Kapitel 63

„Papa, Papa, er wacht auf." Eine Mädchenstimme ließ ihn verwirrt blinzeln. In dem Raum, in dem er sich befand, war er noch nie zuvor gewesen. Verschowmmen erkannte er ein breites Bett, cremefarbene Wände und Möbel aus Walnuss. Das Mädchen, das ihn mit großen Augen musterte, kam ihm dafür vage bekannt vor.

Als ein älterer Mann hinter ihr zum Vorschein kam, erinnerte sich Davide wieder. Sie war die Tochter des Grafen.

Langsam richtete er sich auf. „Wo bin ich hier?", fragte er. Seine Nase pochte und er hob die Hand, um sie zu berühren.

„Lasst das", sagte der Graf von Verdun. Davide ließ seine Hand wieder sinken.

„Annie, sieh doch mal, ob du deiner Mutter helfen kannst."

Das Mädchen protestierte. „Du willst mich doch nur loswerden."

„Annie", warnte der Graf sie.

Verärgert verließ das Mädchen das Zimmer.

„Eure Nase war gebrochen. Ich habe sie gerichtet. Sonst wäre der Knorpel falsch zusammengewachsen." Er holte einen Stuhl, der unter einem Tisch in der Ecke stand und setzte sich ans Bett. „Hier." Er reichte Davide seine Brille, die dieser dankbar auf seine noch immer empfindliche Nase setze.

„Wollt Ihr etwas essen?", fragte er freundlich.

Davides Magen beantwortete die Frage mit einem eindeutigen Ja.

Der Graf erhob sich und rief zur Tür hinaus. Dann setzte er sich wieder. „Was ist passiert? Ihr glaubt nicht, wie überrascht ich war, als auf einmal eine aufgeregte Eugenia von Hafberg vor meiner Tür stand und etwas von einem Bewusstlosen aus der Kanalisation sprach, der meinen Namen genannt hatte."

Stockend berichtete Davide von seinem Ausflug nach Grünbach und ihrer Rückkehr.

„Ich würde sagen, Marik hat euch betrogen."

Davide nickte. „Er war der Einzige, der von unserer Rückkehr wusste." Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Fuchs wird es gewiss wurmen, dass sein Bekannter ihn verraten hat und nicht Ihr." Dann umschattete die Erinnerung seine Miene.

Es klopfte und Sylvie trat ein, gefolgt von ihren beiden Kindern. Sie trug ein Tablett in den Händen.

„Habt Ihr immer noch einen Engpass an Dienstboten?"

Sylvie lächelte gezwungen. „Kann man wohl sagen." Sie stellte das Tablett vor Davide ab. „Kinder, geht doch mal spielen, ich komme nachher nach."

Beide schienen nicht begeistert, aber waren zu gut erzogen, um ernsthaft zu protestieren.

Davide musste lächeln, als er die Auswahl an Speisen in Augenschein nahm. Wäre seine Nase nicht so verstopft gewesen, hätte er sicher einen verführerischen Duft wahrgenommen. Während er aß, weihte Graf Alastair seine Frau in die Geschehnisse ein.

„Was habt Ihr in Grünbach gemacht?", fragte Sylvie.

„Ich habe einen Freund aufgesucht. Ursprünglich wollte ich schon eher zurückkehren. Aber er lag im Sterben und..." Davide verstummte. Auf einmal schien seine Stimme zu versagen.

„Mein Beileid", sagte Sylvie.

„Danke."

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.

Davide durchbrach es, indem er sich räusperte. „Ich habe einiges herausgefunden."

Der Graf richtete sich auf. „Ich auch."

„Es gab einst einen Edelstein, der immun gegen Magie war. Mein Freund vermutete, dass es den Oberen mithilfe eines ähnlichen Zaubers gelang, die Edelsteine zu besiegen. Sagt Euch das etwas?"

Der ältere Mann überlegte. „Nein, ich wusste nicht einmal, dass so etwas möglich ist", gestand er schließlich. „Es tut mir leid."

Sylvie legte eine Hand auf seine Schulter. Sanft begann sie ihn zu massieren. „Gräme dich nicht. Vielleicht finden wir etwas in den alten Schriften deines Urgroßvaters."

„Die Edelsteine können die Oberen also nicht stürzen, solange der Zauber nicht aufgehoben wird?"

„Wenn er denn noch nicht seine Wirkung verloren hat", ergänzte Davide. „Ihr seid ein Le'Hag. Ihr solltet am besten wissen, wie sich die Oberen schützen."

„Die Oberen vertrauen niemanden. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie untereinander auch einige Differenzen hegen. Ich kann versuchen, mich umzuhören, aber erwartet nicht zu viel."

Davide trank sein Glas leer und stellte das Tablett beiseite. Sylvie nahm es in Empfang. „Ich werde nach den Kindern sehen", verkündete sie.

Ihr Mann wandte sich an Davide. „Ich konnte den ehemaligen Palastverwalter ausfindig machen. Er schuftet in einer der Minen. Lange wird er wohl nicht mehr leben. Die Jahre in der Perdille haben ihn geschwächt."

„Was werdet Ihr dagegen unternehmen?"

Er zögerte. „Nichts", sagte er schließlich. „Ich kann nichts tun. Das Einzige, was in meiner Macht steht, ist, es dem Jungen zu sagen. Wenn er mir denn zuhört. Die Auspeitschung von Kurtis hat ihm zumindest nicht gefallen. Das bedeutet, dass noch nicht alles verloren ist."

„Kurtis?"

„Der Graf von Winterau. Er ist seinem Vater nicht sehr ähnlich. Hilft seinen Leuten über den Side zu fliehen."

„Ich habe davon gehört, wusste aber nicht, dass es tatsächlich der Wahrheit entspricht."

„Er ist ein guter Kerl. Ich wollte Mathis wegschicken. Aber ich war zu spät."

Zuerst wusste Davide nicht, wovon Graf Alastair sprach. Der abrupte Themenwechsel verwirrte ihn, dann jedoch erinnerte er sich an den Schützling des Mannes. „Was ist mit ihm?", fragte er.

Sein Gegenüber seufzte. „Eingezogen. Wie die meisten Männer."

Er erhob sich und begann auf und ab zu wandern. Dann hielt er inne und drehte sich langsam zu Davide. „Ich habe mit dem Meistermörder gesprochen."

„Ist Senn wieder zurück?", fragte Davide verdutzt.

„Nein, mithilfe eines aufwendigen Zaubers. Die Details sind nicht weiter von Belang. Er befindet sich in Skaramesch und ihm ist es gelungen, einen weiteren Edelstein aufzufinden. Sie kann Wasser kontrollieren."

„Eine sehr mächtige Fähigkeit."

„In der Tat. Ich konnte ihm von den beiden Prinzen berichten. Er hat sich überraschend bedeckt gehalten. Meinte, es wäre nicht seine Aufgabe auch noch einen König zu finden. Aber er hat die Theorie geäußert, dass es sich bei dem ominösen zweiten Prinzen um den Vater von Timo handeln könnte."

Diese Theorie ergab erstaunlich viel Sinn. „Er ist nicht dumm", murmelte Davide. Dann fiel ihm jedoch etwas anderes ein, was von wesentlich größerer Bedeutung war. Er richtete sich auf, alle Erschöpfung wie weggeblassen. „Mein Freund...", wieder versagte ihm die Stimme, als er an Luipold dachte. „Er hat mir etwas Wichtiges verraten. Er meinte, es gäbe zwei Menschen, die wissen, wohin Prinz Elias verschwunden ist."

„Wer?"

„Der eine ist der Leibwächter. Ich kenne seinen Namen nicht. Der andere jedoch ist der Herzog von Sarkand."

„Alyns Vater."

Davide nickte und der Graf ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken. „Nun, damit habe ich wahrlich nicht gerechnet. Warum ausgerechnet Fernan?"

„Er war wohl der beste Freund des Prinzen."

„Das wusste ich nicht. Er hat nie etwas Derartiges erwähnt."

„Wenn wir den Herzog aufspüren könnten, würde er uns die Wahrheit vielleicht verraten."

Graf Alastair schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Die Le'Hag, die den Auftrag hatten, ihn zu verhaften, wurden von Torz befehligt. Die Oberen wussten wohl, dass Fernan und ich so etwas wie Freunde waren und dass ich dieser Anordnung nur unwillig Folge geleistet hätte. Ich mochte vielleicht über alle anderen Vorgänge Bescheid wissen, aber was den Herzog anbelangt, war ich zu jeder Zeit im Unklaren. Es wird nicht leicht für mich, etwas über sein Schicksal in Erfahrung zu bringen." Er holte sich eine Pfeife aus seiner Hosentasche und entzündete diese mit seinen Fingern. „Glaubt nicht, ich hätte es nicht versucht. Das war ich ihm schließlich schuldig."

Müde schob sich Davide die Brille nach oben. Seine Nase war geschwollen, sodass das Gestell nicht richtig auflag, aber er bemerkte es kaum. „Egal, was wir auch herausfinden, wir treten auf der Stelle. Das ist das anstrengendste Rätsel, das ich jemals versucht habe zu lösen und uns läuft die Zeit davon."

Der Graf zog an seiner Pfeife und blies langsam den Rauch aus seinem Mund. „Wir müssen nur das lose Ende finden und das ganze Knäuel löst sich."

„Ich weiß nicht warum, es geht mir die ganze Zeit nicht aus dem Sinn, aber aus irgendeinem Grund glaube ich, dass Senn das lose Ende ist."

Damit überraschte er den Grafen. Der Mann ließ seine Pfeife sinken. „Der Meistermörder?"

„Ja. Schlussendlich landen wir immer wieder bei ihm. Seine Mutter war ein Edelstein. Er hat den schwarzen Edelstein bekommen und seiner Freundin gegeben, die zufällig die Tochter des Mannes ist, der uns verraten kann, wer der wahre König ist und wohin er verschwunden ist."

„Zufall?" Der Graf hob eine Braue.

„Ihr glaubt doch an die Götter."

„Ihr habt recht", gestand der Le'Hag ein. „In diesem Spiel der Götter sind wir nur Randfiguren, unbedeutende Bauern."

Davide stimmte ihm zu. „Es stellt sich nur die Frage, welche Figur ist Senn?"

„Und wer ist unser König?"

Keiner von ihnen wusste eine Antwort darauf. Schließlich sprach Davide die Sache an, die ihn wohl am meisten beschäftigte. „Was wird aus Fuchs? Es ist meine Schuld, dass er erwischt wurde."

„Ich werde versuchen, es herauszufinden. Ihr hingegen solltet Euch ausruhen. Euer Ausflug in die Kanalisation hat Euch nicht gutgetan."

Davide musste über diese Worte fast lachen. So erklärte ein Adeliger also, dass man schrecklich aussah.

Sein Gastgeber verließ das Zimmer. „Ich werde mich beeilen", versprach er.

Davide ließ sich zurück in sein Bett sinken. Es war so weich und gemütlich. Sonst schlief er zumeist auf einem der Sofas im Archiv, mit einer kratzigen Wolldecke und einem verschlissenen Kissen. Deshalb war es nicht überraschend, dass er innerhalb kürzester Zeit wegdämmerte.

Es war der Graf, der ihn wieder weckte. Verschlafen richtete Davide sich auf. „Mir ist es gelungen, etwas über das Schicksal Eures Freundes herauszufinden."

Sofort war Davide hellwach. „Wo ist er? In einem Ausbildungslager?"

„Schlimmer. Sie haben ihn als Zwangsarbeiter zu einer der Minen geschleppt."

Davide rappelte sich auf. „Ich muss ihn befreien."

Der kräftige Griff des Grafen hielt ihn zurück. „Ihr könnt nichts tun. Diese Lager sind schwer bewacht. Nicht einmal mir würde es gelingen, ihn von dort herauszuholen. Diese Wachen sind den Oberen bis zum Tod ergeben und sie kennen keine Skrupel. Für sie sind die dortigen Arbeiter Verbrecher, die nichts anderes verdient haben. Ihnen macht es Spaß, sie schuften und leiden zu lassen. Wenn Ihr erwischt werdet, dann wird es Euch nicht anders ergehen."

„Das ist mir gleich."

„Ihr seid doch sonst immer so besonnen."

Ganz und gar ungewöhnlicher Zorn überkam Davide. „Alastair, er ist mein Freund, mein Assistent. Er hat sich gefangen nehmen lassen, damit ich fliehen kann."

Der Graf drückte ihn jedoch wieder ins Bett. „Genau deshalb werde ich Euch nicht gehen lassen", entgegnete er bestimmt. „Euer Assistent wollte, dass Ihr flieht. Was wird er sagen, wenn er eines Tages aufwacht und der Mann, der sich neben ihm zu Tode schuftet, derjenige ist, dessen Leben er retten wollte?"

Davide ließ allen Widerstand erschlaffen. „Was soll ich dann tun?", fragte er verzweifelt. „Ich bin doch nur ein einfacher Archivar."

Alastair ließ ihn los und setzte sich auf den Stuhl, der von seinem vorherigen Besuch immer noch neben dem Bett stand. „Es gibt eine Möglichkeit, ihn zu retten", erklärte er.

„Welche?"

„Tut das, was ihr am besten könnt. Findet heraus, wie die Oberen besiegt werden können. Löst das Rätsel um den König."

„Ich schaffe das nicht allein. Es gibt zu viele Sackgassen." Davide rang mit den Händen. „Ich habe ein halbes Jahr damit verbracht, alles aufzudröseln und bin dabei keinen Schritt weitergekommen. Fuchs stand mir jedoch immer zur Seite. Ohne ihn bin ich aufgeschmissen."

„Ich werde Euch helfen", verkündete der Graf.

„Nein, das ist zu gefährlich. Ihr habt Eure Familie. Ich will nicht, dass Eure Kinder ihren Vater und Eure Frau ihren Mann verliert. Es gibt schon zu viele Waisen in dieser Welt."

„Habt Ihr Familie?", fragte der Graf.

Davide musste an seinen Bruder denken, mit dem er seit Jahren kein Wort mehr gewechselt hatte, weil dieser einst voller Zorn verschwunden und nie mehr zurückgekehrt war. „Nein", sagte er. „Nicht mehr."

„Dann soll meine Familie auch die Eure sein. In Zeiten wie diesen sollte man zusammenhalten. Zudem braucht Ihr jede Hilfe, die Ihr bekommen könnt. Ihr gelangt nicht in den Palast, ich jedoch schon. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass Ihr nicht der Mensch seid, der von einer gefährlichen Situation in die nächste schlittert und so die Welt rettet. Das mag der Meistermörder beherrschen oder auch Euer Freund Fuchs. Ihr jedoch seid jemand, der im Hintergrund alle Informationen sammelt, sie auswertet und dann die Fäden entwirrt. Das ist Eure Aufgabe. Das ist der Grund, warum Fuchs sich den Wachen in den Weg gestellt hat."

„Ihr habt recht." Dieses Mal war es Davide, der diese Worte gestand. „Lasst uns anfangen. Wir müssen diesen Wahnsinn so schnell wie möglich beenden."

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