Kapitel 64
Das flackernde Licht sorgte für tiefe Schatten im Gesicht des Wächters, während er mit stoischer Miene neben mir her lief. Sein Schlüsselbund klapperte verheißungsvoll bei jedem Schritt und ich konnte es mir nicht verkneifen, ab und an in die entsprechende Richtung zu schielen.
Die Wachen hinter uns behielten mich genau im Blick, sodass es mir kaum gelingen würde, die Schlüssel in einem unbeachteten Moment zu stehlen.
Die Gänge waren zwar kühl, aber die Luft war stickig. In den Tiefen der Felsenfeste, unterhalb der Erdoberfläche, tat sich ein Gewirr an Höhlen auf. Vor langer Zeit hatte jemand die Idee gehabt, die einzelnen Kammern mit Eisenstäben abzutrennen. Das Ganze ergab ein ideales Gefängnis, in das die Assassinen seit jeher ihre Gegner brachten, sofern diese nicht getötet worden waren.
Ich fröstelte. Es war still. Nur unsere Schritte und das Rascheln unserer Kleidung waren zu hören, vermischt mit dem Klappern der Rüstung und dem verlockenden Klang des Schlüsselbundes. Die meisten Zellen, an denen wir vorbeikamen, waren leer. Inzwischen lag den Assassinen nur noch wenig daran, jemanden gefangen zu nehmen. Allein die weitreichenden Arme des Ordens, die jeden vernichteten, der ihnen in die Quere kam, genügten als Abschreckung.
Ein Stein, der von einem der Wächter gegen die Wand gekickt wurde, prallte am nackten Fels ab und riss dabei eine kleine Lawine an Dreck und Steinchen mit sich.
„Das Ganze hier scheint mir ziemlich marode", hörte ich mich selbst sagen.
Der Wächter neben mir zuckte mit den Schultern. „Die Feste steht seit Jahrhunderten und das wird sie auch in den nächsten tausend Jahren tun."
Ich schnaubte. „Das ist bar jeglicher Logik."
Verärgert blieb der Wächter stehen und drehte sich zu mir um. „Wie kannst du es wagen, dein Maul so weit aufzureißen? Weißt du denn nicht, wo du dich hier befindest? Wir könnten dich alle hier in nur einer Sekunde töten. Das Einzige, was uns daran hindert, ist der Befehl des Großmeisters. Aber bilde dir nicht zu viel darauf ein. Er liebt nur sich selbst."
Wie wahr, dachte ich mir im Stillen. Äußerlich zuckte ich nur mit den Schultern. Der Wächter gehörte anscheinend zu jenen, die von der Führungsriege der Assassinen vollständig indoktriniert worden waren. Es hatte keinen Sinn zu diskutieren und letzten Endes saß ich tatsächlich am kürzen Hebel, denn gegen so viele zum Töten ausgebildete Männer hatte ich keine Chance.
Der Wächter setzte sich wieder in Bewegung, während er höhnisch vor sich hin lachte. Er schien offenbar zu denken, mich mit Worten geschlagen zu haben.
An einer abgelegenen Zelle blieben wir stehen. Ich starrte in die Finsternis dahinter. „Senn?" Eine leise Stimme ertönte aus der Dunkelheit und ich trat näher an das Gitter. Mit beiden Händen umklammerte ich es, während ich die beiden Schatten angstvoll anstarrte. Einer von ihnen näherte sich mir. Alyns Gesicht war dreckverschmiert und ihre schönen Haare waren so verfilzt, dass sie sich um ihr Gesicht bauschten. Auch wenn tiefe Ringe unter ihren sonst so strahlenden Augen lagen, überkam mich Erleichterung. Sie schien unverletzt.
Der Wächter mit dem Schlüsselbund entriegelte die Tür und bedeutete mir mit einer Geste hineinzugehen. Denn das war die Bedingung, die ich beim Großmeister durchsetzen konnte: Ein wenig Zeit mit Rosena und Alyn allein, damit ich mich vergewissern konnte, dass es ihnen gut ging. Dass ich mich dafür ebenso einsperren lassen musste, war ein verhältnismäßig geringer Preis.
Die Wachen entfernten sich und mit ihnen das wenige Licht. „Oh Senn, du hättest nicht hierherkommen dürfen", ertönte Alyns Stimme, als die Schritte der Männer in der Ferne verklungen waren.
Eine geisterhafte Flamme erschien aus dem Nichts und erhellte den Raum. Alyn setzte sich auf den Boden, während die Flamme weiterhin in der Luft schwebte. Rosena trat nun ebenfalls näher und nahm neben Alyn Platz.
Ich räusperte mich. „Hör mal, Alyn. Es... tut mir leid. Ich hätte dich nicht so anfahren sollen. Ich hatte Angst... und..."
Alyn unterbrach mich und bedeutete mir, mich zu setzen. Zögernd gehorchte ich. Zu meiner Überraschung war der Fels angenehm warm. Alyn bemerkte mein Erstaunen. „Rosena friert so leicht."
Ich warf einen Blick auf die junge Frau. Sie war immer noch sehr blass. Im Gegensatz zu meiner und Alyns Haut, hatte sich die ihre nicht braun verfärbt.
„Was hast du getan?", fragte Alyn unvermittelt.
„Wie...?" Ihre abrupten Themenwechsel irritierten mich noch immer.
„Was hast du getan, dass Rosena und ich am helllichten Tag von irgendwelchen ominösen Gestalten überwältigt und verschleppt werden? Obwohl wir inmitten einer belebten Gasse waren. Warum hat niemand eingegriffen? Wo sind wir hier? Die Männer meinten, du wärst..." Sie stockte kurz und sprach es dann leise aus. „... ein Sklave."
„Du wolltest die Wahrheit wissen, nicht? Die Wahrheit über meine Vergangenheit." Die Worte kamen mir nur schwer über die Lippen. Alyn und Rosena schwiegen, aber ihre Spannung konnte man fast fühlen. „Ich habe dir doch erzählt, dass ich bei meinem Onkel aufgewachsen bin. Nun, es war nicht so, wie du es dir vielleicht vorstellst. Er hat mich gehasst. Aus tiefstem Herzen. Er hatte meiner Mutter ihren Erfolg missgönnt, ihr Talent und ihre Beliebtheit. Kaum war mein Vater gestorben, hat er alles an sich gerissen. Er war schon damals ein leidenschaftlicher Unterstützer der Oberen und besonders mit dem Oberen Magier gut bekannt. Kenthar hatte geglaubt, ich habe die Fähigkeiten meiner Mutter geerbt. Sie wussten damals nicht ganz, wie die Magie der Edelsteine funktioniert. Deshalb..."
Ausnahmsweise war es Rosena, die mich unterbrach. „Bedeutet das, dass deine Mutter ein Edelstein gewesen ist?"
Ich seufzte. „Ja."
„Das wusste ich nicht", meinte Rosena betreten.
„Es ist lange her. Sie ist seit über zwanzig Jahren tot."
„Welche... Farbe hatte sie?" Rosena schien verlegen.
„Ich weiß es nicht sicher."
Alyn runzelte die Stirn. „Wie kannst du das nicht wissen?"
„Ich war vier Jahre alt, als sie starb", entgegnete ich hitzig. „Danach wurden sämtliche Werke, die von den Edelsteinen berichten, verbrannt oder anderweitig entsorgt. Ich weiß ihren Namen nicht sicher. Meine Familie wurde vollständig ausgelöscht und mein Onkel weigerte sich, jemals über seine verräterische Schwester zu sprechen. Alles, was ich habe, sind verschwommene Erinnerungen, von denen ich mir teilweise nicht sicher bin, ob sie nicht meiner Fantasie entsprungen sind. Nicht einmal im Archiv konnte ich etwas entdecken."
„Entschuldige", murmelte Alyn.
„Es war eine berechtigte Frage. Ich bin einfach etwas unter Druck", meinte ich wesentlich ruhiger. „Ich glaube, sie nannte sich Jade. Ein schöner grüner Stein. Wie dem auch sei – Kenthar glaubte damals, bei mir könne es sich ebenfalls um einen Edelstein handeln. Er wollte mich für seine Zwecke einspannen, deshalb überredete er meinen Onkel, mich nicht zu töten und stattdessen in allem zu unterrichten, was er für wichtig erachtete.
Beide Frauen schienen an meinen Lippen zu hängen, also räusperte ich mich und fuhr fort. „Jedenfalls hat er mir zwar die beste Ausbildung ermöglicht, die ein Kind in diesen Zeiten haben konnte, aber zugleich war ich für ihn nicht mehr als ein niederer Dienstbote. Ich besaß nicht einmal ein eigenes Zimmer und während meiner Freizeit musste ich Arbeiten ausführen, die mein Onkel mir auftrug. Des Nachts lernte ich für den nächsten Tag, auch wenn mir zu oft die Augen dabei zufielen. Mein Onkel konnte sehr..." Ich zögerte, die Worte kamen mir nicht über die Lippen. „...überzeugend sein."
„Er hat dich geschlagen?", formulierte Alyn meine Worte um und ich nickte langsam.
„Er hat mich verabscheut. Ich war für ihn eine Gefahr. All der Reichtum, den er durch den Tod meiner Mutter erworben hatte, wäre verloren, sollte ich das Alter von zwölf Jahren erreichen. Denn dann wäre ich der legitime Erbe. Bis dahin blieb er mein Vormund. Vielleicht hat er aber auch einfach in mir meine Eltern gesehen. Den Grund für seinen Hass habe ich nie erfahren."
„Er ist tot?", fragte Rosena zaghaft.
Ich lächelte grimmig. „Oh ja, er ist nicht alt geworden."
„Du hast ihn getötet", stellte Alyn fest.
„Sobald ich die Gelegenheit dazu hatte." Einer der wenigen Morde, die ich nie bereut hatte.
Die Fackel flackerte und ich lauschte in die Dunkelheit. Nichts war zu hören. Trotzdem wusste ich nicht, wie viel Zeit mir noch blieb, ehe die Wachen wiederkamen.
Bevor ich mich in die Dienste der Assassinen stellte, wollte ich, dass Alyn die vollständige Wahrheit erfuhr, deshalb sprach ich hastig weiter. „In meinen Augen war mein Onkel der Grund allen Übels und seine Freunde waren automatisch meine Feinde. Kenthar kam oft zu Besuch, war nett zu mir und schmeichelte mir. Er brachte mir sogar manchmal Naschwerk mit. Ich konnte ihn dennoch nicht ausstehen. Wer weiß, vielleicht wäre ich nicht hier, wenn ich ihm vertraut hätte. Er bildete sich wohl ein, ein Kind sei leicht auf seine Seite zu ziehen, aber offenbar hat er den Instinkt eines Kindes unterschätzt. Jedenfalls log ich ihm jedes Mal ins Gesicht. Jahrelang, bis ich meinen zehnten Geburtstag hatte. Sie konnten es kaum erwarten, mich zu prüfen und ich sehe noch heute ihre enttäuschten Gesichter vor mir, als feststand, dass ich nicht einmal ein Fitzelchen Magie in mir trug. Noch am selben Tag hat mein Onkel mich an einen Sklavenhändler verkauft."
„Ein Sklavenhändler? Das ist ja noch schlimmer als der Tod!", gab Alyn entsetzt von sich.
Ich seufzte. „Mein Onkel wollte mich auch töten. Aber der Zufall hat mich gerettet. Ich bin vor ihm geflohen, als er mit dem Messer auf mich zukam. Übrigens ein Hackbeil. Die einzige Waffe, die ich niemals in der Hand gehalten habe." Ich riss mich aus meinem kurzen Anfall von Schwermut und verdrängte die unangenehmen Erinnerungen.
„Ich rannte aus dem Haus und einfach ohne Sinn und Verstand durch die Straßen. Mein Onkel folgte mir jedoch und trotz seiner Leibesfülle blieb er mir auf den Fersen. Offenbar gab ihm sein Hass gegen mich ungeahnte Ausdauer. In einer nichtssagenden Gasse prallte ich schließlich gegen einen großen Mann. Bevor ich weiterlaufen konnte, packte er mich am Kragen und hielt mich fest, bis mein Onkel uns erreicht hatte. In diesem Moment habe ich mich so hilflos wie noch niemals zuvor gefühlt."
Alyn streckte die Hand aus und ergriff die meine. Ihre Hände waren so kühl wie immer und ich klammerte mich daran fest, während ich innerlich diesen Tag nochmal durchlebte.
Meine dürren Hände griffen durch die Luft, auf der Suche nach unsichtbaren Objekten, an denen ich mich festhalten konnte. Die Hand in meinem Nacken war schweißig und gehörte zu einem stinkenden Körper. „Lass mich los", schrie ich und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der Mann lachte dreckig. „Vor wem rennst du davon? Vor den Wachen?"
Ich trat ihn, aber er hielt mich trotzdem eisern umklammert. „Sag mir, bist du ein Straßenkind?"
Ich mochte den Mann nicht. Er war mir zuwider, aber die Angst vor meinem Onkel ließ mich innehalten. „Wenn du mich loslässt, sag ich's dir", brachte ich mit zittriger Stimme hervor.
Der Mann lachte wieder. „Dich loslassen? Ich denke nicht im Traum daran. Du gehörst mir."
Seine Worte formten meinen Magen zu einem Bleiklumpen, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstand, was genau er damit sagen wollte. „Bitte, Herr", flehte ich.
Dann hielt ich erstarrt inne. Sogar das Atmen vergaß ich. Mein Onkel kam näher, wie ein wildgewordener Stier durchbrach er sämtliche Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten. „Da... bist... du... ja", keuchte er und ich konnte die Schweißtropfen auf seiner Stirn sehen. Das riesige Messer funkelte gefährlich und jagte mir einen Schauder über den Rücken. Ich schluckte und unternahm einen letzten Versuch, mich loszuwinden. „Ist dieser Junge der Eure?", fragte der fremde Mann mit dem eigenartigen Akzent.
Mein verhasster Vormund nickte. „Gebt ihn her. Er hat eine Lektion verdient."
Der Griff um meinen Kragen wurde fester, sodass dieser mir die Luft abzuschnüren drohte. Ich ächzte. „Ich hätte da einen Vorschlag", ließ der Fremde verlauten.
„Ich habe keine Zeit für so einen Unsinn." Mein Onkel klang ungehalten und er trat einen weiteren Schritt näher, wobei er wie wild mit dem großen Messer herumfuchtelte.
Der andere Mann blieb die Ruhe selbst. „Ich hätte Interesse an dem Jungen. Ich sehe, Ihr wollt ihn nicht mehr. Nun, es würde sich für Euch lohnen."
Mein Onkel hielt inne und kratzte sich am Kopf, sodass seine weiße Perücke verrutschte. „Inwiefern lohnen?", fragte er eifrig. Mir wurde schlecht. Was ging hier vor sich?
Der Fremde zuckte mit den Schultern. „Zwanzig Goldtaler." Völlig perplex öffnete ich den Mund. Ein Pferd kostete ungefähr drei Goldtaler. So viel Geld hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Dann fiel mir wieder ein, dass die beiden über mich redeten und ich trat um mich. Der Fremde jedoch war von solch imposanter Größe, dass ich nicht an ihn herankam. Vor allem, weil ich für einen Jungen meines Alters recht klein gewachsen war.
„Dreißig", erwiderte mein Onkel mit gierigem Blick.
„Lass mich los", flehte ich den Mann, der mich festhielt, an.
„Fünfundzwanzig", war jedoch alles, was aus seinem Mund kam.
Tränen traten mir in die Augen, die ich zornig wegwischte. Meine Mama hatte immer gesagt, ich solle stark sein und dass die Tapferen und Gerechten am Ende belohnt werden würden. Ich konnte mich nicht an diese Worte erinnern, aber mein Onkel hatte sie immer wieder hämisch ausgespuckt und in den Dreck gezogen, sodass ich an ihnen umso mehr festhielt.
„Siebenundzwanzig. Mein letztes Wort. Er gehört zu mir." Die Gier schien in seinen Augen.
Der Fremde überlegte. Dann lachte er. „Einverstanden." Ohne seinen Griff auch nur einen Moment zu lockern, kramte er mit der anderen Hand in seinem Beutel und schnipste meinem Onkel nachlässig einige Münzen vor die Nase. Die Goldstücke flogen in den Dreck und blieben dort liegen. Mein Onkel stürzte sich auf sie und er bot eine reichlich Mitleid erregender Kreatur ab, wie er dort auf den Knien lag und nach den Goldstücken grub, ohne dass er sich um die Schlammspritzer scherte, die ihn bald von oben bis unten durchzogen.
Der Fremde schnaubte abfällig, dann setzte er sich in Bewegung und zog mich einfach am Kragen hinter sich her. Ich versuchte verzweifelt wieder auf die Beinen zu kommen, aber es gelang mir nicht. Ich schrie um Hilfe, während ich mit beiden Händen meinen Kragen umfasste, in der Hoffnung, ihn so von meinem Hals fernzuhalten.
Die Leute um uns herum musterten mich entweder mit gleichgültigen Blicken oder sie drehten den Kopf weg. Es war nichts Ungewöhnliches daran, dass Kinder durch die Straßen gezerrt wurden.
Niemand kümmerte sich darum. Die meisten Menschen hatten ihre eigenen Probleme. Existenziellere Dinge, wie zu überleben.
Der Fremde blieb vor einem Karren stehen, aus dem Wimmern drang. Der Maulesel, der vor das Gefährt gespannt war, musterte uns mit Desinteresse.
Ein anderer Mann kam um eine Häuserecke gebogen. „Meister, der rothaarige Bursche macht wieder Ärger."
Der Griff um meinen Kragen wurde fester. „Hol ihn her. Dann sieht unser Neuzugang gleich, wie der Hase läuft."
Der andere nickte eifrig, sodass sein wilder Schopf verrutschte und eine Glatze darunter zum Vorschein brachte. Verlegen rückte er die Perücke wieder zurecht und grinste seinen Herrn an. Seine Zähne waren nur noch braun verfärbte Stummel, die ein Gefühl der Übelkeit in mir heraufbeschworen. Ich zitterte.
Mit einem Ächzen öffnete der Handlanger den Käfig, denn um nichts anderes handelte es sich bei dem Karren. „Komm schon raus, du Mistbalg."
Als er wieder herauskroch, hielt er einen Jungen gepackt, der nicht älter schien, als ich es damals selbst war. Der hässliche Mann zog ihn mit sich und band ihn an einer Eisenstange fest. Der Junge verzog trotzig das Gesicht und ich bewunderte seinen Mut.
„Halt den hier fest. Und lass ihn ja nicht los. Er soll alles sehen." Wie ein Stück Vieh wurde ich von einer Hand in die nächste gereicht.
Der Junge spuckte aus. „Der Tod soll dich holen", beschimpfte er den Anführer. Dieser lachte jedoch nur und entrollte eine lange Peitsche.
Er schlug zu und der Junge begann zu schreien. Wieder kamen mir die Tränen, ohne dass ich sie davon hätte abhalten können. Ich wollte mir mit den Händen die Augen zuhalten, aber der hässliche Kerl presste mir die Arme an meinen Körper und hielt mich eisern umklammert. Obwohl mich die Gräueltat vor meinen Augen gebannt hielt, stach mir sein ranziger Geruch nach altem Schweiß in die Nase. Ich musste würgen und übergab mich auf meine Schuhe, während Tränen und Rotz von meiner Nasenspitze tropften. Der fremde Junge verstummte abrupt und ich sah auf. Leblos hing er an dem Pfahl.
Der Mann, der mich festhielt, hatte seinen Griff gelockert, als ich mich erbrochen hatte, sodass ich mich losreißen konnte. Ich stürmte zu dem Rothaarigen und ging vor ihm in die Knie. Sein Rücken war eine einzige fleischige Masse, die Stofffetzen, die der Peitsche entkommen waren, waren blutdurchtränkt. „Was habt Ihr getan?", rief ich aus.
„Ich bin Sklavenhändler. Das ist meine Arbeit und ihr seid nicht mehr als Vieh. Mit Vieh kann man nicht reden, man muss seine Überlegenheit auf andere Weise deutlich machen. Merk dir das für die Zukunft und wir werden gut miteinander auskommen. Und jetzt gehen wir auf eine lange Reise zu deinem zukünftigen Herrn."
In diesem Moment zerbrach meine kindliche Illusion, dass es außerhalb des Umfelds meines Onkels keine bösen Menschen gab. Mama du hast falsch gelegen, dachte ich mir im Stillen. Die Stimme meines Onkels war immer von Abscheu verfärbt gewesen, wenn er vom Glauben meiner Mutter an das Gute im Menschen berichtet hatte. Ich hatte immer gedacht, er wolle sie nur schlecht machen, dabei hatte er in dieser Hinsicht recht gehabt. Menschen waren alle schlecht.
Ich atmete schwer und mein ganzer Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt.
Alyn und Rosena tauschten angespannte Blicke.
Ich bemühte mich um ein Lächeln, aber ich merkte, wie es sich zu einer Grimasse verzerrte. „Das habt ihr wohl nicht erwartet."
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