Kapitel 51

Mir wurde schlecht. Es war alles meine Schuld. Natürlich. Ich hatte vielleicht nicht so viele Feinde wie Malik oder die Oberen, aber die meinen waren umso gefährlicher.

„Trotzdem muss ich zu Jintah. Ich kann nicht einfach verschwinden. Sie werden sich Sorgen machen und auf der Suche nach mir möglicherweise eine Dummheit begehen." Angst überkam mich, als ich daran dachte, was Alyn und Rosena jetzt möglicherweise durchmachten. Die Assassinen waren nicht für ihre Gnade bekannt. Ich konnte mir nur einreden, dass sich die beiden Frauen zu helfen wussten. Allerdings beruhigte mich das keineswegs. Am liebsten wäre ich sofort aufgebrochen, aber wenn ich eines in den Jahren, die ich in der Schattenfeste verbracht hatte, gelernt hatte, dann war das Geduld. Geduld und rationales Handeln.

Dort draußen in der Wüste warteten um die hundert Männer – alle von ihnen ausgebildet in der Kunst des Tötens und keiner von ihnen mit Skrupeln belastet. Für sie war ich die Verkörperung des Bösen. Sobald ich auch nur in ihre Nähe kam, würden sie sich auf mich stürzen.

Sphen runzelte die Stirn. Ich traute ihm nicht über den Weg. Er war mehr, als er vorgab und das verhieß meist nichts Gutes. „Jedes Sandkorn, das du verschwendest, könnte ihren Tod bedeuten."

Ich schüttelte den Kopf. „Du hast dieselbe Ausbildung wie ich durchlaufen. Du solltest wissen, dass unüberlegte Entscheidungen fatal sind."

Er lachte tief und rau. Was waren seine wahren Absichten? Wollte er mir wirklich helfen? Wenn ja, dann ganz sicher nicht aus Nächstenliebe, sondern eher aus Eigennutz.

Ich griff nach meiner Reisetasche und begann wahllos irgendwelche Dinge hineinzustopfen, von denen ich dachte, sie könnten noch nützlich sein. Ich spürte Sphens neugierigen Blick auf mir, aber ich gab der Versuchung nicht nach, mich umzudrehen.

Zum Schluss ergriff ich die Schachtel, die ich eigentlich Alyn hatte schenken wollen. Aus irgendeinem, alles andere als rationalen Grund packte ich sie mit ein. Dann warf ich einen letzten Blick auf das Zimmer. Das Chaos sorgte für eine brodelnde Glut tief in mir. Wenn jemand Alyn oder Rosena etwas antat, würde ich ihn töten. Und im Gegensatz zu all meinen anderen Morden würde ich jede einzelne Sekunde genießen.

Ich trat neben Sphen, der den Raum bereits verlassen hatte. Hinter mir fiel krachend die Tür ins Schloss. Draußen schien noch immer die Sonne. Heiß brannte sie vom Himmel und tauchte die Welt in helles Licht. Wenn es nach meiner Stimmung gegangen wäre, hätte ein heftiges Gewitter über uns hereinbrechen müssen. Am besten mit besonders lautem Donner.

Kasar kam auf mich zugestürzt, aber kurz vor mir bremste er ab und starrte mich mit schiefgelegtem Kopf an. Unsicherheit sprach aus seinen Augen. Ich konnte spüren, wie meine Miene weich wurde, als ich ihm den Kopf kraulte.

Als ich jedoch zwei Beine in schwarzen Hosen aus dem Augenwinkel sah, verdüsterte sich mein Blick wie von selbst. Ich sah auf und starrte direkt in Sphens arrogantes Gesicht. Er hatte den Mund zu einem Grinsen verzogen.

Ungerührt hob ich eine Augenbraue. Niemals würde ich ihm meine wahren Gefühle zeigen. Ohne ihn weiter zu beachten, marschierte ich auf das Haupthaus zu. Kurz verharrte ich vor der Tür, dann klopfte ich zögerlich.

Bevor eine Antwort ertönte, trat ich ein. Das Gebäude schien verlassen und mein Magen verknotete sich. Angespannt tastete ich nach meinen Sennen, die ich zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder umgeschnallt hatte. Mir war es egal, dass mich jemand damit sah. Es machte keinen Unterschied mehr.

Vorsichtig schlich ich voran. Ich wagte es nicht, laut zu rufen.

Aus der Küche kam eine Gestalt und ein gellender Schrei ertönte.

Weit aufgerissene Augen, in denen sich die Angst spiegelte, blickten zu mir empor. Entsetzt machte ich einen Satz nach hinten und ließ die Waffen sinken. Amina rieb sich die Kehle, an die ich einen Moment zuvor die Tänzerin gedrückt hatte. „Kasar", flüsterte sie mit leiser Stimme.

„Bei den Göttern", hauchte ich. Immer noch völlig fassungslos. „Ich hätte dich beinahe getötet."

Obwohl sie vehement den Kopf schüttelte, konnte diese Geste nicht über ihre bleichen Wangen, aus denen das Blut gewichen war, hinwegtäuschen.

Sie streckte die Hand aus und umfasste sanft meinen Arm. „Komm mit", bestimmte sie und ich ließ es geschehen. Ich hätte Amina beinahe umgebracht. Wie hatte es nur so weit kommen können?

Die Skara drückte mich in einen Stuhl und begann in der Küche zu fuhrwerken.

Kurze Zeit später stand eine dampfende Tasse vor mir. Das kräftige Aroma frisch gemahlenen Kaffees drang mir in die Nase und riss mich aus meiner Schockstarre. Amina hatte sich mir gegenübergesetzt und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Unbewusst strich sie mit ihrer Hand immer wieder über ihren Hals. „Was ist passiert?", fragte sie. „Und was macht dieser Fremde da draußen?"

Ich zögerte.

„Ich weiß, was er ist. Du musst mir die Wahrheit sagen." Als sie meinen unsicheren Blick sah, fuhr sie fort. „Die Kinder halten ihren Mittagsschlaf. Jintah arbeitet drüben im Gasthaus und Adam ist mit Maglena auf der Rennbahn. Wir sind also ungestört."

Ich seufzte resigniert. „Die Assassinen haben Alyn und Rosena."

Amina entfuhr ein entsetzter Laut. Sofort schlug sie die Hände vor den Mund.

„Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen." Mein Griff um die Tasse wurde fester, als mich die Schuldgefühle übermannten.

Sie schüttelte den Kopf. „Du hast alles getan."

„Das kann nicht sein. Sonst wären sie noch hier!" Meine Stimme war mit meiner zunehmenden Verzweiflung lauter geworden.

Amina schwieg. Dann hob sie den Kopf. „Darf ich ehrlich zu dir sein?" Sie wartete meine Antwort erst gar nicht ab. „Sie sind nicht entführt worden, weil du nicht gut genug auf sie geachtet hast, sondern weil du ihnen nicht genug zugetraut hast. Ich stamme aus einer Kultur, in denen man als Mädchen schon früh lernt, dass Männer das Sagen haben. Trotzdem wird uns immer eingetrichtert, dass hinter jedem starken Mann, eine nicht minder entschlossene Frau steht. Bei uns wird sehr darauf geachtet, dass das Kräfteverhältnis ausgewogen ist. Es hat keinen Sinn, wenn einer der beiden Partner schwächer ist als der andere. Die Ehe soll eine Herausforderung sein, aber zugleich ausgewogen. Meist hängen wir unser Herz instinktiv an jemanden, der dies ermöglicht." Sie machte eine kurze Pause, um mich eindringlich anzublicken.

„Alyn ist eine starke junge Frau. Sie ist dir in den entscheidenden Dingen ähnlich. Du kannst sie nicht einsperren und dadurch von allen Gefahren fernhalten. Dafür ist sie zu eigenwillig und zu entschlossen. Ebenso wenig wie du zulassen würdest, dass dich jemand festhält, tut sie es. Das Einzige, was du tun kannst, ist ihr die Risiken darzulegen, in der Hoffnung, dass sie von selbst die richtige Entscheidung trifft. Ich weiß, dass du nicht gerne über die Dinge sprichst, die du getan hast. Aber indem du sie vor allem Schlechtem beschützen willst, sorgst du nur dafür, dass sie auf der Flucht vor dir in Gefahr gerät. Mach nicht denselben Fehler wie Badir."

Bei den letzten Worten brach ihre Stimme. Ich erinnerte mich, dass sie mal erwähnt hatte, dass ich sie an ihren verstorbenen Bruder erinnerte. Laut Jintah war dieser dabei umgekommen, seine Verlobte zu retten, die sich von seinem übermäßigen Beschützerinstinkt derart eingeschränkt gefühlt hatte, dass sie weggerannt und in die Fänge von Menschenhändlern geraten war. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Um Aminas Blick auszuweichen, nahm ich einen tiefen Schluck inzwischen nur noch mäßig warmen Quahves.

„Ich muss sie retten", verkündete ich schließlich entschlossen.

Amina nickte. „Wenn jemand das schaffen kann, dann du. Du hast schon immer das Unmögliche möglich gemacht."

Fast wäre ich bei ihren Worten rot geworden.

„Du solltest deinen Freund hereinbitten. Ich möchte ihn sehen."

Der Quahve, den ich gerade schlucken wollte, blieb mir im Hals stecken. Laut begann ich mir die Seele aus dem Leib zu husten, während mir Tränen aus den Augen liefen. Sofort war Amina an meiner Seite und klopfte mir den Rücken.

Schließlich atmete ich tief durch. „Er mag alles Mögliche sein, aber er ist sicher nicht mein Freund." Dieses bestimmte Wort schmeckte schon falsch in meinem Mund.

Amina war davon jedoch recht ungerührt. Sie schmiss sich ihr Geschirrtuch über die Schulter und stemmte die Hände in die Hüften. „Du kannst ihn nicht einfach da draußen stehen lassen."

Ich wollte protestieren, aber wie bei Alyn hätte das zu nichts geführt. Grummelnd erhob ich mich und verließ das Gebäude.

Sphen stand an die Hausmauer gelehnt, die Hände in den Hosentaschen und ein Bein über das andere geschlagen. Sein Gesicht lag halb im Schatten und seine Miene schien nachdenklich. Als er mich kommen hörte, blickte er auf und seine bernsteinfarbenen Augen trafen auf die meinen. Für einen Moment sah ich wieder den kleinen Jungen vor mir, der sich im Schrank versteckt gehalten hatte. Bevor ich ihn grob herausgezerrt und aus dem Fenster geschmissen hatte. Seinen ängstlichen Blick würde ich niemals vergessen können.

Jetzt musterte er mich ausdruckslos. Seine Miene war kühl und nichtssagend. „Komm mit", befahl ich und zu meiner Überraschung richtete er sich auf und folgte mir ins Innere.

Amina kehrte uns den Rücken zu und arbeitete in der Küche. Sie drehte sich nicht um, obwohl sie uns hatte kommen hören.

Keiner schien zuerst das Wort ergreifen zu wollen, sodass wir alle für eine Weile schwiegen. Schließlich wandte sich Amina uns zu. In den Händen hielt sie ein großes Bündel. „Proviant", verkündete sie. Ich öffnete den Mund, aber sie unterbrach mich, bevor ich etwas sagen konnte. „Ich kümmere mich um all meine Kinder. Du magst zwar nicht mein eigen Fleisch und Blut sein, aber für uns warst du nichts anderes als ein weiterer Sohn. Außerdem bist du sowieso schon so dünn. Da möchte ich nicht, dass du in der Wüste noch verhungerst."

Sphen hob eine Augenbraue und ich nahm das Bündel verlegen entgegen.

Amina wandte sich an den Assassinen. „Pass gut auf meinen Kasar auf. Wehe, er kommt nicht heil zurück."

„Amina, bitte", murmelte ich, während Sphen in schallendes Gelächter ausbrach. Ich musste eine herzliche Umarmung über mich ergehen lassen und obwohl sie ihn nicht kannte, widerfuhr Sphen dasselbe.

„Ich werde heute Abend mit Jintah reden", sagte die Skara, als sie meine Unentschlossenheit bemerkte. Erleichtert bedankte ich mich.

Sie ergriff mich mit beiden Händen und drehte mich in Richtung Tür. „Schon gut und jetzt geh und rette die beiden Mädchen."

Gerade als ich nach draußen treten wollte, rief sie mir noch eilig hinterher. „Und achte darauf, dass du dich in der Wüste nicht erkältest. In der Nacht wird es eisig. Und trink ja genug. Ach ja, ..."

Ein leichtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich hob die Hand zum Gruße. Sphen folgte mir auf den Fuß. Er wirkte immer noch amüsiert. „Erstaunlich, wie du es schaffst, die Menschen um dich herum regelrecht zu verzaubern. Sie alle würden für dich sterben. Wie machst du das?", fragte er fast andächtig und ich zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst."

Er schüttelte den Kopf. „Dann bist du blind."

Entgeistert blieb ich stehen und er hob eine Augenbraue. Sie verschwand hinter seinem dunklen Schopf, der sich aus seinem kurzen Pferdeschwanz gelöst hatte und nun ins Gesicht hing. „Was ist?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nichts."

„Wie lautet dein Plan?"

Zynisch lachte ich. „Alyn und Rosena befreien und möglichst nicht dabei zu sterben."

Er grinste. „Klingt gut."

Ich holte Farah von der Weide. Es behagte mir nicht, die Stute auch nur in die Nähe der Schattenfeste zu bringen, aber mit ihr hatte ich die besten Chancen, die Wüste lebendig zu durchqueren. Keine Rasse war so zäh wie die Skaras und besser geeignet für ein derart selbstmörderisches Unterfangen.

Sphen beobachtete mich, während ich die Stute striegelte und anschließend sattelte. Mein Gepäck verstaute ich in den Satteltaschen.

Schließlich führte ich die Stute zum Tor. „Was ist mit dir?", fragte ich den Assassinen. „Hast du kein Pferd?"

Er lachte. „Ich brauche kein Pferd."

Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Willst du etwa zu Fuß gehen?"

Er nickte und ich begann an seinem Geisteszustand zu zweifeln. Dieser Mann war definitiv wahnsinnig. Möglicherweise hatte er sich bei seinem Sturz aus dem Fenster mehr gebrochen als nur den Arm.

Ich saß auf und er setzte sich neben Farah in Bewegung. Gemächlich durchquerten wir so den Stadtkern von Agba, bis wir zu den Randgebieten gelangten und schließlich vor der mächtigen Stadtmauer standen. Dahinter würde uns die Wüste erwarten.

Die Wachen vor dem Tor waren über unser Anliegen überrascht. „Ihr wollt da raus?", brummte der eine.

„Nur zu zweit ohne Karawane?" fügte der andere hinzu.

Ich nickte.

„Hier kommen nicht oft Leute vorbei."

Natürlich nicht. Die Leute verließen die Stadt überwiegend auf dem Flussweg, denn der Sidun verband einen Großteil der Städte Skarameschs. Nur wenige Siedlungen lagen weiter entfernt.

„Haben heute einige Männer in Begleitung zweier Frauen die Stadt verlassen?", fragte ich plötzlich.

Die Männer wechselten einen unauffälligen, aber bedeutsamen Blick. „Nein", sagte der Größere der beiden, während der Griff um seine Lanze gleichzeitig fester wurde.

Ich wusste, dass er log. Trotzdem zuckte ich mit den Schultern. „Na dann..."

Nach einer gefühlten Ewigkeit ließen sie uns endlich passieren. Als wir der Stadt den Rücken kehrten, richtete ich mich im Sattel auf. Obwohl es unmöglich war, fühlte sich die Luft sofort trockener und heißer an.

„Sie machen sich über uns lustig", merkte Sphen an. „Sie schließen gerade eine Wette ab, wie weit wir kommen, ehe wir sterben werden." Dann lauschte er kurz. „Und jetzt wetten sie, auf welche Weise wir umkommen. Der große Dummkopf meint die Assassinen bringen uns um, während der Kleine steif und fest behauptet, wir würden in einem Sandsturm sterben... Ah, jetzt diskutieren sie darüber, ob wir nicht davor verdursten."

„Wie kannst du das alles verstehen?" Wir waren längst zu weit entfernt, als dass ich ihre Stimmen überhaupt noch wahrgenommen hätte.

Er lachte. „Ich höre ausgezeichnet."

Allmählich wurde der Junge mir unheimlich.

Stumm ritt ich weiter. Farah setzte unermüdlich einen Huf vor den anderen. Noch hatten wir den sandigen Teil der Wüste nicht erreicht und so klang ihr Hufschlag auf dem nackten Stein und der harten Erde laut in meinen Ohren.

Sphen blieb weiterhin auf gleicher Höhe. Er wirkte fast schon widerwärtig entspannt. Als würden wir uns auf keiner Rettungsmission befinden, sondern einem gemütlichen Abendspaziergang zum Bäcker um die Ecke.

Kurz fragte ich mich, ob das nicht alles ein ausgekochtes Spiel war. Er erschlich sich mein Vertrauen und lieferte mich direkt beim neuen Großmeister der Assassinen ab, um den ganzen Ruhm einzusacken, der damit einherging.

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