Kapitel 61

Wir betraten das kühle Innere der Festung. Ein langer Gang tat sich vor uns auf, von dem zahlreiche Türen und weitere Gänge abzweigten. Zu unserer Linken befand sich eine breite Treppe aus dunklem Holz. In einem baumlosen Land wie Skaramesch ein absoluter Luxus. Doch in dieser Festung gab es zahlreiche Balken und Treppen, für die hunderte Bäume gefällt werden mussten.

Der Boden bestand aus rauem Stein, nur in den höheren Stockwerken war er aus robustem Holz. In der großen Halle, dem Raum, in dem all die Orden und Ränge verliehen wurden, hatte man sogar edle Marmorfliesen gelegt. Viele junge Rekruten wurden regelmäßig dazu verdonnert, diese auf Hochglanz zu polieren.

Hier unten gab es nur wenige Fenster. Falls es jemandem tatsächlich gelang, die Mauer zu überwinden, sollte ihm das weitere Eindringen so gut wie möglich erschwert werden. So wurde der Gang nicht von Sonnen-, aber von Fackellicht erhellt. Hier unten war ich noch nie gerne gewesen. Die dicken Mauern schienen stetig massiver zu werden und alles Licht und Leben dazwischen zu schlucken. Jedes Mal, wenn ich mich in den labyrinthartigen Gängen aufhielt, überfiel mich ein Gefühl von Beklemmung. Der Rest der Assassinen empfand teilweise nicht anders. Kein Wunder, dass die meisten Antragsteller oder Gefangenen bereits zermürbt waren, ehe sie überhaupt dem Großmeister oder anderen hochrangigen Mitgliedern gegenübergestellt werden konnten.

Den Weg zum Arbeitszimmer des Großmeisters kannte ich wie kein zweiter. Nur wenige der Männer sahen es jemals von innen, aber ich war regelmäßig dort ein- und ausgegangen. Zwar wusste theoretisch jeder, wo sich dieser Raum befand, aber die meisten liefen einfach daran vorbei. So auch die Wachen. Während ich vor einer unscheinbaren Holztür stehen blieb, eilten sie weiter den Gang entlang. Bis auf den Säbelträger, der mich immer noch am Arm gepackt hielt. Ärgerlich blieb er stehen. „Was soll das?"

Ich hob provozierend eine Augenbraue. „Ich dachte, ich solle den Großmeister aufsuchen?"

„Oh ja, und das wirst du auch." Er zog wieder an meinem Arm, aber ich blieb stocksteif stehen.

„Weißt du denn überhaupt, wo sich seine Räumlichkeiten befinden?"

„Natürlich." Er klang ungehalten.

„Warum seid ihr dann alle daran vorbeigelaufen?"

„Wir sind nicht daran vorbeigelaufen. Wir müssen in einen anderen Korridor."

Ich musste gestehen, dass es mich amüsierte, mit ihnen zu spielen, wie eine Katze es mit einer Maus tat. „Wart ihr jemals in seinem Arbeitszimmer?"

Der Säbelträger runzelte die Stirn. „Nein, aber das macht keinen Unterschied." Trotzdem wirkte er nicht nur verwirrt, sondern auch zunehmend nachdenklich. Ich hatte ihn kalt erwischt und für einen Moment hatte er seine professionelle Maske fallen lassen. Mehr brauchte ich nicht.

„Sie haben euch angelogen. Zum Schutz des Großmeisters wird immer behauptet, seine Räumlichkeiten befänden sich hinter dieser großen mit goldenem Stuck verzierten Tür. Es ist nur eine der vielen Lügen, die euch erzählt werden. Niemand wagt es diese anzuzweifeln. Schließlich scheint das nur für einen Großmeister angemessen, nicht wahr? Tatsächlich liegen seine prunkvollen Gemächer jedoch hinter dieser unscheinbaren Tür. Niemand würde je darauf kommen."

„Du lügst!", widersprach der Assassine.

Ich zuckte mit den Schultern und klopfte an. Ein „Herein" ertönte und ich warf einen Blick über die Schulter, bevor ich der Anweisung Folge leistete. Die anderen Wachen hatten sich inzwischen zu uns gesellt und jede von ihnen trug einen neugierigen Blick zur Schau. Sie drängten darauf zu sehen, was sich hinter der Tür befand. Nun - ich wollte ihnen gerne Gewissheit verschaffen.

Mit Absicht öffnete ich die Türe so weit es ging und trat dann so geschickt auf die Seite, dass sich den Assassinen ein umfangreiches Bild bot: Ein opulent eingerichteter Raum, von dem zwei weitere prächtige Zimmer abgingen. Die Torflügel dazu waren jedoch verschlossen. Aber auch das Arbeitszimmer des Großmeisters sagte genug aus. Links von uns befand sich eine Sitzgruppe aus rotem Samt, in dessen Mitte ein eleganter Teetisch mit Glasplatte stand. Bunte Kissen in Flieder, gelb und hellen Orangetönen luden zum bequemen Sitzen ein. Ein Teeservice aus echtem solitarischen Porzellan stand bereit. Regale aus dunklem Ebenholz zierten die Wände. Darin befanden sich aber nur wenige Bücher und Schriftrollen. Stattdessen schmückte edler Ramsch die endlosen Reihen: Goldene Lampen, silberne Dolche, ein Schmuckkästchen bedeckt mit funkelnden Saphiren, Amulette aus seltenen Tierknochen, je teurer und seltener, desto besser. Inmitten all dieser Kostbarkeiten stand der Schreibtisch des Großmeisters, dahinter der jetzige Herr über diese Gemächer. Der Schreibtisch war aus poliertem Holz und obwohl er sicher schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, machte er einen äußerst neuen Eindruck. Das war allein dem Werk des Privatsklaven zu verdanken.

Ich vermied, so gut es mir möglich war, auf die Person links hinter dem Großmeister zu starren. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Buntglasfenster, durch die orange-goldenes Licht fiel.

Deutlich spürte ich die Anwesenheit der anderen Assassinen hinter mir. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass ihnen der Mund offenstand. Nicht überraschend. Schließlich predigten die hochrangigen Assassinen seit jeher Demut und Sparsamkeit. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Kämpfern jedoch lebten sie diesen Kodex nicht.

All das geschah in nur wenigen Momenten, dann schloss ich sorgfältig die Tür und sperrte die Wachen aus.

Der Großmeister starrte mich aus seinen dunklen Augen abfällig an. Sein Hass drohte mir die Luft zum Atmen zu nehmen, aber ich zwang mich zu einem falschen Lächeln. „Ihr wolltet mich sprechen?"

Mein ehemaliger Mentor bedeutete mir mit einer abfälligen Geste, mich zu setzen.

Kurz zögerte ich, dann nahm ich jedoch angespannt auf dem einfachen Holzstuhl Platz, der direkt vor dem Schreibtisch stand. Er war das einzige Möbelstück, das nicht zum Rest der Einrichtung passte. Stattdessen machte es einen wackeligen Eindruck und als ich mein Gewicht etwas verlagerte, knirschte es bedenklich. Kein Zweifel, dass der Großmeister es extra wegen mir hatte holen lassen.

Der alte Mann setzte sich mir gegenüber, aber sein Stuhl war so hoch, dass er auf mich hinabschauen konnte. Ich versuchte, das minderwertige Gefühl, welches er mir vermittelte, zu unterdrücken und verschränkte in einem Ausdruck von Missbilligung die Arme vor der Brust.

Der Großmeister stützte die Ellenbogen auf den großen Schreibtisch, seine Fingern stießen leicht aneinander und bildeten so ein umgedrehtes „V". Diese Geste war mir schmerzhaft vertraut, sodass es fast schon weh tat, sie auch nur anzusehen. „Na, kommen die Erinnerungen hoch?", fragte mein ehemaliger Mentor gehässig.

Ich biss die Zähne zusammen und antwortete nicht. Mein Blick fiel auf den Sklaven, der mich aus großen Augen beobachtete. Es war ein hübscher Junge. Natürlich, es waren immer nur ansehnliche Knaben. Er war bleich und seine roten Haare standen in alle Richtungen ab. Seine olivfarbenen Augen waren gerötet. Offenbar hatte er viel geweint in letzter Zeit. Ich seufzte. Das war dumm von ihm.

Der Großmeister erkannte, was meine Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt hatte. Er lachte. „Interessiert dich das neue Lieblingsobjekt meiner Sammlung? Ich gebe zu, es hat nicht dieselbe Qualität wie du, aber man nimmt, was man kriegt. Das Gesicht ist recht ansehnlich und der Junge stammt aus Acerum. Sehr exotisch. So wie du. Anders als die meisten hat er keine Verwandten mehr. Vor ihm hatte ich einen Jungen aus Seyl. Ich konnte seinen Vater beruhigen, sagte ihm, hier würde ihm kein Haar gekrümmt."

Abscheu überflutete mich, aber nur mein heftig ausgestoßener Atem zeugte von den brodelnden Gefühlen in mir. „Ihr habt dem Vater natürlich nahe gelegt, zu spuren. Schließlich könnten tragische Unfälle immer passieren und das wollte der arme Mann sicher nicht. Was ist mit dem Jungen geschehen?"

„Er ist tot. Bedauerlich, aber unvermeidlich."

„Der Vater hat einen Fehler gemacht?"

Die Miene Abdajahs zeigte Belustigung. „Ich sehe, wir verstehen uns."

„Es gibt kein uns", widersprach ich.

„Vielleicht noch nicht, aber ich sehe noch viele gemeinsame Jahre auf uns zukommen."

„Ist das die Bedingung? Die Bedingung für die Freilassung meiner Gefährtinnen?"

Die Zeigefinger des Großmeisters klopften leicht gegeneinander. „Das menschliche Herz ist schon etwas Seltsames, nicht wahr? Es macht uns zugleich unheimlich stark und schwach. Durch Gefühle werden Menschen verletzlich und es ist unsere Aufgabe, genau dann zuzupacken."

„Ihr seid ein Monster. Ihr konntet mich nicht fangen und deshalb habt Ihr zwei Unschuldige in Eure Gewalt gebracht." Meine Hände ballten sich zu Fäusten, während es mich meine ganze Beherrschung kostete, nicht aufzuspringen und meinem ehemaligen Mentor an die Gurgel zu gehen.

„Na, aber nicht doch. Wir haben nur den richtigen Köder beschafft, um das wertvollste Wild aus dem Wald zu locken oder wahlweise auch den größten Fisch an Land zu ziehen." Seine dunklen, fast kohlrabenschwarz wirkenden Augen hielten meinen Blick gefangen. „Wir sind Jäger. Wir sorgen nur dafür, dass die Welt von schwachem und krankem Getier befreit wird."

„Ungeheuer..." Ich betonte jede einzelne Silbe überdeutlich. „... nicht mehr und nicht weniger. Das ist es, was Ihr seid."

Ich konnte seinen Zorn spüren, er breitete sich in kalten Wellen von ihm aus und selbst die Sonne schien sich davor zu verstecken, denn für einen Moment wirkte ihr strahlendes Licht schwächer. Der Sklave duckte sich unwillkürlich.

„Du solltest endlich lernen, das, was wir für dich getan haben, zu würdigen. Rashid hat dich - ein Nichts - zu einem besseren Menschen gemacht. Ohne ihn wärst du nur ein Objekt gewesen, doch durch seine Hilfe konntest du zu einem der mächtigsten Männer der Welt aufsteigen."

Bitternis überkam mich. „Nur dass diese Macht auf Elend begründet ist. Hilflose und unschuldige Menschen werden von Euch nur als Schuhabtreter benutzt, während Ihr auf den Rücken der einfachen Leute in Richtung Thron schreitet, der aus jenen gemacht ist, die von Euch erpresst wurden."

„Manchmal muss man für sein persönliches Vorankommen Opfer bringen." Der Großmeister hatte sich wieder gefasst und denselben ungerührten Gesichtsausdruck angenommen, den er die meiste Zeit zur Schau trug. „Sei froh, dass wir in dir mehr gesehen haben als einen gewöhnlichen Sklaven. Hach, ich erinnere mich noch an den Tag, als du das erste Mal vor mir knietest. Ein Überfall auf das Haus eines Sklavenhändlers mitten in der Nacht. Wir haben damals alle getötet und die Beute für uns beansprucht. Fünf haben überlebt. Vier von ihnen zitterten, aber du hast uns alle mit vernichtendem Blick gemustert. Meister Rashid erblickte dich und zögerte keinen Moment. Er entsorgte seinen letzten Sklaven und nahm dich in seine persönlichen Gemächer. Aber du bist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Eine Verschwendung von Potenzial. So war ich gar nicht so überrascht, als Rashid an mich herantrat und mich bat, dich auszubilden."

Ein Lächeln schlich sich auf die Lippen meines ehemaligen Mentors, während er da saß und in Erinnerungen schwelgte. „Ich habe eingewilligt. Mit Begeisterung. Ich hätte dich schon allein deshalb als Lehrling genommen, weil ich den Neid in den Augen Rashids genoss. Wenn er gekonnt hätte, hätte er nur für dich das Gesetz geändert. Und du dankst es ihm, indem du ihn kaltblütig ermordest."

Ich zuckte äußerlich ungerührt mit den Schultern, obwohl mein Inneres ein einziger Knoten aus Wut und instinktiver Angst war. „Ich habe zu spät begriffen, dass er noch der Harmloseste in dieser Schlangengrube war."

Der Großmeister lachte schallend. „Du hattest schon immer Humor. Uns mit Schlangen zu vergleichen. Das ist göttlich."

Ich ließ mich nicht auf seine Spielchen ein. „Was wollt Ihr?"

Mit glühendem Blick richtete sich der Großmeister wieder auf. Er senkte seine Arme, die immer noch auf den Schreibtisch gestützt waren und ergriff ein auf dem Schreibtisch liegendes Dokument. „Ich möchte, dass du zu uns zurückkehrst."

Jetzt war es an mir zu lachen. Natürlich hatte ich mit so etwas bereits gerechnet, aber es schien mir unmöglich. „Das ist absurd."

Abdajah verzog gespielt gekränkt das Gesicht. „Warum sollte es?"

„Ich bin ein Verräter. Ihr werdet mir niemals trauen können."

Der Großmeister wackelte mit einem Finger vor meiner Nase. „Na wenn das nicht eine etwas voreilige Behauptung ist. Du bist erpressbar." Er nahm eine Pfirsich aus der Schale.

„Ihr würdet nicht wagen..."

Der Großmeister schien amüsiert. „Menschen. So erbärmlich. Wenn ich etwas möchte, dann beschaffe ich es mir. Mit allen Mitteln." Er ballte seine Hand zur Faust. Als er sie öffnete, gab zerquetschtes Fruchfleisch den Kern in seinem Inneren frei.

Ich konnte nur mit Mühe an mich halten. „Ich hasse Euch. Euch und dieses verlogene Pack. Hätte ich damals gewusst, wie ich dem allem ein Ende setzen könnte, glaubt mir, ich hätte es ohne zu zögern getan."

„So leidenschaftlich. Ich habe dich vermisst." Er schleckte sich das Fleisch von der Handfläche, dann musterte er mich von Kopf bis Fuß. „Nun, du hast seitdem ziemlich abgebaut. Das geht wohl mit Gefühlen einher. Keine Sorge, das werden wir dir schon noch wieder austreiben. Am Ende wirst es du sein, der unsere... Gäste eigenhändig tötet."

Ich sprang auf. „Niemals."

Abdajah schüttelte lachend den Kopf. „Bis jetzt habe ich immer recht behalten."

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