Kapitel 68
Der nächste Morgen war noch nicht angebrochen, da stand Rashkel vor mir. Schlaftrunken blinzelte ich ihn an. Er hob eine Augenbraue und ich richtete mich auf. „Es ist mitten in der Nacht", murrte ich.
„Du hattest genug Zeit, dich auszuruhen."
„Ach wirklich?", knurrte ich.
„Bist du immer so ein Morgenmuffel oder bist du sauer, weil ich dich eingesperrt habe?"
Ich ersparte ihm die Antwort. Er lachte. „Natürlich."
Obwohl das Sofa nicht gerade das breiteste gewesen war, fühlte ich mich merkwürdig ausgeruht. Ich erhob mich und streckte meine müden Glieder. Die Ärmel des Mantels rutschten mir dabei Richtung Schultern, denn auch wenn er mir zu kurz war, hätte ich zweimal hineingepasst. Rashkels Oberarme hatten den Umfang von Baumstämmen. Ich schlüpfte aus dem warmen Kleidungsstück und er nahm es dankend entgegen. Dafür reichte er mir meine getrocknete Kleidung. Ich zog die Hose an und wollte mir das Hemd gerade überstreifen, als er mich unterbrach. „Lass mich deine Wunde ansehen."
Ich ließ die Arme wieder sinken und setzte mich an den Rand des Sofas. Vorsichtig löste er den blutbefleckten Verband. „Das ist erstaunlich", murmelte er. „Du heilst wahrlich schnell." Fasziniert strich er über den Schorf, der sich gebildet hatte. „Ich werde es trotzdem neu verbinden. Nicht, dass sie wieder aufplatzt."
Anschließend wies er auf ein frisches Tablett. „Iss. Wir haben viel vor."
Ich zog mir mein Hemd an und nahm mir etwas von der großen Auswahl an Speisen. „Wollt Ihr nicht auch etwas?", fragte ich ihn.
Rashkel lehnte mit einem Kopfschütteln ab. „Ich habe bereits gegessen."
Am Ende blieb immer noch einiges übrig, aber wenn ich auch nur einen Bissen mehr geschluckt hätte, wäre mir alles wieder hochgekommen. Rahskel wirkte etwas enttäuscht, als ich ihm erklärte, dass ich satt war, aber er sagte nichts. „Komm mit."
Angespannt erhob ich mich und folgte ihm.
Ohne den Mantel wurde mir schnell wieder kalt, aber ich biss die Zähne zusammen und erhöhte mein Tempo. Rashkel passte sich mir an, sagte aber nichts.
Stattdessen leitete er mich geradewegs zu einem der kleineren Übungsplätze. Eine winzige Arena, in denen für gewöhnlich Zweikämpfe ausgetragen wurden.
Suchend blickte ich mich um, aber abgesehen von mir und Rashkel war kein Lebewesen auszumachen. Sogar die allgegenwärtigen Käfer und Spinnen schienen noch zu schlafen. Der Innenhof war komplett von der Festung umrahmt. Ein schmales, aber hohes Tor führte zu einem weiteren Innenhof, in dessen Mitte sich der tiefe Brunnen befand. Das Tor war zugleich eine überdachte Brücke, die den Hauptteil der Feste mit dem Südturm verband. Dieser war zwar nicht der höchste, aber der schmalste, sodass es schien, als würde er sich geradewegs in den Himmel schrauben. Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Der Mond war bereits untergegangen, aber noch konnte man die millionen Sterne ausmachen, die in einem sich langsam rosa verfärbenden Teich zu schwimmen schienen.
„Steh nicht rum und träume, wärm dich auf." Rashkels spöttelnde Stimme sorgte dafür, dass ich mich eilig in Bewegung setzte. Nachdem mich der ältere Assassine einige Runden im Kreis hatte laufen lassen, stand mir der Schweiß auf der Stirn. Ich keuchte heftig und er schüttelte den Kopf. „Keine Kondition."
Anschließend machten wir einige Dehnübungen. Zumindest in dieser Hinsicht konnte ich ihn halbwegs zufriedenstellen. „Hm. Ich habe schon Grünschnäbel gesehen, die sich besser anstellen als du. Aber es muss genügen." Er ging in eine Ecke, wo er einige Waffen deponiert hatte.
Er überreichte mir ein stumpfes Übungsschwert. Skeptisch hielt ich es in der Hand und machte zögerlich ein paar Bewegungen. „Muss das sein?", fragte ich.
„Der Großmeister hat mir die Aufgabe gegeben, dich zu trainieren. Du bist auf dem Stand eines neuen Rekruten. Also müssen wir natürlich von ganz vorne beginnen."
„Ich mag vielleicht nicht mehr die Ausdauer, Kraft und Gewandtheit haben, die ich noch vor kurzem besessen habe, aber das heißt nicht, dass ich alles technische Wissen verloren habe."
Rashkel hob eine Braue. „Dann beweis es mir." Unvermittelt machte er einen Ausfall und ich konnte gerade noch parieren.
Anfangs schlug ich mich nicht schlecht, aber nach einer Weile rang ich verzweifelt nach Luft, während in meinem Sichtfeld schwarze Flecken auftauchten. Rashkel hingegen wirkte noch keineswegs angestrengt. Schließlich schlug er mir mit einer Leichtigkeit mein Schwert aus der Hand und drückte mir das seine gegen die Kehle. „Wäre dieses Schwert spitz, wärst du tot."
Ich hob in einem Zeichen der Ergebung die Hände. „Ihr... habt gewonnen." Keuchend ließ ich mich auf die Knie fallen und erbrach mein Frühstück.
Rashkel wartete geduldig und als ich mich schließlich wieder aufrichtete, reichte er mir einen Krug mit frischem Wasser. Ich blieb am Boden sitzen und trank langsam. Der Geschmack von Erbrochenen rann meine Kehle hinab und ich musste würgen.
Schließlich wusch ich mir mit dem Rest das Gesicht. Eine Strähne blonden Haares blieb tropfend an meiner Wange kleben.
Rashkel betrachtete mich von oben. Gerade als ich mich wieder halbwegs erholt fühlte, klatschte er in die Hände. „Zweite Runde."
Dieses Mal schlug er mich noch schneller. Ich schüttelte den Kopf, während ich nach Atem rang. „Ich... kann... nicht mehr", stieß ich zwischen meinen keuchenden Zügen hervor. Mir war schwindlig und Galle bannte sich ihren Weg nach oben.
„Die anderen werden bald zu trainieren beginnen. Kühl dich ab und ruhe dich etwas aus. Ich erwarte dich zur Mittagsstunde in den Stallungen."
Erstaunt über die Freiheit, die er mir gewährte, schwieg ich.
Kaum war er verschwunden, eilte ich zuerst zu den Stallungen. Beruhigt stellte ich fest, dass meine Satteltaschen, die ich in einem kurzen unbeobachteten Moment versteckt hatte, sich immer noch am selben Ort befanden. Ich wühlte darin und zog schließlich ein verschlissenes Tuch hervor. Dieses wickelte ich mir um den Kopf, sodass mein Haar bedeckt war. Dann machte ich mich auf ins Innere der Festung.
Ich hielt den Kopf gesenkt, während ich an den vielen Assassinen vorbeieilte. Die meisten von ihnen wirkten noch recht schlaftrunken und niemand beachtete mich.
Trotzdem blieb ich vorsichtig. Sollte nur einer mich erkennen, wäre mein Plan, zu Alyn und Rosena zu gelangen, gescheitert.
Ich kam am Haupteingang vorbei und traf dort zu meiner Überraschung Sphen an. Der junge Mann unterhielt sich gerade mit einem älteren Assassinen, den ich nicht kannte. Es schien sich um einen der Meister zu handeln, die stets im Hintergrund blieben. Sphen erspähte mich und entschuldigte sich kurzerhand. Dann kam er auf mich zu.
„Deine Tarnung ist grässlich", stellte er fest.
Ich runzelte die Stirn. „Es ist besser als nichts. Niemand hat mich bemerkt."
Er blickte über meine Schulter. „Bist du dir sicher?"
Ich fluchte und drehte mich um.
Karims grinsende Miene stach mir sofort ins Auge. Lässig kam er auf uns zugeschlendert.
„Kasar, Sphen. Es überrascht mich, euch beide zusammen zu sehen. Wo ist dein Aufpasser?"
Sphen erwiderte sein Lächeln, während ich mit finsterem Blick etwas murmelte. Karim hatte mich angelogen, er kannte Sphen sehr wohl. Aber warum?
„Seit wann bist du wieder da?", wandte sich Karim an Sphen.
„Ich bin gerade eben zurückgekommen, Meister."
„Auftrag ausgeführt?"
Sphen nickte und beobachtete mich aus dem Augenwinkel.
Karim bemerkte es. „Also, woher kennt ihr euch?"
„Du wirst keine Ruhe geben, nicht wahr?", seufzte ich.
Karim grinste strahlend. „Nein."
„Ich habe ihm vor einigen Jahren einmal das Leben gerettet."
„Er hat dafür gesorgt, dass ich dem Orden beigetreten bin."
Sphen und ich hatten gleichzeitig gesprochen, sodass Karim abwehrend die Hände hob. „Einer nach dem anderen. Du bist doch erst eingetreten, da war Kasar bereits...", Karim zögerte kurz. „...weg?"
Er runzelte die Stirn und ehe jemand etwas sagen konnte, hellte sich seine Miene auf. „Der verhängnisvolle letzte Auftrag. Du hast die Eltern getötet, aber von dem Kind fehlte jede Spur."
Ich zuckte mit den Schultern. „Der Kodex besagt, niemals Unschuldige zu töten. Ich habe ihn schon gebrochen, indem ich Sphens Mutter umgebracht habe. Ich konnte so nicht weitermachen."
„Der Kodex gilt schon lange nicht mehr."
„Er könnte weiterexistieren, wenn sich alle dazu bereit erklären würden, nach ihm zu leben."
Karim neigte den Kopf. „Wie wahr, wie wahr." Dann wandte er sich an mich. „Was machst du hier? Jemand könnte dich sehen."
„Bis eben bin ich davon ausgegangen, dass mich niemand beachtet hat, aber offenbar muss ich meine Ansicht revidieren", antwortete ich trocken.
„Wo ist Rashkel?"
„Nachdem er dafür gesorgt hat, dass ich mein Frühstück schnell wieder losgeworden bin, hat er mir eine Pause verordnet und ist verschwunden."
„Er hat dich allein gelassen?" Karim konnte es nicht fassen.
„Das hatten wir doch schon."
„Er hat dir eine Pause verordnet?" Sphen ebenso wenig.
„Ist das so merkwürdig?"
„Ja", antworteten die beiden unisono.
„Hört mal. Ich weiß, Rashkel hat den Ruf, ein übler Sklaventreiber zu sein und er wird dem auch gerecht. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass er kein Herz hat."
„Wir sind Assassinen, niemand von uns hat ein Herz", stellte Sphen das Offensichtliche fest.
Ich seufzte ergeben.
„Was machst du überhaupt hier?", fragte Sphen nun doch neugierig geworden.
„Eigentlich wollte ich einen kleinen Ausflug in das Höhlensystems unter uns unternehmen."
„Du willst zu deiner Geliebten?", fragte Karim. „Darauf warten sie doch nur."
„Ich weiß", entgegnete ich entnervt. „Aber ich muss die Gelegenheit ergreifen, selbst wenn es eine Falle ist. Mir läuft die Zeit davon. Bis zum großen Turnier muss ich von hier verschwunden sein."
„Das ist aber reichlich wenig Zeit."
„Wenn ich eine Wahl hätte, würde ich einen anderen Weg wählen. So bleibt mir jedoch nichts anderes übrig."
„Ich kann für dich gehen. Nachdem ich meinem Meister offiziell Bericht erstattet habe." Sphen grinste. „Ich hoffe, ich erkenne deine Freundin auch."
„Da bin ich mir sicher", entgegnete ich trocken.
Karim nickte. „Wir treffen uns heute Nacht. Bei der weinenden Göttin. Weißt du, wo das ist?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Das schon, aber Rashkel schließt mich nachts ein." Dann dämmerte mir etwas. „Warte, ihr beide..."
Sphen schenkte mir ein schuldbewusstes Lächeln.
Karim jedoch grinste. „Ja, wir gehören beide zu jenen gefährlichen Umstürzlern."
„Soll mir nur recht sein."
Ich warf einen Blick auf einen weiteren Assassinen, der geradewegs auf unser kleines Grüppchen zusteuerte. „Ich sollte besser gehen."
Wir verabschiedeten uns mit einem verschwörerischen Nicken, dann zog ich von dannen, während Karim den Neuankömmling mit einem breiten Grinsen begrüßte. „Was kann ich für dich tun?"
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen schüttelte ich innerlich den Kopf. Hätte ich nicht alles hingeschmissen, wäre das nun mein Leben. Sich um jüngere Assassinen zu kümmern. Vielleicht hätte ich sogar geheiratet und wäre nun ein Informant in Agba mit einem Haufen Kindern. Sofern es mir gestattet worden wäre. Die meisten Assassinen blieben jedoch unter sich und nur wenige schlossen den Bund fürs Leben. Das wäre vermutlich auch mein Schicksal gewesen.
Die Sonne hatte den Horizont inzwischen vollständig überschritten. Trotzdem blieb mir noch etwas Zeit. Obwohl ich seit Jahren nicht mehr im Inneren der Feste gewesen war, kannte ich mich immer noch ausgezeichnet aus. Deshalb suchte ich nun den Speisesaal auf.
Die große Halle war mit langen Bankreihen vollgestellt, die nur von wenigen Männern besetzt waren. Der Großteil hatte bereits gespeist und darüber war ich froh. Kaum jemand sah auf, während ich an ihnen vorbeimarschierte. Ein Hochgefühl überkam mich, als ich feststellte, dass das Tuch um meinen Kopf besser tarnte, als Karim und Sphen es hatten aussehen lassen. Ich passierte die letzte Bankreihe und steckte meinen Kopf durch einen Bogen. Einst hatte es dazu wohl auch eine Tür gegeben, aber offenbar war diese bereits seit Langem vermodert, denn ich konnte mich nicht erinnern, dass mich dort jemals etwas davon abgehalten hatte, in die Küche zu spazieren.
Mein Magen knurrte, als der Duft nach frisch Gebackenem in meine Nase drang. Ich stieg die wenigen Stufen hinab, über die mehrmals täglich Unmengen an Essen transportiert wurden.
Das geschäftige Klappern von Besteck und Töpfen weckte in mir eine fast sehnsüchtige Vertrautheit. Vorsichtig kam ich näher und beobachtete Chandri etwas. Die einzige weibliche Bewohnerin der Feste versorgte die Assassinen bereits seit Jahren mit gutem Essen. Die konservativen Skara waren der festen Überzeugung, dass nur Frauen gut backen konnten. Diese Ansicht rührte vermutlich eher von der Bequemlichkeit vonseiten der männlichen Bewohnerschaft her als von stichhaltigen Beweisen. Denn obwohl man in Schenken von Männern bekocht wurde, waren Bäckereien das einzige Gewerbe, das nur von Frauen geführt wurde. Niemand schien sich daran zu stören und wenn Ausländer über diese seltsame Aufteilung lachten, wurde dies von den Skara mit einem lässigen Schulterzucken hingenommen.
Bald würden die Scharen an persönlichen Sklaven kommen und die anderen Köche, um das Mittagessen vorzubereiten. Ich wusste jedoch, wie sehr Chandri die Stille zwischen den großen Mahlzeiten genoss.
Ich räusperte mich dezent und ihr Kopf fuhr herum. Nacheinander konnte man die verschiedensten Emotionen von ihrem Gesicht ablesen: Verwirrung, Überraschung, Unglaube und Freude. Ein breites Lächeln zog ihre Lippen auseinander und gab den Blick auf ihre schiefen, aber weißen Zähne frei. Sie strich sich über die schweißige Stirn und hinterließ einen breiten weißen Streifen. Dann wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab und kam auf mich zu.
„Andrée, Junge, bist du es wirklich?"
Sie umarmte mich und drückte mit einen breiten Kuss auf die Wange. Kaum ließ sie mich los, rieb ich mir verlegen dieselbe Stelle. „Du sollst mich nicht so nennen. Diesen Namen trage ich schon lange nicht mehr."
Chandri lachte nur und ihr zu einem langen Zopf geflochtenes Haar wippte fröhlich hin und her. „Deine Eltern haben dich so genannt und das ist das Einzige, was zählt."
„Meine Eltern sind seit über zwanzig Jahren tot", entgegnete ich geduldig. Diese Diskussion führte ich nicht zum ersten Mal mit ihr.
Auch dieses Mal zeigte sie sich uneinsichtig. „Du solltest ihr Andenken mit Stolz bewahren."
„Ich denke nicht, dass sie Grund hätten, stolz auf mich zu sein", erwiderte ich bitter. „Sie waren rechtschaffende Menschen und ich bin das Gegenteil."
Chandri drückte mich erneut. „Ach, Junge. Du bist so viel besser als dieser Haufen da draußen. Als ich gehört habe, dass du entkommen bist, musste ich mich arg zusammenreißen, meine Freude nicht zu sehr zu zeigen. Du hast es geschafft, all das hinter dir zu lassen." Dann runzelte sie die Stirn. „Warum bist du wieder hier?"
Ich seufzte und berichtete ihr die ganze Geschichte. Chandri unterbrach mich nicht, sondern lauschte geduldig. „Ach, Junge. Das ist übel. Hier, nimm was von meinen frisch gebackenen Törtchen."
Damit brachte sie mich zum Lachen. Chandri war - ähnlich wie Amina - für mich das, was einer Mutter am nächsten kam und sie hatte mich noch stets aufgemuntert, indem sie mir etwas Selbstgebackenes zusteckte. So beliebt sie wegen ihrer Waren war, so bekannt war sie auch für die Leibesfülle, die sie durch ihre ständigen Naschereien bekommen hatte. Für Chandri ließen sich alle Probleme der Welt mit einem Stück Kuchen oder Ähnlichem beseitigen.
Für eine Weile gab ich mich der Illusion hin, sie habe recht. Ich blieb auf der gemütlichen Eckbank sitzen, die von Chandri mit Liebe gepflegt wurde, sodass sie immer noch wie neu wirkte und stopfte mich mit Süßwaren voll. Chandri berichtete mir von dem neuesten Klatsch in der Feste. Die Sklaven wurden zwar von allen ignoriert, sie selbst jedoch hatten ihre Ohren und Augen überall und jeder von ihnen war zu gern bereit, etwas im Austausch für ein paar Leckereien auszuplaudern. So wusste die Bäckerin nahezu alles.
Ich lauschte andächtig, als sie auf die rebellischen Umwälzungen innerhalb des Ordens zu sprechen kam. „Immer mehr Assassinen sind mit dem bestehenden System unzufrieden. Sie erkennen, dass der Kodex schon lange nicht mehr gilt und es nur noch um Macht geht. Du kannst stolz auf dich sein."
Irritiert hielt ich inmitten einer Abbeißbewegung inne, den Mund halb voll mit Creme. „Wie meinst du das?"
„Ach, Junge, deine Flucht hat das alles ausgelöst. Du bist das große Vorbild. Der lebende Beweis, dass es möglich ist, dem Großmeister und seinen Anhängern zu trotzen."
„Und ich dachte immer, ich wäre die Idealisierung eines Feindbildes."
„Für einen Teil bist du das auch. Für andere hingegen - nun, sie verehren dich als Helden."
Ich musste lachen. „Das ist absurd." Seit ich in die Schattenfeste zurückgekehrt war, schien ich dieses Wort besonders oft zu gebrauchen.
„Das finde ich nicht. Du hast etwas an dir, das andere bewundern. Du wärst ein geborener Anführer, wenn du nur wolltest. Die Leute wollen dir folgen."
„Ich glaube, du hast da was missverstanden. Die meisten wollen mich tot sehen. Wenn ich etwas an mir habe, dann sorgt es dafür, dass man mich töten will."
„Du spaltest die Menschen."
„Ich polarisiere sie?"
Sie schnaubte nur. „Offenbar trinkst du noch immer Klugheit aus dem Kessel. Ja, die Menschen lieben dich oder sie hassen dich, weil sie neidisch sind. Kein Mann ist frei von einem Schatten."
Obwohl ich unwillkürlich mit dem Kopf schütteln musste, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Seit wann bist du unter die Philosophen gegangen? Wo ist die pragmatische Chandri, die ich so gut kenne?" Auch Karim hatte etwas Ähnliches gesagt.
Die Bäckerin zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist sie mit dir verschwunden."
Mit diesen Worten wischte sie mir das Lächeln vom Gesicht. „Ich denke, ich sollte besser gehen."
„Ach, Junge, du bist immer noch derselbe. Renn nicht immer vor der Wahrheit davon." Chandri reichte mir ein kleines Bündel. „Nimm das mit. Du bist so ein Hungerhaken, solltest wirklich mehr essen. Wenn ich mich nicht kümmere..." Sie murmelte etwas, aber ich hörte sowieso nicht mehr zu. Stattdessen schwankte ich zwischen Nachdenklichkeit und lodernder Wut. Sie hatte doch keine Ahnung. Ich rannte nicht weg. Ich war noch nie davongerannt, oder doch? Hatte ich bisher nicht stets die Flucht ergriffen?
Immer noch in Gedanken versunken, verabschiedete ich mich von Chandri und machte mich auf den Weg in die Stallungen.
Das frische Gebäck strahlte Hitze ab, von der meine Hand ganz warm wurde. Die Assassinen, denen ich begegnete, beachteten mich nicht besonders. Keiner von ihnen warf mir auch nur einen zweiten Blick zu. Entweder ihre Beobachtungskraft hatte nachgelassen oder meine Anwesenheit hatte sich noch nicht herumgesprochen.
Was auch immer der Grund war – ich war froh, dass es ihn gab.
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