Kapitel 62

In der Ferne tauchte die Stadtmauer von Krylanid auf. Einerseits freute sich Davide darüber, bald sein geliebtes Archiv wiederzusehen, andererseits war die Trauer noch zu frisch.

Es waren einige Tage vergangen, doch er hatte es nicht über sich gebracht, sofort wieder aufzubrechen und seinen sterbenden Freund allein zu lassen. Jetzt jedoch gab es nichts mehr, was ihn in dem kleinen Dorf halten konnte.

Marik hatte sie früher verlassen. „Einem Menschen beim Sterben zuzusehen, ödet mich an", hatte er erklärt, ehe er sich in den Sattel schwang und mit seinen beiden Pferden davonritt.

Fuchs jedoch war bei Davide geblieben, auch wenn dieser das nicht verlangt hatte. Aber wenn Fuchs sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte ihn niemand mehr umstimmen.

So saß Davide nun hinter seinem Assistenten auf einem braunem Kleinpferd von kräftiger Statur. Es schien keine Probleme damit zu haben, zwei ausgewachsene Männer auf seinem Rücken zu tragen. Davide umklammerte Fuchs, der im Sattel eine wesentlich bessere Figur abgab als er selbst.

„Was wirst du mit dem Pferd machen?", fragte Davide.

Es würde wohl kaum durch die teils sehr engen Rohre der Kanalisation passen. Fuchs grinste. „Ich habe eine Bekannte, die so nett war, Pino für einige Tage an mich zu verleihen. Sie wird ihn später wieder abholen."

Vor dem Gitter, welches den Weg zur Kanalisation versperrte, zügelte Fuchs das Tier. Dieses Mal stürzte Davide nicht in den Schnee, als er vom Rücken des Tieres rutschte. Nach ihm schwang sich Fuchs aus dem Sattel. Er tätschelte den Hals des Braunen und band ihn an einen eisernen Ring. „Öffne das Gitter", sagte er an Davide gewandt. Er selbst gab dem Tier einen Sack mit Heu zu fressen und löste die Taschen vom Sattel.

„Da sind sie", ertönte plötzlich ein lauter Ruf. Beide Männer zuckten zusammen und fuhren herum.

Einige Soldaten in der blauen Uniform Seyls stürzten auf sie zu.

„Verdammnis", fluchte Fuchs. „Mach schnell."

Davide tastete nach dem Mechanismus, konnte ihn aber nicht entdecken. „Ich finde ihn nicht", rief er panisch. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.

„Bei Miskor, das musste ja so kommen. Ich halte sie auf." Fuchs stellte sich breitbeinig hin und zog seinen Dolch.

Davide versuchte fieberhaft, das Gitter zu öffnen. Vor lauter Angst wurden seine Hände ganz schwitzig und er rutschte ab.

„Ergebt Euch", rief einer der Soldaten.

„Niemals", entgegnete Fuchs erstaunlich ruhig. An Davide gewandt, zischte er leise: „Beeil dich, verdammt noch mal. Ich werd' sie nicht lange aufhalten können, aber ich werd' nicht zulassen, dass sie den Archivar Seyls in die Hände bekommen. Diesen Triumph gönne ich ihnen niemals."

Dann waren die Soldaten heran und Fuchs begann sich verbissen zu wehren. Kurz zögerte Davide, doch Fuchs, der das geahnt hatte, brüllte zornig auf. „Jetzt verschwinde schon."

Endlich gelang es Davide den Mechanismus zu lösen und das Gitter schwang auf. Er kletterte ins Innere des Kanals, doch irgendetwas hielt seinen Fuß fest.

Er drehte sich um und erblickte einen Soldaten, der ihn mit eisernem Griff umfasst hatte. Vier andere Männer stürzten gerade auf Fuchs, der zu Boden gezwungen wurde. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. „Verdammnis, jetzt mach endlich!"

Davide schlug mit dem anderen Fuß aus und der Griff des Soldaten löste sich. Eilig warf Davide das Gitter zu und drehte sich dann um.

Mit trommelnden Herzen lief er in die Dunkelheit. Er schämte sich dafür, Fuchs zurückzulassen, aber er war stets ein rational entscheidender Mensch gewesen. Fuchs hatte recht, es wäre fatal, wenn die Oberen ihn in die Finger bekommen würden. Andere wären vielleicht umgekehrt, hätten Fuchs versucht zu retten, aber Davide wusste, dass er keine Hilfe wäre. Am Ende wären sie nur beide gefangen.

Ohne seinen Weg zu erkennen, knallte er auf einmal gegen eine schmierige Wand. Er taumelte zurück und hielt sich seine Nase, aus der eine warme Flüssigkeit tropfte. Am liebsten hätte er sich hingesetzt. Seine Nase pochte wie verrückt und es hatte keinen Sinn. Das Kanalnetz war viel zu verwinkelt und ohne Licht war er sowieso verloren.

„Ist er da drinnen?", hörte er eine leise Stimme aus der Ferne. Davide schreckte auf. Wenn sie ihn suchen kamen, würden sie ihn bald entdecken. Noch hatte er sich nicht weit genug vom Ausgang entfernt. Deshalb tastete er sich so schnell er konnte voran. Wenn er immer geradeaus lief, würde er schon früher oder später irgendwohin gelangen. Hoffte er zumindest.

Es kam ihm wie Stunden vor, in denen er herumirrte. Sein Magen knurrte und er fühlte sich völlig erschöpft. Die Haut seiner Hand war längst runzelig geworden, weil die Kanalwände widerlich feucht waren.

Die Stimmen hinter ihm waren längst verschwunden, doch Davide irrte weiter, in der Hoffnung, irgendwo einen Ausgang zu finden. Wenn er stehen blieb und lauschte, konnte er ab und an gedämpfte Geräusche von der Oberfläche hören. Der Schnee auf den Straßen verhinderte, dass durch Schachtdeckel Licht nach unten fiel, sodass Davide sich immer noch durch die Dunkelheit bewegen musste.

Niemand war ihm begegnet, obwohl die Kanalisation ein beliebter Rückzugsort für all die Halunken und Gauner war. Entweder waren diese von den Oberen gefangen genommen worden oder Davide befand sich in einem Teil der Kanalisation, das selbst das Diebespack mied.

Irgendwann lehnte er sich an die Wand und glitt langsam an ihr hinab. Er war so müde, dass er einfach nicht weiterlaufen konnte. Ihm fielen die Augen zu.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er wieder erwachte. Sein ganzer Körper war verspannt und seine Nase war derart angeschwollen, dass er nur durch den Mund atmen konnte. Ächzend erhob er sich. Sein Magen bestand nur noch aus einem Loch und er machte sich heftige Vorwürfe. Er hatte darauf bestanden, zu bleiben. Fuchs wäre viel eher nach Krylanid zurückgekehrt, wenn er nicht gewesen wäre.

Allein mit seinen Gedanken tastete er sich weiter.

Seine Finger waren schon so taub, dass ihm die winzige Strukturveränderung fast nicht aufgefallen wäre. Er hielt inne und ging einen Schritt zurück. Dann tastete er sich die Wand entlang. Tatsächlich hatte sich auf Brusthöhe wohl einmal eine eiserne Sprosse befunden und nur zwei Löcher zeugten noch von ihr. Vorsichtig ließ Davide seine Hände weiter nach oben gleiten, bis sie gegen etwas Eisernes stießen. Bei den Göttern, er hatte einen Ausgang gefunden.

Es war gar nicht so leicht, im Dunkeln nach oben zu klettern. Einige der Sprossen fehlten, andere waren lose und fast wäre Davide abgestürzt, als sich eine Sprosse plötzlich aus der Verankerung löste und mit einem Klirren auf dem Boden aufschlug. Zittrig hielt Davide inne. Auch wenn er sich bei einem Absturz vermutlich nur den Fuß verstauchen würde, klammerte er sich an den Sprossen fest, als hinge sein Überleben davon ab.

Schließlich stieß sein Kopf gegen die Decke. Er riss eine Hand nach oben und versuchte den Deckel in die Höhe zu drücken. Doch die Last des Schnees und sein Eigengewicht verhinderten, dass er sich auch nur ein bisschen bewegte, obwohl Davide all seine Kraft aufbrachte.

Schwer atmend hielt er inne. Er würde doch jetzt nicht aufgeben. So kletterte noch etwas weiter nach oben, bis er mit dem Rücken gegen den Schachtdeckel drücken konnte.

Jetzt konnte er spüren, wie dieser ein klein wenig nachgab. Davide verdoppelte seine Anstrengungen und auf einmal schwand das Gewicht.

Gedämpftes Licht fiel von oben herab. Davide konnte nicht sagen, welche Tageszeit gerade herrschte, der Winter war so grau wie eh und je. Hände packten ihn und zogen ihn nach oben. Er wehrte sich nicht. Der Schnee, auf dem er landete, war eisig und seine Wange wurde taub.

„Bei den Göttern", sagte eine weibliche Stimme. „Lebt er denn überhaupt noch?"

„Natürlich tut er das, Eugenia", antwortete ein Mann. „Sonst hätte er wohl kaum den Deckel in die Höhe drücken können."

Jemand ging neben Davide in die Hocke. „Geht es Euch gut? Was habt Ihr da unten gemacht?"

„Meinst du, er ist einer von diesen Halunken, die da unten wie die Ratten hausen?"

„Er ist viel zu gut gekleidet. Sieh ihn dir doch mal an. Das ist die neueste Mode."

Das hatte Davide Fuchs zu verdanken, sein Assistent kümmerte sich nicht nur um Essen, sondern auch Bekleidung und sämtliche weiteren notwendigen Einkäufe. „Außerdem trägt er eine Brille. Hast du schon einmal einen Dieb mit einer Brille gesehen?"

Davide stöhnte.

„Geht es Ihnen gut?"

„Walli, du siehst doch, dass es ihm nicht gut geht", schimpfte die Frau. „Er wurde offenbar zusammengeschlagen."

„Ich habe dir schon oft genug gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst." Der Mann wandte sich wieder an Davide, dessen Blick langsam verschwand. „Wo wohnt Ihr? Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen können?"

Nur ein Name kam Davide in den Sinn.

„Alastair Verdun", sagte er leise, dann wurde er ohnmächtig.


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