden um die Feste während einer kalten Wüstennacht würden sein Gemüt abkühlen."
Adels Miene hellte sich auf. „Das ist eine ausgezeichnete Idee. Lass ihn noch eine Runde mehr rennen, weil er mir gegenüber so unverschämt ist."
Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Keine Aufmerksamkeit erregen. Statt etwas zu sagen, senkte ich den Kopf und schlug verlegen die Augen nieder. Von außen konnte man mir meine brodelnde Wut wohl kaum anmerken und Rashkel war so klug, mich weiterzuschieben, bevor ich mich eventuell vergessen hätte.
„Wir müssen weiter. Ich habe keine Lust mir die Nacht um die Ohren zu schlagen, nur weil mein Schüler nicht weiß, wie er mit Autoritätspersonen zu sprechen hat. Natürlich müssen wir morgen sehr früh aufstehen. Das Turnier rückt näher."
Adel nickte anerkennend. „Ja, das Turnier. Meine Schüler sind bereit. Aber ich bin gespannt, was deine so vorzuweisen haben. Ich habe gehört, du hättest sie in der letzten Wochen sträflich vernachlässigt."
„Hatte Wichtigeres zu tun", grummelte Rashkel. Ihn schien es wirklich schwer zu treffen, so kurz vor dem Turnier nicht bei den Übungseinheiten seiner Schutzbefohlenen anwesend zu sein.
Adel warf mir einen abschätzigen Blick zu. „Ja, das sehe ich."
Bevor er jedoch weitersprechen konnte, verabschiedete sich Rashkel eilig und wir verschwanden hinter einer Biegung des Ganges.
„Dieser Widerling", schimpfte der ältere Assassine leise. Nach einer kurzen Tirade fasste er sich jedoch wieder. Das Gespräch mit dem Meister schien ihn wahrlich aufgebracht zu haben, denn für gewöhnlich war er nicht aus der Ruhe zu bringen. „Dann mal auf in die Stallungen."
Wir schlichen nicht, doch mieden wir alle belebten Ecken. Man musste schließlich nicht unbedingt ein Entdecken riskieren. Als wir vor dem verschlossenen Tor standen, zögerte ich kurz. Wollte Rashkel möglicherweise nur bei dem Treffen anwesend sein, um herauszufinden, welche Mitbrüder das System stürzen wollten?
Allmählich verfluchte ich mich selbst für meine ewige Paranoia. Aber bisher hatte sie mich am Leben gelassen.
Rashkel runzelte die Stirn. „Du musst auf dein Herz hören. Ich kann dir nicht beweisen, dass es mir ernst ist."
Wann war ich so schlecht geworden, meine Gefühle zu verbergen?
Ich öffnete die Tür.
Das Innere war dämmrig und abgesehen von den vierbeinigen Gestalten, die neugierig aus ihren Boxen lugten, war kein lebendiges Wesen zu entdecken.
„Sieht so aus, als wären wir etwas zu früh dran." Rashkels Stimme durchbrach die Mauer aus gedämpften Geräuschen, wie das entspannte Schnauben der Pferde.
Langsam trat ich weiter ins Innere und sah mich um.
„Ich glaube nicht."
In dem Moment, in dem ich diese Worte aussprach, trat Karim aus den Schatten. Er war komplett in schwarz gekleidet und da seine Haut sowieso die Farbe von Kaffee hatte, hob sich sein Gesicht nur kaum merklich von dem schwachen Licht aus einer einzelnen Öllampe ab. „Woher wusstest du es?"
Ich grinste. „Berufsgeheimnis."
Zu Karim gesellten sich weitere Gestalten. Bei einer von ihnen handelte es sich um Sphen. Er stand etwas weiter hinten und hätte ihn nicht ein leichtes Hinken verraten, hätte ich ihn nicht erkannt.
„Sie sind mehr als ich gedacht hätte", ließ Rashkel vernehmen.
Ich zuckte mit den Schultern.
Karim lachte bitter. „Ist das so überraschend?"
„Natürlich nicht. Aber ich hätte nicht erwartet, so viele zu kennen. Allen voran dich. Was treibt dich an? Du legst eine steile Karriere hin. Du könntest alles verlieren."
Neugierig wartete ich ab, was Karim Rashkel antworten würde. Zuerst schwieg er und warf mir einen nachdenklichen Blick zu. „Sagen wir es einmal so: Ich traf einst jemanden, der alles hatte. Der es von ganz unten bis nach oben geschafft hatte und dann alles wieder weggeworfen hat, weil es gegen seine Prinzipien verstoßen hat. Da begann ich mich zu fragen, warum er es getan hat und allmählich kam ich zu dem Schluss, dass das, was wir hier tun, nicht rechtens ist. Vielleicht möchte ich einfach auch gerne ein Held sein oder zumindest mit dem Gefühl sterben, die Welt etwas besser gemacht zu haben."
„Und der Rest von euch besteht ebenfalls aus Idealisten?" Rashkel klang skeptisch.
„Offenbar. Warum bist du hier?" Karim verschränkte abwehrend die Arme und der Rest der Männer tat es ihm nach. Auch Sphen. Ich trat unruhig von einem Bein aufs andere. Die Spannung in der Luft war auf einmal greifbar geworden und ich fragte mich, ob Rashkel sie ebenfalls spürte. Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, waren wir in der Minderzahl. Insbesondere weil ich nicht gegen meine Verbündeten kämpfen wollte. Aber ich konnte mich ebenfalls nicht gegen meinen Mentor stellen. Nicht schon wieder.
Auf einmal lachte Rashkel. „Nun, anscheinend könnt ihr mich selbst dazu zählen. Ich bin einem charismatischen Redner verfallen, der mich überzeugt hat, ihm zu helfen."
Alle entspannten sich wieder, nur ich fühlte mich weiterhin unwohl. Ich wollte nur Alyn und Rosena retten und von hier verschwinden. Das war alles. Ich wollte keine Systeme stürzen, Leute von irgendwas überzeugen oder gar töten. Aber egal wie sehr ich mich bemühte, ich schien die Schwierigkeiten geradewegs magisch anzuziehen.
„Ist es nicht etwas auffällig, wenn sich dutzende Menschen in diesem Stall versammeln? Was ist, wenn jemand etwas hört oder einfach nur zufällig hereinkommt?"
Karim seufzte. „Du hast dich überhaupt nicht verändert. Immer alle Risiken vermeidend. Schalte doch einmal deinen Kopf ab."
„Aber..."
Er unterbrach mich rüde. „Komm mit. Selbst wir sind nicht so dumm und setzen uns einer solchen Gefahr aus."
Karim ging voraus und seine Mitverschwörer nahmen uns in die Mitte. Ich war mir nicht sicher, ob jeder von ihnen uns traute. Einige kannte ich noch von früher, manche hingegen waren mir gänzlich unbekannt. Wer von ihnen würde zögern uns zu töten, wer von ihnen nicht?
Ich verbannte jegliche Zweifel aus meinem Kopf. Ich brauchte sie. Sie waren ein Werkzeug, das ich zu nutzen gedachte. Nicht mehr. Sie würden mich nicht umbringen und falls doch, würde ich jeden einzelnen von ihnen mitreißen.
Eine Hand auf meine Schulter ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. „Du solltest deine Verbündeten nicht wie ein ausgehungertes Raubtier betrachten", raunte Rashkel mir zu und ich setzte eine neutrale Miene auf.
Leise drang mir sein Lachen ans Ohr.
„Hier sind wir." Karim blieb vor einer Wand aus Strohballen stehen.
„Was genau meinst du damit?", wagte ich zu fragen.
Karim grinste und bedeutete mir, ihm zu helfen. Gemeinsam schoben wir einen Ballen zur Seite. Unter einzelnen Halmen und einer Schicht aus Staub und Dreck wurde eine Falltür sichtbar. Karim packte den Ring und zog daran. Knarrend öffnete sich eine Luke.
Einer nach dem anderen stieg in die Dunkelheit. Zögerlich stand ich vor dem schwarzen Loch, aber ich wollte mir keine Blöße geben, also folgte ich den Assassinen kurzerhand.
Die Leiter endete in einer Gewölbekammer, die wohl einst zu Lagerungszwecken diente. Jetzt jedoch war sie leer. Ich lehnte mich an eine Wand und verschränkte die Hände vor der Brust, während ich ein Bein über das andere schlug. Skeptisch beobachtete ich, wie sich die Assassinen im Kreis aufstellten. Das alles mutete mehr als ein ominöses Ritual an, als ernsthafte geistige Produktivität.
Rashkel gesellte sich neben mich. „Sie scheinen etwas altmodisch."
„Wie wahr", murmelte ich.
Karim erhob die Stimme. „Wir haben uns diese Nacht versammelt, um weitere Pläne zum Sturz des menschenverachtenden Systems zu fassen, dem wir alle obliegen. Sad'ahad hat das Wort."
Er trat zurück und machte Platz für einen älteren Mann. Ich kannte ihn. Er war - wenn ich mich richtig erinnerte - einer der Lehrer gewesen. Eher ein Angestellter als ein wirklicher Assassine. Da ich nicht wie alle anderen Rekruten die Schulbank gedrückt hatte, konnte ich nichts über seine Persönlichkeit sagen, aber er war mir stets mehr wie ein zerstreuter Liebhaber der Wissenschaft vorgekommen, als wie ein Aufrührer. Wie sehr man sich doch in Menschen täuschen konnte.
Sad'ahad besaß eine weiche Stimme, die gar nicht zu seinem ältlichen Aussehen passte. „Danke an meinen Bruder Karim", begann er würdevoll. „Diese Nacht wird in die Geschichte eingehen. Denn diese Nacht haben wir einen besonderen Gast. Der Grund, warum wir alle hier stehen. Ohne ihn, hätte wohl niemand den Mut gehabt, das System jemals anzuzweifeln."
Obwohl niemand mich explizit vorgestellt hatte, drehten sich alle Köpfe zu mir. Ich bemühte mich, mir mein Unwohlsein nicht anmerken zu lassen. Das war nichts für mich. Alyn wäre in der Menge aufgegangen, sie hätte alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die Worte an sich gerissen und die Herzen der Assassinen berührt.
Ich hingegen blieb lieber im Hintergrund, agierte lieber unerkannt. Rashkel gab mir einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen und ich sah auf. Sad'ahad war verstummt und offenbar erwartete jeder eine Reaktion von mir. Ich hüstelte, um meine Verlegenheit zu verbergen. Dann suchte ich verzweifelt nach Worten, bis ich sie schließlich fand und holprig in meinen Mund legte.
„Ich hätte niemals gedacht, je wieder hierher zurückzukehren. Als ich damals floh, tat ich das mit der festen Absicht alles hinter mir zu lassen. Ich dachte, ich hätte einen Wandel bewirkt, in dem ich diesem Monster, zu dem ich gehörte, den Kopf abschlug. Aber ich habe mich geirrt. Viele Jahre blieb ich den Assassinen fern, bis ich bei meiner – zugegebenermaßen unfreiwilligen – Rückkehr feststellen musste, dass sich nichts geändert hatte. Ja, dass an die Spitze des Ordens gar ein noch viel schlimmerer Mann getreten war. Aber schließlich wurde ich eines Besseren belehrt. Es hat sich etwas geändert. Jetzt stehe ich hier, um mit euch das, was ich vor fast neun Jahren begonnen habe, zu beenden."
Die Assassinen jubelten und ich atmete erleichtert aus. Niemand hatte das Zittern in meiner Stimme bemerkt. Ich erläuterte ihnen mit zunehmender Sicherheit meinen Plan und keiner wagte es mich zu unterbrechen. Kaum jedoch verstummte ich, brachen sie in eine wilde Diskussion aus. Niemand beachtete mich mehr. Nur Rashkel beteiligte sich ebenfalls nicht, sondern musterte mich. „Du redest nicht gern."
Ich zuckte mit den Schultern. „Worte haben mir noch nie etwas gebracht." Wie oft hatte ich Menschen um Gnade angefleht? Nie hatte jemand sich davon umstimmen lassen. Warum also Energie verschwenden?
Rashkel gab ein Glucksen von sich, das für ihn seltsam untypisch klang. „Wenn du dich da nicht mal irrst." Dann schwiegen wir beide, während wir die heftigen Schlagabtausche verfolgten.
Schließlich hob Sad'ahad beide Hände und bedeutete seinen Mitbrüdern zu schweigen. Nach und nach verstummte das Stimmengewirr, bis eine erwartungsvolle Stille herrschte. „Wir haben uns nun damit beschäftigt und weil die Nacht fortschreitet, mögen wir nun zur Abstimmung kommen."
Aufregung durchfuhr mich. Eigentlich war es gleich, worauf sich die Assassinen einigen mochten, meine Bitte um Unterstützung war nur pro forma. Ich würde meinen Plan umsetzen, denn jeder, dem eine entscheidende Rolle zugedacht war, würde mir helfen. Diese kleine erlauchte Verbindung war nur eine nette Dreingabe. Denn was sollte es sonst sein?
„Wer dem Plan zustimmt, möge die Hand heben." Äußerlich völlig gelassen, beobachtete ich, wie einer nach dem anderen die Hand emporstreckte. Zuerst Karim und Sphen, dann andere, die ich bereits zuvor kannte. Entweder sie vertrauten auf Karim oder sie hatten eine höhere Meinung von mir, als ich erwartet hätte. Schließlich meldeten sich auch einige der Jüngeren. Am Ende seufzte Sad'ahad. „Dann soll es so sein."
Ich fragte mich unwillkürlich, für welche Seite er gestimmt hätte, wenn er nicht die Rolle des Unparteiischen übernommen hätte.
Rashkel und ich warfen uns bedeutungsvolle Blicke zu. In den letzten Tagen waren wir aneinander gewachsen und nach dutzenden von Übungskämpfen verstanden wir uns oft blind. Ich wusste genau, was er mir sagen wollte und ich stimmte ihm aus tiefstem Herzen zu: Sad'ahad war nicht zu trauen.
Nachdem auch das letzte Detail geplant war, traten Karim und Sphen auf uns zu. „Glückwunsch", gratulierte mir ersterer.
„Das war nichts", wiegelte ich ab. „In vier Tagen werden wir sehen, ob es überhaupt funktioniert."
Karim klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Du alter Schwarzseher. Du begleitest die Karawane, da kann gar nichts mehr schief gehen."
Ich war mit im Boot, das konnte er wohl sagen. Und ich würde mit ihm untergehen, sollte mein Plan schiefgehen.
„Natürlich", murmelte Rashkel beinahe unhörbar.
„Nun denn", Karim klatschte in die Hände. „Dann sollten wir mal verschwinden. Ich wünsche euch viel Erfolg."
„Warte", hielt ich ihn zurück.
Karim drehte sich um und auch Sphen blieb stehen. Kurz zögerte ich, darüber nachgrübelnd, warum der Junge so seltsam schweigend war. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Dann jedoch riss ich mich zusammen und konzentrierte mich wieder auf Karim. „Was kannst du mir zu Sad'ahad sagen? Er erschien mir immer etwas weltfremd..."
Karim wusste, was ich gedacht, aber nicht ausgesprochen hatte. „Du meinst etwas verwirrt? Nein, da täuschst du dich. Er ist ein großartiger Redner. Er ist noch nicht so lange bei uns, aber er ist mit Leidenschaft bei der Sache. Sein Hass auf das herrschende System ist brennend. Ich wollte keine Rebellion anführen und ich war dankbar, als Sad'ahad in diese Rolle hineingewachsen ist."
„Die Leute folgen aber immer noch dir."
Karim lachte. „Ach nein, ich habe nichts mehr zu sagen. Da ich aber mehr oder weniger der Ursprung des Widerstands – wenn ich uns einmal so nennen darf – also sozusagen ein, wenn nicht sogar das, Gründungsmitglied bin, geben sie noch viel auf meine Meinung. Warum interessierst du dich so sehr für ihn?"
Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie die entsprechende Person gerade eben zu uns hinüber blickte. Entschlossen schüttelte ich den Kopf. „Ach nichts."
„Dann wünsche ich uns allen viel Glück. In der Hoffnung, dass wir endlich einen Wandel bewirken können."
Ich nickte abwesend. Karim verabschiedete sich überschwänglich und gut gelaunt, aber Sphen zögerte. Er bedeutete dem anderen Assassinen, schon einmal vorauszugehen. Rashkel löste sich von meiner Seite. „Ich warte oben."
Ich seufzte. „Ihr nehmt Eure Aufgabe sehr ernst, nicht wahr?"
Er zwinkerte mir zu. „Natürlich."
Sphen schwieg, bis die beiden verschwunden waren. „Ich habe mit den beiden Frauen gesprochen", begann er langsam.
Geduldig wartete er, bis er von selbst weitersprach.
„... und da ist etwas Seltsames passiert."
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