Kapitel 60

Je näher ich der Feste kam, desto schroffer wurde die Umgebung. Ich vermied es, meinen Blick umherschweifen zu lassen wie ein Besucher in einem fremden Land. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Weg vor mir. Was jedoch nicht bedeutete, dass ich die verborgenen Gestalten nicht wahrgenommen hatte.

Sie waren überall. Versteckt vor den Augen der Wenigen, die sich in diese Einöde verirrten, behielten sie den einzigen Weg zum Eingang der Feste in den Augen. Ich wusste, dass sie jede meiner Bewegungen beobachteten. Ein gewöhnlicher Antragsteller, der meinte, sein Anliegen wäre so wichtig, dass es den Meistern des Ordens direkt vorgetragen werden musste, würde sie nicht entdecken können. Ich war diesen Weg jedoch hunderte Male selbst entlang geritten und hatte einen Teil meiner Freizeit damit verbracht, jedes potenzielle Versteck ausfindig zu machen. Meine Flucht war kein Kurzentschluss gewesen, sondern von langer Hand geplant.

Die Assassinen, die dort Wache schoben, waren überwiegend neue Rekruten, noch lange nicht am Ende ihrer Ausbildung. Ich bezweifelte, dass jemand mich erkennen würde. Vor allem, weil mein Gesicht immer noch mit dem hellen Leinentuch verhüllt war und keiner von ihnen mich jemals kennengelernt hatte. Dafür war das alles schon viel zu lange her.

So musste ich mich nicht anstrengen, unauffällig zu wirken. Zwar konnte ich die Pfeilspitzen, die auf mich gerichtet waren, regelrecht spüren, aber sie würden nicht schießen. Ich war nur ein einfacher Bittsteller und kein Anführer einer Armee. Der Unterschied bestand darin, dass sie nicht wussten, dass ich alleine mehr zerstören konnte, als es Hunderte von Männern je vermocht hätten.

Zwischen den kantigen Enden der Felsen tat sich die gewaltige Feste vor mir auf. Sie bestand komplett aus dunklem Sandstein und erstreckte sich über hunderte Scal. Trotzdem wirkte sie immer etwas gedrängt, schien sie doch mehr in die Höhe als in die Breite zu wachsen. Die hohe von sämtlichen Unebenheiten befreite Mauer umrahmte sie und machte ein Eindringen unmöglich. Der einzige Weg führte über das gut bewachte Tor. Seit meiner Flucht war dieses nur noch stärker besetzt.

Fenster gab es erst in den höheren Geschossen und alle waren ohne Scheiben, sodass die Wüstenluft ungehindert ins Innere strömen konnte. Des Nachts hatte ich oft gefroren, aber die Meister sahen darin nur eine weitere Abhärtung während der langen Ausbildung.

Ich ließ meinen Blick ungehemmt über jeden Winkel der Schattenfeste schweifen, wie es jemand getan hätte, der sie zum ersten Mal sah. Noch war ich nicht bereit, meine Tarnung als einfacher Mann aufzugeben. Jeder Winkel und jede Kante löste ein seltsames Gefühl des Wiedererkennens in mir aus. Hier hatte ich meine Jugendjahre verbracht, bis ich diesen Ort verlassen hatte, mit dem Schwur niemals mehr zurückzukehren.

Die Festung war eines der ältesten Gebäude in Skaramesch. Wer auch immer sie einst konstruiert hatte, musste von genialem Geist gewesen sein. Trotz ihrer Protzigkeit hatte der Architekt es geschafft, der Feste etwas Elegantes zu verleihen. Das eckige Hauptgebäude war von oktogonen Türmen umrahmt, die sich in schwindelerregende Höhen schraubten. Kleinere Nebengebäude verbanden die einzelnen Teile miteinander und aus den vielen Innenhöfen hatte man Übungsplätze gemacht.

Es war immer noch ungeklärt, wie es vergangenen Generationen gelungen war, mitten in der Wüste ein solches Monument zu errichten. Manche Leute munkelten, dass sogar die Felsenlandschaft, die sich um die Feste herum ausbreitete, nicht natürlichen Ursprungs war.

In die Mauer waren in regelmäßigen Abständen Schießscharten eingelassen, aber diese waren noch niemals im Einsatz gewesen. Trotzdem mussten die jungen Rekruten regelmäßig ihre wertvolle Freizeit opfern, um die gesamte Anlage zu warten. Der Leitsatz der Assassinen lautete, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Der einzige Angriff, der jemals auf die Schattenfeste verübt worden war, hatte in einem Desaster geendet. Die gesamte Armee war gezwungen gewesen, den schmalen Weg zwischen den Felsen entlangzumarschieren, wo sie von den Wächtern um einiges dezimiert wurde, bis nur noch ein Bruchteil vor den Toren stand. Der Tod ihres Anführers durch einen einzelnen Schuss von den Mauern hatte die Moral der Truppe derart untergraben, sodass sämtliche Überlebenden die Beine in die Hand genommen und schleunigst Fersengeld gegeben hatten.

Seitdem wagte es niemand, auch nur an einen Angriff zu denken.

Ich holte tief Luft, saß von Husra ab und straffte mich.

Die Wachen vor den Toren musterten mich misstrauisch. Sie trugen alle nur eine leichte Rüstung, die ihre Bewegungsfreiheit keineswegs einschränkte. Jeder von ihnen war mit dem typischen Arsenal an Messern und Dolchen ausgestattet, wie auch ich sie am Leibe trug. Nur ein Bruchteil davon war zu sehen, der Rest versteckte sich unter einzelnen Stoffschichten. Jeder Assassine besaß eine individuelle Waffe, die ihm am besten in der Hand lag und mit der er umzugehen verstand. Waren es bei mir meine Sennen, handelte es sich bei den Waffen der Wächter um einen Dreizack, ein Langschwert, einen Säbel, sowie einen Speer und zwei Kurzschwerter.

Ich bemühte mich, den scharfen Klingen nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken und zwang meinem Gesicht ein Lächeln auf.

„Was ist dein Begehr?", knurrte der Säbelträger. Keiner von den Assassinen ließ sich dazu herab, einen Bittsteller mit der Höflichkeitsform anzusprechen. Selbst wenn es sich um den Emir persönlich gehandelt hätte, wäre er in den Augen des Ordens nur eine niedere Kreatur, die angekrochen kam, um etwas zu verlangen.

„Ich möchte mit Eurem Großmeister sprechen", erklärte ich demütig. Wie zufällig vermied ich es, die Wachen zu mustern, sodass es bei ihnen den Eindruck erwecken musste, ich wäre zu eingeschüchtert.

„Wenn du ein Anliegen hast, wende dich an unseren Außenvertreter."

„Es ist von größter Wichtigkeit", widersprach ich. „Er wird mir sicher zuhören."

Die Wache lachte höhnisch. „Das behauptet jeder. Nun gut, vielleicht findet jemand die Zeit, dir Gehör zu schenken."

Ich wusste, worauf das hinauslief. Sie würden mich in die Anhörungshalle bringen, einem Saal, an dessen Ende sich eine Empore befand. Der Stuhl, der dort vermutlich immer noch stand, ähnelte mehr einem Thron und irgendein zweitklassiger Assassine würde darauf Platz nehmen. Jemand, der über den gewöhnlichen Männern stand, aber zu weit unten in der Befehlskette, um wirklich wichtig zu sein.

Ich schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, um eine sorgfältig zurechtgelegte Erwiderung auszusprechen. Bevor jedoch nur ein Wort zwischen meine Lippen dringen konnte, ertönte von oben ein langsames, fast höhnisches Klatschen.

Die Wachen waren genauso überrascht wie ich und wir verrenkten uns die Hälse, um einen Blick auf die Person zu werfen, von der das Klatschen kam. Von ihrem Standpunkt aus konnten die Wachen den alten Mann unmöglich sehen.

Mich jedoch überlief ein kalter Schauer, als ich das Gesicht auch auf die große Distanz, die der Höhenunterschied zwischen uns schuf, erkannte. Denn dort auf der Spitze der Mauer thronte wie ein König mein ehemaliger Mentor.

„Ausgezeichnet", ergriff er das Wort und seine heisere Stimme erinnerte mich an all die Jahre, die ich mit ihm verbracht hatte. „Doch nun lassen wir die Scharade. Ich habe dich bereits erwartet."

Der Säbelträger zeigte für einen kurzen Moment große Verwirrung, dann schien ihm ein Licht aufzugehen. Mit einem energischen Ruck riss er mir mein Tuch vom Gesicht. Ich ließ es reglos geschehen. Am sowohl erstaunten als auch entsetzten Aufschnappen konnte ich erkennen, dass die übrigen Wachen nun ebenfalls begriffen hatten.

„Der verlorene Sohn kehrt nach Hause zurück", verkündete mein ehemaliger Mentor mit Dramatik.

Ich zwang mich zu einem gequälten Lächeln.

„Ihr habt etwas, das ich begehre", fasste ich schließlich das Offensichtliche in Worte.

Er legte den Kopf schief, wie ein Raubvogel, der auf seine Beute starrt. „Bringt ihn in mein Studierzimmer."

Ich runzelte die Stirn, als die Wachen auf mich zutraten. „Ich kenne den Weg", erklärte ich.

Der alte Mann hatte meine nicht an ihn gerichteten Worte gehört. „Du wirst verstehen, dass ich dir nicht über den Weg traue. Außerdem bin ich umgezogen."

Meine Lippen zuckten, bevor sie sich zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Ich verbeugte mich in Richtung meines ehemaligen Mentors. „Welch Ehre, solche Worte aus Eurem Mund zu hören."

Nun erinnerte er mich mehr denn je an einen Habicht. „Ich sehe, du bist immer noch ganz der Alte. Verbirgst alles hinter einer Maske des Spotts." Fast fühlte ich, wie mich seine dunklen Augen erdolchten. „Ich erwarte dich", meinte er schließlich. Damit verschwand er aus meinem Blickfeld.

Die Wachen hielten einen gewissen Abstand von mir. Ihre Ausbildung ließ nicht zu, dass ihre Gesichter irgendwelche Emotionen widerspiegelten. Aber ihre Körpersprache verriet ihre Vorsicht und höchste Alarmbereitschaft. Bei der ersten verdächtigen Bewegung - mochte sich noch so unauffällig sein - würden sie zustechen.

Ich behielt meine gelassene Miene auf und steuerte auf die Stallungen zu. Aus Erfahrung wusste ich, dass sich darin zwar hauptsächlich Pferde befanden, aber auch das ein oder andere Dromedar oder Trampeltier.

„Das ist die falsche Richtung", knurrte der Wächter mit dem Speer warnend.

Ruhig drehte ich mich in seine Richtung und musterte ihn abschätzend. Er war noch recht jung, wie der Rest der Wächter auch. Niemand von ihnen hatte mich kennengelernt. Selbst wenn wir uns je zur selben Zeit in der Feste befunden hätten, wären wir uns wohl kaum begegnet. Schließlich hätten sie zu dieser Zeit am Anfang ihrer Ausbildung gestanden.

So kannten sie mich nur als fleischgewordenen Mythos und nicht als wahren Mensch. „Hör mal", sagte ich zu dem jungen Mann mit vernünftiger Stimme. „Ich habe hier zwei Tiere und ich will sie versorgt wissen. Ich gehe nicht davon aus, dass mich Meister Abdajah oder der Rest eures Ordens so schnell wieder gehen lässt."

„Großmeister", verbesserte mich einer der Kurzschwerträger, dessen Waffe als einzige noch in der Scheide steckte. Er schien etwas älter als die anderen und wirkte merklich entspannter. Obwohl ich mit dieser Ankündigung nicht gerechnet hatte und nur mit Mühe meine Überraschung verbergen konnte, beschloss ich im selben Moment, den Mann im Auge zu behalten.

„Abdajah ist Großmeister?" Nun eigentlich hätte ich das kommen sehen müssen. Nachdem ich den vorherigen Großmeister ermordet hatte, musste irgendjemand die Führung des Ordens übernehmen. Dass es sich dabei um meinen ehemaligen Mentor handelte, damit hatte ich allerdings nicht gerechnet.

„Ihr solltet nicht so abfällig über den Großmeister sprechen", ermahnte mich der Säbelträger und in seinen Augen funkelte es gefährlich manisch.

Ich lachte. Mein alter Mentor hatte es schon immer verstanden, mit seinem Charisma Leute auf seine Seite zu ziehen. Auch ich hatte ihn einst verehrt - bis ich die Wahrheit herausgefunden hatte. Was für eine Ironie, dass ausgerechnet ich es war, der ihm zu diesem Posten verholfen hatte. Vor acht Jahren war ich so naiv gewesen zu glauben, ich könne das Ungeheuer besiegen, indem ich seinen Kopf abschlug. Nur hatte ich dabei übersehen, dass es sich dabei um ein Wesen mit vielen Häuptern handelte.

Auch wenn ich es nicht sicher wusste, kam ich zu der Überzeugung, dass mein ehemaliger Mentor die Gunst der Stunde genutzt haben musste, sich selbst auf den leeren Thron zu setzen.

Ich brachte die beiden Dromedare in einen verwaisten Paddock. Der Wassertrog war leer und ich eilte zum Brunnen inmitten der Stallanlage. Es war nur einer von vielen, die durch ein unterirdisches Kanalsystem miteinander verbunden waren.

Die Wachen hielten weiterhin respektvollen Abstand. Sie waren zu gut ausgebildet, um sich zu weit von mir zu entfernen, aber trotzdem achteten sie akribisch darauf, mir nicht zu nahe zu kommen. Dabei waren meine Zweifel das einzig Ansteckende an mir.

Ich drückte mit meinem ganzen Gewicht die Kurbel nach unten. Entweder das Ding war in den letzten Jahren nicht mehr gewartet worden oder ich hatte deutlich mehr an Kraft verloren, wie zuerst vermutet. Das würde die seltsamen Blicke der Wachen erklären, die immer noch versuchten, die magere Gestalt vor ihnen mit dem Bild, das ihnen von mir vermittelt worden war, in Einklang zu bringen.

Es gestaltete sich als unmöglich. Denn je mehr sie von mir zu Gesicht bekamen, desto nachlässiger wurden sie in ihrer Aufmerksamkeit. Ich konnte sehen, wie sich ihre Haltung langsam entspannte und ihre Blicke immer öfter abschweiften. Einzig der Kurzschwertträger fixierte mich weiterhin aus dunklen Augen. Ich konnte die Intelligenz und die Zweifel in ihnen fast lesen.

Vielleicht hatte ich einen neuen Verbündeten gefunden.

Mit einem Ächzen schleppte ich den vollen Eimer einen letzten Schritt, bevor ich seinen Inhalt ein letztes Mal in den Trog entleerte. Meine Hosenbeine waren durchnässt, weil das stabile Holz mit jedem Schritt gegen mich geschlagen war, bis das Wasser über den Rand hinausgeschwappt war.

Immerhin ließen sie mich die Arbeit tun. Der Säbelträger öffnete zwar immer wieder den Mund, während er ungeduldig von einem Bein aufs andere wechselte, ein stechender Blick von mir ließ ihn jedoch stumm bleiben. Noch waren sie eingeschüchtert, aber nachdem ich von oben bis unten mit einzelnen Heuhalmen bedeckt war, hatte ich den letzten Respekt eingebüßt.

„Der Großmeister erwartet dich. Komm jetzt!" Ich bemerkte den Umschwung von der Höflichkeitsform zum gemeinen „Du" sehr wohl. Der Säbelträger wagte es sogar, den Abstand zwischen uns zu überbrücken und auf unangenehme Weise in meine Komfortzone einzudringen, indem er mich am Arm packte. Normalerweise hätte ich ihn sofort in seine Schranken gewiesen, aber ich wollte meine Rolle als besiegter Schwächling noch etwas länger behalten.

Aus diesem Grund biss ich die Zähne zusammen und ließ mich widerstrebend von dem Assassinen mitziehen.

Inzwischen waren auch andere auf uns aufmerksam geworden und beobachteten neugierig die Szene, die sich ihnen bot. Hier verbargen sie ihre Mienen nicht hinter einer Maske aus Gleichmut, sondern zeigten ihr Interesse offen. Ratlosigkeit spiegelte sich in ihren Gesichtern wider. Alle fragten sich, wer ich wohl sei. Noch hatte niemand den verhassten Verräter mit mir in Verbindung gebracht. Früher oder später würden sie es jedoch herausfinden, denn Ausländer gab es nur wenige in den Reihen der Assassinen. Aber zuerst sorgte ich dafür, dass sie nachlässig wurden. Ein Lachen entfuhr mir. Jetzt war mein kränkliches Aussehen offenbar von Vorteil. Auch wenn ich mich inzwischen wieder einigermaßen erholt hatte, konnte ich es nicht mit den gut genährten und trainierten jungen Männern aufnehmen. Deshalb musste ich jeden Vorteil nutzen, der sich mir bot. Egal, wie sehr mir das widerstrebte.

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