Kapitel 52
Misstrauisch warf ich ihm einen Seitenblick zu. Er bemerkte es nicht. Sein kurzes Zöpfchen wippte am Hinterkopf auf und ab, während er ausschritt, um mit Farah mithalten zu können. Trotz der Hitze schien er nicht zu schwitzen. Und das obwohl sein kompletter Körper in schwarze Leinen gehüllt war. Die Kapuze, die er zum Schutz gegen die unnachgiebige Kraft der Sonne tragen sollte, hatte er nach hinten geschoben. Vielleicht stammte er von den Gareti ab, dem wandernden Wüstenvolk. Ich hatte mich in all den Jahren nie mit diesem meiner Meinung nach lebensfeindlichen Ort anfreunden können.
Kurz warf ich einen Blick auf meine Hand. Immerhin bräunte ich schnell im Vergleich zu den meisten Nordländern.
„Wie willst du in die Festung gelangen?", fragte mich Sphen ganz unvermittelt.
Ich seufzte. „Ich werde mich stellen."
Er schüttelte den Kopf. „Du bist des Wahnsinns. Sie werden dich sofort töten. Das ist lebensmüde."
„Hast du einen besseren Vorschlag?" Er zuckte zusammen, als er die Schärfe in meiner Stimme hörte.
„Nein", meinte er schließlich.
Nachdem wir eine Weile schweigend weitergewandert waren, ergriff er erneut das Wort. „Wir könnten uns ins Innere schleichen."
„Ach ja, und wie?"
„Nun ja, ich könnte..." Er unterbrach sich und schwieg auf einmal eisern.
„Du könntest...?" Er hatte mich neugierig gemacht, aber ich erwartete keine Antwort. Umso überraschter war ich, als sie tatsächlich kam.
„Ich würde ohne Probleme ins Innere gelangen."
„Und würdest du auch Alyn und Rosena befreien können?"
„Vielleicht."
Ich seufzte. „Ein Vielleicht genügt mir nicht. Ich muss mir sicher sein. Ich möchte nicht, dass du auch noch erwischt wirst. Ich habe dich damals nicht vor den Assassinen gerettet, nur damit du nun doch durch ihre Hand stirbst."
„Und du?"
Ich lachte bitter auf. „Wenn ich erst einmal in der Festung bin, werden sie mich nicht mehr töten. Zumindest nicht sofort. Sie kennen keine Gnade mit ihren Opfern und sie hegen keinerlei Gefühle bei ihren Morden. Mich jedoch wollten sie schon so oft umbringen, aber ich bin ihnen immer entkommen. Das hat die Sache zu einer persönlichen Angelegenheit aller gemacht. Sie wollen an mir ein Exempel statuieren und das können sie nur, wenn sie mich lebendig gefangen nehmen."
Sphen schüttelte den Kopf. „Soll ich mir jetzt Sorgen machen, wie gut du dich in sie hineinversetzen kannst?"
„Ich war einer von ihnen. Ich habe meine ganze Jugend unter ihnen verbracht und ich wurde nach ihrem Verständnis erzogen. Ich weiß, wie sie denken. Das solltest du auch", fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu.
„Ich habe mich ihnen nie verbunden gefühlt. Ich wollte nur dich. Alle anderen waren mir egal." Seine Stimme klang fast gelangweilt.
„Wie viel hast du getötet?", fragte ich unvermittelt.
Diese Frage überraschte ihn sichtlich. Kurz zögerte er und ich dachte, er würde nicht antworten. Dann seufzte er. „Acht."
„Das sind nicht viele."
„Ich hatte Glück. Meist haben sie mich nur zu Spionagezwecken eingesetzt."
Er blickte zu mir auf und seine Augen leuchteten in der Farbe von flüssigem Honig. „Wie viele hast du getötet?"
Ich schauderte kurz, als ich an all die Morde zurückdachte. „Zu viele." Dutzende Gesichter erschienen vor meinem inneren Auge. Auch wenn ich bei den meisten nicht einmal den Namen wusste, so hatte ich kein Gesicht jemals vergessen. Arme, Reiche, Männer, Frauen, jeden Alters und jeder Nation. Nur keine Kinder. Niemals. Trotzdem konnte ich mir nicht vergeben.
Vor allem seit Alyn mein Gewissen, das ich tief in meinem Inneren versenkt hatte, wieder so grausam an die Oberfläche gezehrt hatte. In Seyl hatte ich sieben Menschen getötet, in Skaramesch mehr als fünfmal so viele.
Farah schnaubte und ich tätschelte ihr gedankenverloren den Hals.
Allmählich begann es kühler zu werden. Es würde nicht lange dauern und es wäre eisig kalt. Die Sonne tauchte hinter den Horizont und die Wüste begann zu leben. Schatten huschten über den harten Boden und Farah scheute kurz.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Stute mitzunehmen, aber ich wusste, ich würde nicht so weit laufen können. Zu meinem Glück kannte ich die Strecke zur Schattenfeste in und auswendig, wusste an welchen Stellen man rasten konnte und wo sich einige spärliche Gräser fanden.
Ich ließ sie noch eine Weile weiter marschieren, während ich meinen Mantel aus der Tasche zog und ihn um mich wickelte. Trotzdem klapperten meine Zähne recht bald aufeinander.
Sphen schien die Kälte nichts auszumachen. Munter blieb er mit mir auf einer Höhe. Dabei erinnerte er mich so sehr an Alyn, dass mir ganz schwer zumute wurde. Wie mochte es ihr wohl gehen? Die Assassinen würden es nicht wagen, ihr etwas anzutun. Sie wollten mich und solange ich nicht auftauchte, waren sie und Rosena in trügerischer Sicherheit.
„Hier können wir rasten", entschied ich schließlich. Wir waren an einen einsamen Felsen gelangt, der eine Art Überhang besaß, unter dem wir etwas geschützt waren. Sphen ließ sich sofort auf den Boden fallen, ohne ihn auf giftiges Getier zu untersuchen. Ich stieg wesentlich vorsichtiger ab und untersuchte unseren Lagerplatz erst.
„Hier ist nichts", gab Sphen ungeduldig von sich.
„Ach ja?", murmelte ich, während mein Blick auf den Boden gehaftet blieb. „Und was ist das?" Auf meiner Dolchspitze befand sich ein aufgespießter Skorpion. Der junge Mann wurde bleich.
Ich zuckte nur mit den Schultern. Vorsichtig säuberte ich meine Klinge. Dann holte ich ein Bündel Heu hervor, das ich auf den Boden schmiss. Sofort begann Farah hungrig zu fressen und ich legte ihr eine Decke auf, damit sie nicht so frieren würde. Als die Stute versorgt war, brach ich einige Äste von einem dürren Busch ab, der sein Leben wohl schon vor einige Zeit ausgehaucht hatte.
Kurz darauf prasselte munter ein kleines Feuer, dessen Wärme meinen eisigen Körper auftaute.
Sphen beobachtete mich dabei. „Du bist nicht zum ersten Mal in der Wüste", stellte er schließlich fest.
„Wie brillant", meinte ich zynisch. Etwas ernster fuhr ich fort. „Ich blieb sooft und solange es ging in Agba, aber früher oder später musste ich wieder in die Festung zurück. Sie haben mir wohl nie richtig über den Weg getraut." Andere Assassinen bekamen ihre Aufträge durch Mittelsmänner, sodass sie nach ihrer Ausbildung die Feste teilweise nie wieder zu Gesicht bekamen.
„Du warst ihr Vorzeigeobjekt", meinte Sphen und ich zuckte mit den Schultern.
„Ich war nicht mehr als ein eingesperrtes Tier, eine exotische Wildkatze aus fernen Ländern, die sie nur immer dann aus ihrem Käfig holten, wenn sie damit angeben wollten."
Ein Hauch Bitterkeit schwang in meinen Worten mit, den es mir nicht zu unterdrücken gelang. Ich wandte mich von Sphen ab und starrte in die Wüste. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Farah, die zufrieden ihr Maul in den Heuhaufen gesteckt hatte. Kurz überkam mich Angst, dass sie in der Wüste sterben könnte. Sie war kein Kamel.
Es gab nicht viele Pferde, die diesen extremen Temperaturschwankungen und den harten Lebensbedingungen trotzen konnten. Farah war nicht Wüstenwind.
Über unseren Köpfen tat sich der Nachthimmel auf. Abermillionen von Sternen schienen vom Firmament und ich fragte mich, ob Alyn jetzt in diesem Moment die Möglichkeit hatte, ebenfalls das großartige Spektakel des Wüstenfalls zu sehen.
Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass es heute wieder einmal so weit sein würde, aber auf einmal begannen sich die Sterne von ihrem angestammten Platz zu lösen und alle Richtung Erde zu streben, während sie lange, hell leuchtende Schweife hinter sich herzogen. Ich hoffte, sie würde es sehen können. Es würde ihr gefallen. So gebannt ich sonst immer in den Himmel gestarrt hatte, so wenig konnte ich jetzt noch zusehen. Beschämt wandte ich den Kopf ab und betrachtete den harten Stein unter mir. Das Feuer ließ Schatten über den unebenen Grund gleiten, während einzelne Funken am Boden erloschen. Ganz wie seine großen Verwandten, die vom Himmel stürzten.
Sphen hatte sich auf den nackten Boden gelegt, die Hände unter dem Kopf verschränkt und nach oben starrend. Seine Augen glänzten im Licht des Feuers und ich fragte mich, ob ich ihm vertrauen konnte. Es widerstrebte mir, aber wenn ich Alyn retten wollte, dann würde ich es wohl tun müssen.
„Wir sollten Wache halten." Meine Worte brachen die angenehme Stille, in der selbst das Prasseln des Feuers laut schien.
Sphen richtete sich auf. „Warum?", fragte er. „Hier ist doch sowieso niemand."
„Vielleicht nicht jetzt", murmelte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Mann, du leidest echt unter Verfolgungswahn." Er hatte das in einem so leichten Tonfall gesagt, dass mir ganz schwer ums Herz wurde. Er war noch so jung. Wahrscheinlich nicht älter als Rosena. Auch wenn ich ihn in dieses grausame Leben gedrängt hatte, indem ich einst seine Eltern tötete, so hatte er doch noch immer eine Leichtigkeit an sich, die in den seltsamsten Momenten zum Vorschein kam.
„Tiere."
Er starrte mich an. „Was?"
„Die Wüste mag vielleicht ein lebensfeindlicher Ort für einen Großteil aller Wesen sein, aber es gibt genug, die sich gerade diese Tatsache zu Nutzen gemacht haben. In der Wüste geht es ums Fressen und gefressen werden. Hier leben einige der giftigsten Lebewesen überhaupt. Ich würde mich ungern überraschen lassen."
Sphen schien kurz zu überlegen. Er betrachtete mich mit einem seltsamen Blick, bis er das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog. „Klar. Natürlich."
Ich runzelte die Stirn und musterte ihn etwas länger, als der Anstand gebot. Irgendetwas störte mich. Er erwiderte meinen Blick ohne jegliche Furcht und wagte es sogar, herausfordernd eine Braue zu heben.
Schließlich seufzte ich. „Du kannst ruhig etwas schlafen. Ich übernehme die erste Schicht." Ich drehte mich weg und lehnte mich an den Fels. Es würde eine harte Nacht werden, schließlich hatten wir keine weichen Betten, sondern nur einfache Decken, durch die man jedes Sandkorn spüren konnte.
Das Feuer wurde schwächer, während die Zeit verging. Sphen hatte sich direkt daneben niedergelegt, um wenigstens ein bisschen Wärme zu spüren. Sein leises Schnarchen und Farahs gelegentliches Schnauben ließen mich träge werden, sodass ich nach einer Weile aufstand um mir die Füße zu vertreten.
Bis jetzt hatten sich uns keine Tiere genähert. Vermutlich mieden sie das Licht, das unser Feuer ausstrahlte. Ich warf noch einige dünne Zweige in die Flammen, die sofort wieder etwas aufloderten. Farah hob den Kopf, als ich zu ihr trat. Ich strich ihr über das warme und weiche Fell. Obwohl ich sie an dem Baum festgemacht hatte, würde sie wohl - sollte sie sich in Panik befinden - einfach davon galoppieren können. Nicht weil mein Knoten nicht gut genug wäre, sondern vielmehr weil ich den Wurzeln dieses verkrüppelten Pflänzchens nicht über den Weg traute.
Aus dem Augenwinkel glaubte ich eine Bewegung zu erkennen. Das Messer war schneller geworfen, als ich bewusst darüber nachdenken konnte. Ein dünnes Kreischen ertönte, das eine Weile anhielt, bis es unvermittelt abbrach. Langsam trat ich an den zusammengesunkenen Haufen. Statt das Tier direkt zwischen den zwei Rippenbögen, hinter denen das Herz lag, getroffen zu haben, hatte sich das Messer in seinen Bauch gebohrt, sodass es elendiglich verblutet war. Vor ein paar Monaten wäre mir das noch nicht passiert.
Auf einmal fühlte ich mich müde. Wie hatte sich nur so viel ändern können? War ich immer noch derselbe?
Bevor ich mich zu sehr auf meine düsteren Gedanken konzentrierte, zog ich das Messer aus dem noch warmen Leib. Kurz war ich versucht, es zu Proviant zu verwerten, aber Fleisch wurde in der Wüste viel zu schnell schlecht. Außerdem sollten wir noch genug Vorräte haben.
Also zog ich es etwas abseits, sodass sich andere Tiere an ihm gütlich tun konnten. Nachdem ich mich wieder unter den Schutz des Felsens begeben hatte, bildete ich mir ein, schmatzende Laute zu hören.
Farah hob angespannt den Kopf, senkte ihn aber wieder. Beruhigt begann ich an einem Holzstück zu schnitzen. Ich besaß kein Talent und so war das Ergebnis eher erschreckend, aber die eintönige Arbeit hatte etwas Beruhigendes an sich.
Auch wenn ich nicht genau sagen konnte, wie viel Zeit vergangen war, weckte ich Sphen. Mein akkurates Zeitgefühl war ebenso verschwunden wie mein Orientierungssinn. Hätte ich nicht schon genug Probleme, würde ich mir darüber ebenfalls Sorgen machen.
Sphen grunzte unwillig und drehte sich auf die andere Seite.
„Ich hätte dich bestimmt fünfmal töten können, bis du überhaupt die Augen aufgemacht hast. Du bist ein schrecklicher Assassine."
Er hob nur müde eine Hand und winkte ab. Jetzt, wo er so vor mir lag, kam mir seine Macht nur wie ein Traum vor, und doch hatte er mich mühelos überwältigt.
Ich wurde nicht schlau aus ihm.
Nachdem er sich endlich aufgesetzt hatte, legte ich mich schlafen. Sobald ich jedoch die Augen schloss, sah ich Alyn in Ketten und blutig geschlagen vor mir.
Heute Nacht würden die Albträume wieder besonders schlimm sein. Trotzdem dämmerte ich bald weg.
Das Letzte was ich hörte, war Sphens Schnarchen.
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