Kapitel 54

Der nächste Tag begann einsam. Auch wenn Ander oft genug vor ihr aufstand und schon längst in der Arbeit war, so fühlte es sich dieses Mal anders an.

Sorgfältig kleidete sie sich an und ging danach in die Küche, um zu frühstücken. Mit wenig Appetit stocherte Hannah in ihrem Essen, zwang sich dazu, einen Bissen nach dem anderen zu schlucken. Während sie sich eine komplizierte Frisur flocht, kaute sie ein paar Kräuter, damit ihre Zähne noch länger in ihrem Mund blieben und nicht verfaulten und schließlich wie bei ihrem Nachbarn gezogen werden mussten.

Draußen schien die Sonne, aber es war trotzdem bitterkalt. Hannah machte sich auf dem Weg zum zentralen Platz. Dort hatten sich bereits einige Frauen versammelt, die sie dazu nötigten, ein paar Worte an die Wartenden zu richten.

Hannah wusste nicht, was sie von ihr hören wollten, deshalb sagte sie das, was ihr in den Sinn kam. „Ihr alle kennt meinen Bruder Ander, euren Stadtvorsteher. Er ist mit euren Liebsten gezogen und wenn ich eines über ihn mit großer Bestimmtheit sagen kann, dann dass er alles unternehmen wird, dass sie zurückkehren. Wenn er ihnen dadurch schlaflose Nächte bereitet und ihnen den Appetit verdirbt, ist ihm das gleichgültig. Denn er liebt alle Menschen aus seiner Stadt. Er würde sein Leben für euch geben. Ich mag vielleicht nicht mein Bruder sein, aber ich habe ihm versprochen, dass ich auf euch achten werde. Ich werde diesem aufgeblasenen Baron beweisen, was es bedeutet, aus Merin zu stammen. Das solltet ihr auch tun. Wir haben das Monster gebannt und die Jünger Lessamms vertrieben. Wir werden wohl dazu in der Lage sein, einen Baron in die Schranken zu weisen."

Es war keine gute Rede, aber sie schien den Leuten geholfen zu haben. Hannah atmete erleichtert auf. Sie machte sich auf den Weg zum Rathaus, wurde dort jedoch von einer Gruppe Frauen abgefangen. „Waren Eure Worte wirklich ernst gemeint?", fragte eine von ihnen. Hannah glaubte, sich zu erinnern, dass sie die Tochter des Hufschmieds war.

„Ich lüge nie", behauptete Hannah inbrünstig. „Dieser eingebildete Baron wird sehen, was ihm blüht, wenn er sich mit mir anlegt. Das ist die Stadt meines Bruders und ich werde nicht zulassen, dass ein Begünstigter der Oberen sie für seine Zwecke nutzt."

„Wie redet Ihr denn von mir?", sagte da auf einmal eine Stimme hinter ihr.

Hannah zuckte zusammen. Die Frauen, die sie eben noch umringt hatten, suchten eilig das Weite. Mit einer bemüht neutralen Miene drehte Hannah sich um. Hinter ihr stand ein junger Mann mit flachsblondem Haar, welches er zu einem Zopf gebunden hatte. Er musterte sie intensiv, bevor sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.

„Wie kommt Ihr hier herein?", fragte Hannah kalt.

„Oh, Hauptmann Anselm war so nett, mir seinen Schlüssel zu überlassen." Er öffnete seine Handfläche.

„Der Schlüssel gehört Euch nicht. Ich weiß nicht, wie Hauptmann Anselm an ihn gelangt ist, aber er hatte kein Recht dazu", sagte sie giftig.

„Wer seid Ihr?", fragte der junge Mann neugierig.

„Das sollte ich wohl eher Euch fragen."

„Mein Name ist Walter, der achte Baron von Kard."

„Das ist ein schrecklicher Name", entfuhr es Hannah.

„Seid Ihr immer so direkt?", wollte der Baron wissen. Hannah konnte seiner Miene nicht entnehmen, ob er sich über ihre Worte ärgerte.

„Ist Euer Vater nicht im Gefängnis?"

„Woher wisst Ihr das?", fragte er nun verblüfft. „Es wurde doch geheim gehalten."

Hannah freute sich über seine Miene. „Manche Dinge kann man nicht geheim halten." Sie stieg die Stufen zum Rathauseingang hinauf und betrat das Gebäude. Bedauerlicherweise folgte der Baron ihr.

„Was wollt Ihr?", schnauzte sie ihn an.

„Ich habe hier das Sagen. Die Oberen haben mich..."

Verärgert drehte sie sich um und trat auf ihn zu, sodass er zurückweichen musste, wenn er den Anstand wahren wollte. Schließlich stand er mit dem Rücken zur Wand und Hannah drückte gegen seinen weinroten Mantel aus edlem Stoff. „Lass uns eines klarstellen: Das hier ist nicht deine Stadt. Du kannst gerne in deiner Baronei weiter vor dich hin leben, während die Männer Merins im Krieg fallen, den du niemals erleben wirst, bis die acerianischen Truppen vor deiner Haustür stehen, weil sämtliche Seylaner gefallen sind. Genieß dein Leben, solange du es noch hast, aber lass mich hier die Dinge in Merin regeln. Ich kenne diese Stadt und ich kenne ihre Bewohner. Ich weiß, was sie wollen und was sie brauchen. Du hingegen bist hier neu und du weißt rein gar nichts. Also bilde dir bloß nichts auf deinen Titel oder deine Bekanntschaft zu den Oberen ein, die dir deinen adeligen Hintern gerettet hat."

Vorsichtig ergriff der junge Mann ihren Finger, mit dem sie die ganze Zeit auf ihn eingestochen hatte und zwang ihre Hand zu Boden.

„Man hat mich vor dir gewarnt", sagte er.

Hannah verengte ihre Augen zu Schlitzen. „Dann weißt du ja, worauf du dich gefasst machen kannst."

Er atmete tief durch und fuhr sich durchs Haar, sodass sich einige Strähnen aus dem Zopf lösten. Er sah überraschend gut aus, mit seinem kantigen Kinn, den braunen Augen und der langen Nase. Erst nachdem sich der Baron räusperte, wurde ihr bewusst, dass sie ihn gerade unverschämt angestarrt hatte. Auch er schien den Faden verloren zu haben. „Ich...", sagte er wenig wortgewandt. Dann räusperte er sich erneut. „Würde es Euch etwas ausmachen, etwas nach hinten zu treten?"

Verlegen gehorchte Hannah. Sie hatte ihrem Bruder ein Versprechen gegeben. Sie hatte ihm geschworen, sich zu beherrschen und obwohl Ander erst seit einem Tag weg war, hatte sie es bereits gebrochen.

Sie schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid", entschuldigte sie sich. „Ich bin etwas aufgebracht."

„Das habe ich gemerkt." Allerdings schien er nicht sonderlich verärgert. Stattdessen starrte er sie weiter an.

„Wollt Ihr etwas trinken?", fragte Hannah, nur um die Stille zu brechen.

„Sehr gerne", antwortete er etwas verzögert.

Er folgte ihr in ein kleines Zimmer, in dem sich Ander häufig mit Stadtbewohnern getroffen hatte, denen etwas auf dem Herzen lag.

Hannah entzündete ein Feuer und bereitete Tee zu, dem einzig passenden Getränk für diese Jahreszeit. „Ich hoffe, Ihr erwartet keinen Alkohol."

Der Baron schüttelte den Kopf. „Ich habe noch viel Arbeit vor mir."

„Ihr habt also ernsthaft vor, diese Stadt zu regieren?", fragte Hannah mit scharfem Unterton.

„Das ist es, wozu ich gekommen bin. Es gibt keine Männer hier, die dazu in der Lage wären."

„Es gibt mich."

„Ihr seid eine Frau."

„Habt Ihr ein Problem damit?"

Erneut musterte er sie. Jetzt, wo sie den Mantel ausgezogen hatte, weil ihr durch das Feuer warm geworden war, war ihre weibliche Figur deutlich erkennbar. „Eigentlich ganz und gar nicht", gab der Baron etwas verspätet zur Antwort.

Sie stellte eine Tasse vor ihm auf den Tisch. Der Tee schwappte gefährlich auf und ab. Er betrachtete die rötliche Flüssigkeit ebenso intensiv, wie er es zuvor bei ihr getan hatte.

„Werdet Ihr mir helfen?", fragte er zu ihrer Überraschung.

„Wie bitte?"

Er seufzte. „Ihr habt recht. Ich kenne diese Stadt nicht. Ich weiß nicht einmal viel darüber, wie man über Leute bestimmt. Bis vor einem halben Jahr hat mein Vater über unsere Ländereien geherrscht. Das war ehe..."

„... ehe seine Vorliebe für Frauen und sein Pakt mit Banditen bekannt wurde?"

„Woher wisst Ihr so gut darüber Bescheid?"

„Ich habe meine Quellen", sagte Hannah. Dass Alyn ihr das einmal erzählt hatte, verschwieg sie ihm. Was würde ein Baron denken, wenn er von der Herzogstochter erfuhr?

„Ich bin nicht mein Vater", erklärte er eindringlich. Diese Tatsache schien ihm besonders wichtig zu sein.

„Ihr werdet es mir beweisen müssen."

„Helft mir. Steht mir zur Seite. Die Oberen haben mir befohlen, diese Stadt zu regieren und das werde ich tun. Ich bin kein Rebell oder Widerständler. Ich möchte einfach meine Ruhe haben. Aber zugleich möchte ich Euch aus irgendeinem Grund nicht vor den Kopf stoßen. Ihr habt mehr Recht, diesen Posten einzunehmen als ich jemals haben könnte. Aber Ihr wisst, dass die Oberen das nicht zulassen. Also schließt mit mir einen Pakt. Ich helfe Euch und Ihr helft mir."

Hannah zögerte. Sie betrachtete seine arrogante Visage, seine glatte Haut. Er war ein Mann, der nie viel hatte arbeiten müssen, der immer bekommen hatte, was er wollte. Am liebsten hätte sie nein gesagt, einfach um ihm zu beweisen, dass nicht immer alles nach seinem Willen geschah.

Aber sie musste an Ander denken, der auf sie vertraute, an Celia, die sich an ihren Arm festgeklammert hatte und an die Frauen, die heute ihren Worten gelauscht hatten. Momentan brauchten die Menschen sie. Bis zum Frühling konnte sie ihren Plan nicht weiter ausführen. In dieser Zeit waren ihr die Hände gebunden. Sie würde pflichtbewusst für diese Stadt sorgen, würde ihr Versprechen gegenüber Ander halten. Und dann würde sie weitersehen.

Sie blickte auf. „Also schön", sagte sie. Sie ergriff die Hand, die er ihr entgegenstreckte und schüttelte sie.

Er grinste. „Sollte ich dann nicht Euren Namen erfahren, wenn wir schon so eng zusammenarbeiten werden?" Seine Worte weckten in ihre eine Vorstellung, die sie sofort wieder verdrängte. Sie lehnte sich zurück, um einen möglichst großen Abstand zwischen ihnen herzustellen.

„Ich bin Hannah", sagte sie. „Einfach nur Hannah."

„Also schön", wiederholte er ihre Worte. „Einfach nur Hannah. Nenn mich Walter."

Sie hasste diesen Namen jetzt schon. Ihr graute bei dem Gedanken, dass sie diesen Mistkerl noch bis zum Frühjahrsbeginn ertragen musste. Aber sie würde keinesfalls aufgeben. Der junge Baron würde schon noch begreifen, dass sie niemand war, dem man Vorschriften machte.

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