Kapitel 43

Ich hatte Glück. Kasimir patrouillierte immer noch in der Nähe des Eingangs. Als er mich entdeckte, hob er überrascht die Brauen. „Das war aber ein kurzer Ausflug. Wo sind denn deine beiden hübschen Begleiterinnen?"

„Sie warten auf mich. Ich möchte dir nur jemanden vorstellen."

Kasimir starrte auf den Straßenjungen, der sich möglichst klein zu machen schien. Es wirkte, als wolle er am liebsten im Boden verschwinden. „Wer ist das?"

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich nicht einmal einen Namen des Jungen kannte. „Das ist...?"

Hilfesuchend wandte ich mich an den Bengel. „Dajan", murmelte der leise, fast unhörbar. Er wirkte resigniert und furchtbar enttäuscht.

„Und warum schleppst du ihn hier an?"

Ich sah dem alten Mann in die Augen. „Weil du ihm helfen wirst."

Kasimir seufzte. „Ich kann nicht jeden Straßenjungen in die Stadtwache aufnehmen. Das weißt du genauso gut wie ich."

Natürlich hatte ich damit gerechnet, aber seltsamerweise traf es mich trotzdem, obwohl mir dieser Junge an sich gleichgültig war. „Ich weiß. Aber kannst du nicht eine Ausnahme machen? Für mich?"

Er blickte sich um, als hielte er nach seinem Partner Ausschau. „Also gut. Ich gebe ihm eine Chance, aber er muss hart trainieren. Ihm stehen sehr anstrengende Jahre bevor, die Ausbildung ist nicht leicht. Wenn er auch nur die kleinste Schwierigkeit bereitet, ist er raus."

Dajan richtete sich mit großen Augen auf. „Du verpfeifst mich nicht?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Was hätte ich davon? Also, erklärst du dich bereit, auf Kasimir zu hören?"

„Ja!" Es fiel ihm schwer seine Begeisterung zu verbergen. „Kasimir...", begann er, wurde aber unterbrochen.

„Für dich Al Abdalah. Du musst lernen, anderen Menschen gegenüber Respekt zu zeigen. Stell dich gerade hin."

Mit einem unauffälligen Nicken verabschiedete ich mich und tauchte in der Menge unter. Alyn und Rosena standen immer noch vor dem Teppichhändler und unterhielten sich tuschelnd.

„Wo hast du gesteckt?", wollte Alyn sofort wissen, kaum dass sie mich entdeckt hatte. „Und wo ist der Junge?"

„Ich habe ihn zu Kasimir gebracht", erklärte ich und beantwortete damit beide Fragen auf einmal.

„Zu Kasimir?" Alyns starrte mich vollkommen fassungslos an. „Wie konntest du nur?"

„Wie-wieso?" Ich war absolut perplex. Weshalb war sie so verärgert?

„Du hast diesen armen Jungen der Stadtwache ausgeliefert? Warum hast du das getan?"

Ich verspürte einen heftigen Stich. „Ist es das, was du von mir denkst?", fragte ich mit leiser Stimme.

Sie verstand, dass sie einen Fehler gemacht hatte. „Bei den Göttern. Es tut mir leid. Ich dachte..." Ich hob die Hand und sie schwieg betreten. Natürlich – selbst Alyn dachte immer nur das Schlechteste von mir. Dabei würde ich wohl kaum jemanden irgendwelchen Wachen ausliefern. Dazu besaß ich nicht das Recht.

„Ich habe ihn zu Kasimir gebracht, damit sich jemand um ihn kümmert. Der Junge ist nicht für die Straße geschaffen. Wenn er Durchhaltevermögen zeigt, wird er eines Tages der Stadtwache beitreten können."

Alyn schlang die Arme um mich und ich ließ es starr über mich ergehen. „Es tut mir leid", flüsterte sie mit erstickter Stimme.

„Mach dir keine Gedanken. Es ist alles in Ordnung", log ich.

„Danke, dass du ihn gerettet hast."

Ich schnaubte. „In Wirklichkeit habe ich nur dich vor einer Torheit bewahrt. Das ist nicht Seyl, Alyn." Ernst blickte ich sie an. „Hier gelten andere Gesetze." Ich verschwieg ihr, dass der Teppichhändler erst unauffällig nach einem Zeichen meinerseits geheischt hatte, dass ihm meine Zustimmung signalisieren würde, bevor er mit ihr zu feilschen begann. Normalerweise wurde mit Frauen in Gegenwart eines männlichen Begleiters sowieso nicht gehandelt. Der Händler hatte vermutlich nur deshalb eine Ausnahme gemacht, weil er von mir gehört hatte.

Ich zog die Lampe hervor und überreichte sie Alyn. „Hier für dich. Dein Hochzeitsgeschenk." Sie nahm sie mit zittrigen Händen entgegen, ohne mich dabei anzusehen. Da sie meine Geschichte vermutlich mitbekommen hatte, schwieg sie und versteckte das wertvolle, aber sperrige Ding in ihrer Tasche.

Rosena starrte mich stattdessen unverwandt an und ich fragte mich, was in ihrem Kopf wohl vorging. „Hier", sagte ich und überreichte ihr ein kleines Fläschchen. Sie nahm es mit großen Augen entgegen. „Was ist das?", hauchte sie.

Ich rieb mir den Hinterkopf. „Nun, ich glaube, das ist Farbe. Zumindest hoffe ich es. Ich dachte, es würde dir vielleicht gefallen und wenn ich Alyn schon so eine teure Lampe schenke, kann ich dich doch nicht vollkommen leer ausgehen lassen. Das wäre nicht gerecht und weil du so gerne malst..." Ich bemerkte selbst, dass ich zu plappern begann und verstummte deshalb.

Rosena blickte auf und ich konnte sehen, dass sie strahlte. „Danke. Das ist wundervoll." Ungelenk umarmte sie mich, dann löste sie sich gleich wieder von mir, als wäre ihr eingefallen, dass ich für Umarmungen nichts übrig hatte.

„Danke", fügte sie trotzdem noch einmal hinzu.

Jetzt war es Alyn, die mich merkwürdig musterte.

„Wir sollten weitergehen", schlug ich vor, in der Hoffnung, dieser seltsamen Situation zu entkommen.

Als wir uns wieder in Bewegung setzten, meinte ich, wieder einen brennenden Blick auf mir zu spüren. Mehrmals drehte ich mich um, konnte aber niemanden ausmachen. Trotzdem wusste ich, dass sie da waren.

Unauffällig suchte ich den Basar nach schwarzen Gestalten ab. Besondere Aufmerksamkeit schenkte ich den Säulen. Knapp unter der Decke gab es ein Geflecht an schmalen Holzstegen, die von einer Säule zur nächsten reichten. Diese besaßen alle einen Vorsprung direkt unter den Kapitellen, groß genug, um einen Menschen Platz zu bieten. Oft genug war ich selbst dort oben in schwindelerregender Höhe von einem Vorsprung zum nächsten balanciert. Die Gestalt, die ich halb verborgen im Schatten vorfand, ließ mich schlucken.

Auch wenn ich wegen der Lichtverhältnisse keine Details erkennen konnte, lief mir ein Schauder über den Rücken. Es gab neben Bauarbeitern, deren Aufgabe es war, das Deckengewölbe instand zu halten, nur eine einzige weitere Gruppe, die sich in diese Höhe traute.

„Vielleicht sollten wir auch wieder gehen", schlug ich zögerlich vor, aber Alyn und Rosena widersprachen sofort.

„Es gibt doch noch so viele Stände zu sehen", wandte Rosena mit dünner Stimme ein, während Alyn sofort hinzufügte: „Vielleicht finden wir hier einen Hinweis auf den Edelstein. Wenn wir uns die ganze Zeit in der Herberge aufhalten, kommen wir wohl kaum weiter."

Gegen dieses absolut schlüssige Argument kam ich nicht an. Aus dem Augenwinkel heraus behielt ich die schwarze Gestalt weiter im Blick. Solange sie sich da oben befand, herrschte kaum Gefahr. Sie würden mich nicht töten und aus dieser Entfernung war es schier unmöglich, mich gefangen zu nehmen. Außerdem herrschte genug Treiben, sodass es auf jeden Fall zu viel Aufsehen erregen würde, einen Entführungsversuch zu wagen. Fürs Erste würden sie nichts unternehmen und taten das, was sie mit am besten konnten: Beobachten.

Trotzdem konnte ich die Zeit im Basar nicht mehr genießen. Alyn und Rosena bestaunten all die vielen Dinge, mit denen gehandelt wurde: Kräuter und Gewürze, Lampen, Teppiche, Blumen, Säfte, Truhen, Obst, Gemüse, sogar Fleisch und Fisch wurden in einer gesonderten Ecke angeboten. Es gab nichts, was man nicht kaufen konnte und früher war ich immer gerne die Stände entlang geschlendert. Jetzt aber konnte ich die drohende Gefahr nicht vergessen. Die beiden Frauen bemerkten von alldem nichts, denn ich gab mir alle Mühe, ihnen mit meiner dunklen Vorahnung nicht den Tag zu verderben.

Einige Menschen traten auf mich zu und bestaunten mich, als wäre ich ein seltsames Kuriosum. Hätte mir Alyn nicht jedes Mal einen warnenden Blick zugeworfen, hätte ich sie wahrscheinlich rüde abgehandelt. So aber setzte ich ein falsches Lächeln auf und bemühte mich um Geduld.

Jedes Händeschütteln war eine Qual und jedes aufmunternde Wort reine Pein. Es kostete all meine Konzentration, meinen Blick auf die Menschen zu richten und nicht immer wieder zu meinem Verfolger zu starren.

Als ich es dennoch tat, war die Gestalt verschwunden. Mein Herz setzte für einen Schlag aus, bevor es mit einer ungewohnten Heftigkeit weiterschlug. Mein Kopf ruckte umher, in der Hoffnung den Mann wieder zu entdecken, aber ich fand ihn nicht. Panik drohte mich zu erfassen, jede Berührung ließ mich zusammenzucken. Inmitten dieser unendlichen Menschenmenge hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.

Mit eiserner Kontrolle zwang ich meinen Geist, die Oberhand über meinen Körper zu behalten. Langsam atmete ich ein und aus. „Alyn. Rosena. Wir gehen."

Beide verzogen das Gesicht. „Jetzt!", befahl ich harscher als beabsichtigt und mein ruppiger Ton ließ sie zusammenzucken. Ausnahmsweise folgten sie mir ohne Widerspruch.

Auf schnellstem Wege führte ich sie durch den Basar und als wir nach einer gefühlten Unendlichkeit den Ausgang erreichten, war ich nassgeschwitzt.

Die durch das Fackellicht entstandenen flackernden Schatten suggerierten mir Gestalten, wo sich niemand befand, und überall entdeckte ich Orte, die sich hervorragend für Überfälle eigneten.

Meine Paranoia verstärkte sich immer mehr, während Alyn und Rosena laut schwatzend hinter mir hergingen. Wie gern wäre ich ebenso entspannt und gutgläubig wie die beiden. Meine Frustration darüber, dass wir kein bisschen weiter gekommen waren, vermischte sich mit Erleichterung, dem Basar lebend entkommen zu sein.

Ein Rascheln ließ mich meinen Dolch ziehen und in Angriffsstellung gehen. Ich fixierte den Baum und kniff angestrengt die Augen zusammen. Ein Flattern ertönte und begleitet von diesem Geräusch stob ein Vogel laut schimpfend in die Höhe, während eine schlecht gelaunte Katze den Rückzug antrat.

Als wir dann endlich in der Herberge ankamen, war ich kurz davor, Kasar zu erstechen, als er hinter der Hausecke herangeschossen kam und mich schwanzwedelnd begrüßte.

„Kasa" Der Hund wurde von einem lachenden Tarik begleitet, der sich mir sofort in die Arme warf. Innerhalb kürzester Zeit fand ich mich umgeben von einer ganzen Horde an Menschen, bis Amina ein Machtwort sprach. Murrend verzogen sich die Kinder und ich schenkte ihrer Mutter ein müdes Lächeln.

„Mein Mann würde sich freuen, wenn du ihn in der Schenke aufsuchst", meinte sie. „Ihr zwei könnt gerne mit mir und den Kindern speisen", fügte sie an Alyn und Rosena gewandt hinzu.

„Ich würde Senn gerne begleiten."
Amina und ich wechselten einen bedeutungsvollen Blick. „Das geht nicht", begann ich und sofort verschwand das Lächeln auf Alyns Lippen. Hastig fuhr ich fort. „Das liegt nicht daran, dass mir deine Gesellschaft nicht gefällt, sondern daran, dass Frauen nicht in Schenken dürfen."
Alyn schien nicht überzeugt. „Stimmt das?", fragte sie an Amina gewandt.

Diese nickte jedoch entgegen ihrer Erwartung. „Skaramesch ist ein sehr traditionsbehaftetes Land. In manchen Dingen sind wir vielleicht fortschrittlich, in anderen hingegen nicht."

Alyn schien sich geschlagen zu geben. „Nun gut, dann verbringen wir eben hier den Abend." Sie folgte Amina ins Haus. „Wir sehen uns dann später."

Ich nickte nur und machte mich allein auf dem Weg zur Schenke. Kasar lief aufgeregt schnüffelnd neben mir her. Ich war froh über seine Gegenwart, denn er würde einen potenziellen Angreifer längst attackieren, bevor ich diesen überhaupt bemerkte.

Die Hintertür der Schenke war offen und das helle Innere beleuchtete einen schmalen Streifen Gras. Stimmengewirr schallte mir entgegen und ich zögerte kurz. Dann jedoch straffte ich mich und trat ein. Sofort lief mir Jintah über den Weg. Er umarmte mich. „Wie schön, dass du gekommen bist. Komm. Hier in der Küche ist es doch viel zu ungemütlich. Gehen wir an den Tresen. Was möchtest du trinken?"

Ich setzte mich an einen der Barhocker. Der einzige, der sich auf der kurzen Seite des Tresens befand, und nahe der Wand stand. Von hier aus hatte ich den ganzen Raum im Blick. Einige Männer schienen neugierig, aber die meisten scherten sich nicht um meine Anwesenheit. Das Licht der Lampen erhellte den Raum, nur zwischen den dunklen Dachbalken herrschte Schwärze, sodass es schien, als bestünde die Decke aus Finsternis. Durch die dreckigen Scheiben der Fenster erhaschte ich einen Blick auf die vorbeilaufenden Menschen, fast unkenntlich gemacht aufgrund der heranziehenden Dämmerung.

Müde rieb ich mir die Schläfe und bettete meinen Kopf auf den am Tresen aufgestützten Arm. Äußerlich musste ich wohl ein Bild vollkommener Trägheit abgeben, aber meine Augen huschten ruhelos hin und her.

Jintah stellte sich neben mich, während er einige Gläser putzte. Die Skara waren hervorragende Glasbläser und hatten es schon vor Jahren geschafft, Solitar das Glasmonopol abzuringen, sodass in Seyl ein regelrechter Kampf um die Frage entbrannt war, wessen Gläser nun besser seien.

„Wie war euer Ausflug?"

„Schön", antwortete ich einsilbig, während ich mit meinem Blick einem der Bediensteten folgte, der von Tisch zu Tisch eilte, um die Wünsche der zahlreichen Gäste zu erfüllen.

„Scheint ein guter Tag zu sein", stellte ich fest.

„Du warst lange nicht mehr hier. Inzwischen sind wir immer so gut besucht."

„Ach, tatsächlich?" Das freute mich. Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass Jintah so etwas schon gestern erwähnt hatte.

„Manchmal engagiere ich verschiedene Musikanten. Viele Männer kommen nur deswegen her. Heute ist wieder so ein Abend, deshalb wird es sicher noch voller werden."

Er behielt recht. Je dunkler es draußen wurde, desto öfter öffnete sich quietschend die Tür und desto mehr Menschen versammelten sich. Bald war der Raum rappelvoll und ich längst nicht mehr der Einzige, der sich einen Platz am Tresen gesucht hatte. Manche quetschten sich auf die Ecken der Bänke, um wenigstens noch halb sitzen zu können, während andere gleich stehen blieben. Jintah fand keine Zeit mehr, sich mit mir zu unterhalten, denn seine Gäste nahmen all seine Aufmerksamkeit in Anspruch.

Ich lehnte meinen Kopf an die Wand und schloss die Augen. Nur durch einen schmalen Schlitz beobachtete ich weiterhin das Geschehen. Eine gespannte Erwartung hatte alle befallen.

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