Kapitel 53

Zum zweiten Mal verlor Hannah ein Familienmitglied an die Oberen. Auch wenn Ander nicht getötet wurde, sondern nur in den Krieg ziehen musste, fühlte es sich an, als würde ihr das Herz aus der Brust gerissen werden.

Celia hing an ihrem Arm. Die junge Frau schniefte in ein Taschentuch, die Augen gerötet vom vielen Weinen. Hinter ihnen hatten sich zahlreiche Meriner versammelt. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Frauen und Kinder, die ihre Väter und Ehemänner verabschieden mussten. Die wenigen Männer, die zurückblieben, waren bereits betagt. Vielleicht war es eine grausame Art der Oberen, sich an den Städtern zu rächen, die sich vergangenen Sommer der Gewalt der Oberen entzogen hatten und stattdessen den Jüngern Lessamms gefolgt waren. Denn sie ließen wirklich keinen einzigen Mann im kampffähigen Alter zurück.

Hannah warf einen finsteren Blick auf die Soldaten, die das Geschehen scharf beobachteten und bereit waren einzugreifen, sollte einer der Männer auf den Gedanken kommen und versuchen zu fliehen.

Ander stand inmitten der Menge und obwohl er genauso bleich war wie alle anderen, gab er Einweisungen und sprach Trostworte. Schließlich bahnte er sich seinen Weg bis zu Celia und Hannah. Nur die Kette aus seylschen Soldaten verhinderte, dass er seine Verlobte in die Arme schließen konnte.

„Hannah", sagte er mit zittriger Stimme. „Versprich mir, dass du dich gut um Celia kümmerst. Und um Merin. Wenn ich nicht da bin, muss jemand die Stadt leiten und dieser kleinliche Baron, den die Oberen als Vertretung eingesetzt haben, wird es nicht tun."

Sie warf einen Blick auf die Soldaten. Ander bemerkte es. „Ich weiß, dass sie uns hören können. Es ist mir gleich. Sie haben uns alle zum Tode verurteilt und das wissen sie. Sie können mir nichts mehr anhaben, denn sie brauchen jeden Mann."

Einer der Soldaten wechselte unruhig von einem Bein auf das andere. Ihm schienen Anders Worte nicht zu behagen, aber er schwieg, wie es seine Aufgabe war.

„Ich bin eine Frau. Ich kann das nicht. Sie werden es niemals zulassen."

Ander musste grinsen. „Wer bist du und was hast du mit meiner Schwester gemacht?" Sein Grinsen verrutschte und er wurde wieder ernst. „Ich weiß, dass du es kannst. Jetzt ist nicht der richtige Moment zu verzagen. Das ist deine Chance. Du musst sie nutzen. Zeig diesem Baron, dass sich Meriner nicht unterkriegen lassen. Alles wird gut."

„Ich hasse dich", rief Hannah aus. „Nichts wird gut. Die Oberen..."

„Alles wird gut", wiederholte Ander eindringlich und ihr wurde bewusst, dass sie beinahe eine Straftat begangen hätte. Es war nicht gestattet, die Oberen zu kritisieren. Unter Gleichgesinnten mochte das kein Problem sein, aber inmitten von treuen Soldaten war es ein großer Fehler.

„Komm bloß wieder nach Hause."

Ander nickte langsam und wandte sich an Celia. „Hannah wird sich um alles kümmern", sagte er mit Zuversicht in der Stimme. Zuversicht, die Hannah nicht fühlte. Auf einmal hatte sie das, was sie sich immer gewünscht hatte. Eine Arbeit, die sie erfüllte. Aber sie hätte sie sofort getauscht, wenn sie dadurch ihren Bruder zurückbekam.

„Bitte, geh nicht", flehte Celia. „Wir brauchen dich doch." Sie strich sich unbewusst über den Bauch und Hannah riss die Augen. Bedeutete das...

Ausnahmsweise konnte sie sich beherrschen. Celia und Ander waren nicht verheiratet und sie wollte ihnen den Abschied nicht vermiesen, indem sie unbequeme Fragen stellte. Trotzdem nahm sie sich fest vor, dass sie alles tun würde, um das Ungeborene zu schützen und dafür sorgen würde, dass es in einer heilen Familie aufwuchs.

Egal, was es kostete.

Hauptmann Anselm trat auf Ander zu. Er wirkte unangenehm berührt, die vielen weinenden und trauernden Gesichter schienen ihm nahezugehen.

„Dieser Krieg ist eine Katastrophe", gestand er. Dann besann er sich jedoch. „Aber wir werden ihn gewinnen, denn hier sehe ich tausende tapfere Männer."

Hannah sah mehr einfache Bauern und Handwerker, die sich zu Tode fürchteten und dem Krieg zum Opfer fallen würden.

Anselm wandte sich ihrem Bruder zu. „Ihr werdet doch dafür sorgen, dass Eure Leute keinen Fehler begehen, nicht wahr?"

Ander nickte stumm.

Hannah konnte nicht an sich halten. „Warum habt Ihr eine Ersatzliste angefertigt, wenn Ihr sowieso von Anfang an geplant hattet, sämtliche Männer im kampffähigen Alter mitzunehmen?"

Er hob die Braue. „Du bist doch die Kleine. Anna? Egal. Weißt du, es ist ganz einfach. Hoffnung. Jeder hofft darauf, auf dieser Ersatzliste zu landen und nicht zu kämpfen. Hoffnung macht Menschen verzweifelter. Verzweifelte Menschen sind zu mehr Dingen bereit und das, was wir brauchen sind Kämpfer."

„Das ist grausam. Es gibt den Menschen Hoffnung, aber es raubt sie ihnen zugleich. Was nützt es ihnen, wenn sie nicht mehr schlafen können, sich einreden, alles wird gut und dann am Ende die bittere Wahrheit erfahren? Dass sie nur angelogen wurden?"

Anselm trat näher an sie heran. Er überragte sie um einen Kopf und sie konnte seinen stinkenden Atem riechen. „Du hast ein erstaunlich loses Mundwerk, meine Liebe."

Es kostete sie alle Überwindung nicht zurückzuweichen. „Ich spreche nur die Wahrheit."

„Du solltest weniger reden und mehr dienen", sagte er mit anzüglichen Blick auf ihren, von mehreren Lagen Stoff verhüllten Körper. Sie wollte ihm ins Gesicht spucken, aber Anders Stimme ließ sie innehalten.

„Verzeiht meiner Schwester. Sie ist nur aufgewühlt, weil ich sie allein zurücklasse."

„Sie ist ein Biest", brummte Anselm, aber immerhin marschierte er weiter. „Ich beobachte Euch", sagte er davor jedoch noch zu Ander, der allerdings nicht mit der Wimper zuckte.

Kaum war er außer Hörweite wandte Ander sich seiner Schwester zu. „Gratulation", knurrte er sarkastisch, was an sich gar nicht seine Art war. Hannah konnte sich nicht erinnern, wann er jemals einen Anflug von schwarzen Humor gezeigt hatte. Das war mehr Senns Art. Vielleicht hatte der Meuchelmörder mehr auf ihren Bruder abgefärbt als gedacht. Es bewies zumindest, wie aufgewühlt er wirklich war.

„Ich konnte ihn doch nicht einfach damit durchkommen lassen", erwiderte Hannah. „Er ist ein ungehobelter Mistkerl."

Celia schluchzte bei ihren Worten wieder auf. Hannah hätte ihren Rücken gestreichelt, aber die junge Frau hielt ihren Arm so fest umklammert, dass es ihr nicht gelang, sich zu befreien.

„Wir sind immer noch nicht allein", sagte Ander mit einem Seitenblick auf die Wachen, die immerhin so taten, als würden sie nicht lauschen.

„Na, und? Ich schäme mich nicht für meine Worte, denn ich habe recht."

Ander seufzte. „Bitte, Hannah, pass auf was du sagst. Ich möchte wenigstens euch in Sicherheit wissen. Ihr beide seid die zwei Menschen, die mir am wichtigsten auf der ganzen Welt sind. Für euch kämpfe ich. Bring das mit deinem leichtfertigen Handeln nicht in Gefahr."

Die Wachen drängten Ander zurück und sofort wurde er von einer Schar Männer umringt. Obwohl ihr Bruder erst für kurze Zeit Stadtvorsteher war, so hatte er sich längst unentbehrlich gemacht. Die Meriner vertrauten ihm und Hannah nahm sich vor, seine Rolle so gut wie möglich zu erfüllen.

Während alle um sie herum weinten und klagten, vergoss sie keine einzige Träne. Stattdessen wurde sie von einem kalten Zorn erfüllt. Das war nicht gerecht.

Nach und nach zerstreute sich die Menge. Hannah wusste, dass sie möglicherweise aufmunternde Worte gebraucht hätte, aber was konnte sie den Merinern schon sagen? Dass ihre Männer, Väter und Söhne wahrscheinlich nie mehr zurückkehren würden? Dass sie den Krieg trotz allem verlieren würden? Dass sie am Ende unter einer neuen Herrschaft leiden würden?

Im Gegensatz zu Ander wusste sie nicht, was die Menschen brauchten. Sie wollte sie nicht anlügen. Sie konnte es nicht. Also schwieg sie, stand dort auf dem leeren Platz vor dem Stadttor. Irgendwann würde die Sonne untergehen, aber das kümmerte sie nicht. Die Männer waren weg, niemand würde an ihrer Stelle die Tore verschließen.

Irgendwann löste sich auch Celia von ihr. „Ich muss nach Hause", murmelte sie mit rauer Stimme.

Hannah nickte wie betäubt. Ihre Zunge, die zuvor noch lautstark argumentiert hatte, war wie gelähmt. Die Kälte durchdrang sie. Der Schnee hatte sich längst einen Weg in ihre Stiefel gesucht, wo er langsam geschmolzen war und ihre Socken durchnässt hatte. Die weiße Landschaft verschmolz mit dem trüben Grau des Himmels und egal wie sehr sie ihre Augen auch anstrengte, von den Männern war außer ihren Fußabdrücken keine Spur geblieben.
Allmählich begann es zu schneien. Flocken verfingen sich in dem roten Haar, das unter ihrer Mütze hervorquoll. Sie bedeckten die Fußspuren mit neuem, weißen Schnee, bis die Landschaft wieder unberührt und unschuldig wirkte.

Hannah rührte sich nicht vom Fleck. Nur leicht zitterte sie vom Zorn, der sie immer noch durchflutete. Sie vertraute auf Senn und auf Alyn. Ja, auch auf Rosena. Sie glaubte fest daran, dass es ihnen gelingen würde, das Land zu retten. Doch dafür benötigten sie Zeit. Zeit, die ihr Bruder nun wahrscheinlich nicht mehr hatte.

Sie spürte die Kälte auf ihren Wangen und schließlich fasste sie einen Entschluss.

Langsam drehte sie sich um, machte sich auf den Weg zurück ins Stadtinnere. Der Torbogen über ihr warf einen leichten Schatten und das obwohl nicht einmal die Sonne schien. Der graue Stein wirkte so kalt und abweisend, wie auch die Stadt, die sich dahinter verbarg. Auch wenn Rauchsäulen aus den unzähligen Schornsteinen quoll, wirkte Merin verlassen.

Die Stadt war immer ihre Heimat gewesen, doch nun ging ihr auf, dass sie in Wahrheit Anders gewesen war.

Sie stapfte durch den Schnee, bis sie vor ihrem Haus in der Kohlgasse stand. Ihre Finger waren ganz steif, als sie aufsperrte. Dahinter erwartete sie nur die Kälte eines verlassenen Heims. Niemand hatte den Kamin angezündet, nirgends brannte Licht. Trotzdem roch es vertraut. Nach Holz und ganz entfernt nach dem Tee, den sie heute Morgen gemeinsam getrunken hatten.

Hannah hatte sich nie nach einem Mann gesehnt. Ihr war ihre Unabhängigkeit wichtiger. Natürlich war ihr bewusst, dass sie früher oder später aus diesem Haus ausziehen musste, wenn sie Ander und Celia nicht im Weg sein wollte, doch erst jetzt wurde ihr klar, wie einsam sie eigentlich war.

Sie schürte das Feuer im Kamin und kochte sich eine Suppe, denn mehr hätte sie sowieso nicht heruntergebracht.

Lange saß sie in ihrem Sessel und tat einfach gar nichts, außer dem Feuer beim Herunterbrennen zuzusehen.

Danach stieg sie wie benommen hinauf und ging in ihr Zimmer. Die vielen Gerüche, die sie sonst immer willkommen hießen, erdrückten sie heute. Sie starrte auf die Flakons und Fläschchen mit Giften und Heilmitteln, Tränken und Parfüms. Als sie jünger gewesen war, hatte Hannah immer Heilerin werden wollen. Später hatte sie entdeckt, dass sie gewisses Talent im Umgang mit Tränken zeigte. Aus ihrer anfänglichen Faszination war nach kurzer Zeit ihre große Leidenschaft geworden.

Sie holte das große Buch unter ihrem Bett hervor, das sie dort vor Ander verborgen hielt. Allerdings hegte sie den Verdacht, dass ihr Bruder längst wusste, womit sie sich ihre Zeit vertrieb.

Das Buch hatte sie einst aus der Privatbibliothek Alastairs gestohlen. Bei seinem Besuch hatte er sie in einem kurzen unbeobachteten Moment auf die Seite gezogen und augenzwinkernd gefragt, ob ihr das Buch etwas genützt hatte. Er schien ihr nicht zu grämen, stattdessen meinte er, dass es ihr wohl bestimmt sei, dieses Buch für ihre Zwecke zu nutzen.

Aber erst heute hatte Hannah verstanden, warum es wirklich in ihrem Besitz war. Sie blätterte und blätterte, bis sie genau den richtigen Trank fand. Auch wenn sie keinerlei Magie wirken konnte, so besaß sie gewisse Macht. Sie las das Rezept, merkte sich die Kräuter und Zutaten, die ihr noch fehlten.

Im Winter war es nicht leicht, alles davon aufzutreiben, aber sie hatte Zeit bis zum Frühling. Entschlossen klappte sie das Buch wieder zu und aus alter Gewohnheit versteckte sie es wieder unter dem Bett, auch wenn nun niemand mehr da war, der es entdecken konnte. Anschließend setzte sie sich in Anders Arbeitszimmer und begann einige Briefe zu verfassen.

Es würde zwar eine Weile dauern, bis diese ihre Empfänger erreichten, aber sie hatte Zeit.

Außerdem musste sie noch eine Stadt führen. Der Baron würde erst morgen eintreffen.

Mit einem befriedigenden Gefühl ging sie zu Bett.

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