Kapitel 39
Obwohl der Archivar für eine ganze Weile gewisse Zweifel hegte, was die Ortskenntnis seines Führers betraf, stießen sie am frühen Abend auf eine Ansammlung von Rauchwolken. Beim Näherkommen wuchsen Kamine und Dächer und schließlich auch Hausmauern aus dem Boden.
Anders als viele Dörfer besaß Grünbach - denn um dieses handelte es sich - keine Mauern. Nicht einmal eine Palisade umgab die Gebäude. Diese lagen ziemlich verstreut und setzten sich aus Scheunen, Ställen und Wohnhäusern zusammen, wie Davide zu erkennen glaubte.
Der Schnee in der Nähe des Dorfes war flach getrampelt. Hufspuren und Schuhabdrücke gingen ineinander über und führten in allerlei Richtungen.
„Ja, in Grünbach wird man richtig wach", reimte Marik auf so schreckliche Art und Weise, dass Davide versucht war, sich die Ohren zuzuhalten.
Ihnen begegnete ein Mann mittleren Alters in Begleitung eines großen, struppigen Hundes. Er hatte eine Axt geschultert und war in dicke Lagen Kleidung eingemummelt. Als er die beiden Reiter nahen sah, blieb er stehen.
„Ich kenne Euch nicht", stellte er skeptisch fest.
Eilig ergriff Davide das Wort, bevor Marik irgendeinen beleidigenden Spruch hervorbringen konnte. „Ich möchte meinen Freund Luipold besuchen", sagte er. „Wisst Ihr, in welchem Haus er genau wohnt?"
„Woher soll ich wissen, dass Ihr wirklich seine Freunde seid?"
„Mich dürft Ihr davon ausnehmen", erklärte Marik. „Ich habe keine Freunde. Damit sind so viele lästige Pflichten verbunden. Sie erwarten, dass man für sie da ist, ihnen zuhört, etwas mit ihnen unternimmt. All diese Verpflichtungen sind nichts für mich."
Der Mann wandte sich Davide zu. „Was ist denn das für ein komischer Kauz?", fragte er verdattert.
Der Archivar konnte darauf nur mit den Schultern zucken.
„Na schön", seufzte der Mann. „Ich führe Euch hin. Liegt eh auf meinem Weg."
„Wie kommt es, dass Ihr nicht kämpfen müsst?", wollte Davide wissen. Es erschien ihm unhöflich die ganze Zeit schweigend neben ihm herzureiten und eigentlich wäre er auch lieber abgestiegen, aber der Schnee glitzerte ihn tückisch an. Zudem wurde er von einer gewissen Neugier getrieben, die fester Bestandteil seines Charakters war.
„Ich bin Holzfäller", erklärte der Mann. „Und die Oberen verlangen viel Holz, bei den Göttern."
Es schien ihn nicht zu interessieren, wer Davide und Marik waren, denn er stellte keine einzige Frage. Gerade als Davide erneut den Mund öffnete, blieb der Holzfäller stehen. „Da wären wir", erklärte er und deutete auf ein kleines windschiefes Haus, das unter Schnee regelrecht begraben war.
Marik schwang sich elegant aus dem Sattel und Davide tat es ihm nach. Seine steifbeinigen Glieder protestierten dabei so heftig, dass er abrutschte und im kalten Schnee landete. Mit rotem Kopf rappelte er sich auf und klopfte sich das kalte Weiß von der Kleidung.
„Ich muss dann weiter", erklärte der Holzfäller und Davide bedankte sich hastig. Er schob sich die Brille, die nur noch mit einem Bügel an seinem Ohr hing, wieder auf die Nase und trat vor die Haustür.
Bevor er jedoch klopfen konnte, schwang diese auf und Fuchs stand im Türrahmen. „Na endlich", knurrte er. „Ich muss mir schon die ganze Zeit das Gejammer deines Freundes anhören. Das nächste Mal tauschen wir."
Damit war Davide nur zu einverstanden.
Während Marik die Zügel von Hummel übernahm und überraschend hilfsbereit erklärte, er würde einen Platz für die Pferde finden, trat Davide in die behagliche Wohnung.
Hinter zwei Haken für Jacken und Mäntel stapelten sich Bücher. Auf jedem einzelnen freien Platz, inmitten zwischen Möbeln, ragten sie als Türme in die Höhe. Davide musste lächeln. Luipold hatte sich all die Jahre nicht verändert.
„Wo ist er denn?", fragte Davide und Fuchs führte ihn an zahlreichen Stapeln vorbei in ein kleines Wohnzimmer.
In einem großen Sessel mit hoher Lehne lag ein zerbrechlich wirkender Mann, eingehüllt in zahlreiche Decken, sodass nur sein fast kahler Schädel zu sehen war.
Zittrig richtete er sich auf. „Davi", begrüßte er den Archivar mit schaurig krächzender Stimme. Luipold war der Einzige, der ihn bei diesem schrecklichen Spitznamen nannte. Davide trat heran und beugte sich zu dem alten Mann hinab.
„Ihr seht nicht gut aus", stellte er fest.
Luipold runzelte darauf die Stirn, was bei ihm immer aussah, als würden seine buschigen Augenbrauen zusammenwachsen. „Ich fühle mich auch nicht gut. Ich bin ein alter Mann und das Leben war nicht immer nett zu mir. Mein Ende naht."
Auch wenn Davide diese Botschaft einen Stich versetzte, kam er nicht umhin über die dramatische Ausdrucksweise zu schmunzeln. „Du hast dich keineswegs verändert."
Luipold betrachtete den Archivar. „Du auch nicht." Er hustete und holte angestrengt Luft. „Warum bist du hierhergekommen? Sicher nicht, um mir beim Sterben zuzusehen, das wäre sogar für dich unwürdig."
„Hat Fuchs es dir nicht erzählt?"
„Wenn du damit deinen reizenden Assistenten meinst, hat dieser sich äußerst bedeckt gehalten."
Davide warf einen Blick zu Fuchs, der entschuldigend mit den Achseln zuckte. „Er ist ein misstrauischer Mensch. Vergib mir."
„Nur deshalb lebe ich noch", murmelte Fuchs etwas griesgrämig.
„Also, warum nimmst du den weiten Weg von Krylanid hierher auf dich? Ich kenne dich doch, es muss sich um etwas äußerst Wichtiges handeln."
„Du hast recht." Davide befreite einen schmalen Lehnstuhl von einem Stapel Bücher und setzte sich darauf. „Du musst wirklich mehr Ordnung halten."
Luipold lachte rau. „Wahrlich immer noch derselbe. Ich bin ein alter Mann, festgefahren in seinen Gewohnheiten. Mein Chaos hat System und jetzt am Ende meines Lebens brauche ich das Aufräumen nun wirklich nicht mehr anfangen."
„Weißt du, wie es den Oberen gelungen ist, die Edelsteine gefangen zu nehmen?", fragte Davide unverwandt.
Luipold war zu dieser Zeit der königliche Bibliothekar gewesen und einer der wenigen höherrangigen Angestellten, die die Machtübernahme überlebt hatten, weil er rechtzeitig untergetaucht war.
Der alte Mann antwortete lange nicht. Er hatte die Augen geschlossen und Davide dachte, er sei eingeschlafen, bis er dann schließlich doch sprach. „Ich kann es nicht mit Sicherheit wissen. Es gab einmal einen Edelstein, dessen Magie darin bestand, dass er gegen sämtliche Magie resistent war. Es ist nicht vielen bekannt, aber ich habe mich Jahrzehnte mit der seylschen Geschichte befasst."
„Willst du damit behaupten, die Oberen besäßen die Magie eines Edelsteins?"
Luipold hustete wieder und wandte sich an Fuchs, der sich an den Kamin gelehnt hatte. „Wärst du so nett und würdest mir etwas Tee aufbrühen?"
Fuchs entfaltete seine übergeschlagenen Beine und verschwand wortlos.
„Er hat mir sehr geholfen in den letzten Tagen", sagte Luipold an Davide gewandt.
„Aber du traust ihm nicht?"
„Ich traue niemandem."
Davide schüttelte den Kopf. „Ihr solltet eigentlich beste Freunde werden", brummte er und schob sich seine Brille wieder nach oben.
„Hast du mich nun besucht, um Antworten zu verlangen, oder um mit mir über meine Einstellung zu diskutieren?", fragte Luipold streng.
Verlegen schwieg Davide.
„Um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, das glaube ich nicht. Aber auch ein gewöhnlicher Magier hat prinzipiell die gleichen Kräfte wie ein Edelstein. Er benötigt jedoch für stärkere Zauber viel Vorbereitung. Ich glaube jedoch, dass die Oberen diesen Umsturz schon lange Zeit geplant hatten. Der Zeitpunkt mit der Verlobungsfeier des Prinzen Tomas war günstig gewählt. Man könnte sie fast dafür bewundern."
Luipold hielt inne. Seine Worte hatten ihn angestrengt und jetzt musste er sich erholen.
„Also bedeutet das, dass der Zauber längst verflogen sein müsste. Kein Zauber währt für immer."
„Das ist richtig."
„Werden die Oberen ihn nachbereitet haben?"
Luipold seufzte, was mehr einem Stöhnen ähnelte. „Woher soll ich das wissen? Ich habe die letzten zwanzig Jahre auf der Flucht vor ihnen verbracht. So wie ich die Oberen kenne, werden sie bei ihrem Schutz nicht nachlässig sein. Das widerspricht ihrer Vorgehensweise. Andererseits glauben sie die Edelsteine tot."
„Du kannst mir also nicht weiterhelfen."
„Es tut mir leid."
Davide sackte zusammen. „Immerhin weiß ich jetzt, wie es ihnen gelungen ist, die Edelsteine zu besiegen."
„Ich kenne den Zauber nicht, den sie verwendet haben. Sollte es dir gelingen, ihn herauszufinden, kannst du jedoch an einem Gegenzauber arbeiten. Ich bin kein Magier und deshalb in diesem Gebiet nicht sehr bewandert. Aber es gehört zu den Grundprinzipien der Welt, dass alles sein Gegenstück haben muss."
Erschöpft ließ sich Luipold tiefer in seinen Stuhl sinken. Auf seiner faltigen Stirn standen Schweißperlen und er atmete flach. „Ich rate dir, einen Magier aufzusuchen, dem du vertraust."
Sofort musste Davide an den Grafen von Verdun denken. Aber konnte er dem Le'Hag wirklich vertrauen?
„Weißt du, was mit dem Prinzen geschehen ist?"
„Mit Prinz Tomas? Er ist tot, wie alle anderen auch."
„Nein, ich spreche von Elias. Weißt du, wohin er verschwunden ist?"
„Nein." Enttäuscht wollte Davide das Thema wechseln, da sprach Luipold weiter. „Aber ich weiß, wer dir darauf eine Antwort geben könnte."
Fuchs betrat das Zimmer, in den Händen ein Tablett mit dampfenden Tassen. Er stellte es einfach auf einen der vielen Bücherstapel. Luipold fuhr auf. „Du kannst das doch nicht auf die wertvollen Bücher stellen. Was, wenn es kippt? Der Tee würde das Papier ruinieren."
„Wenn du dein Zimmer besser in Ordnung gehalten hättest, müsste ich das jetzt nicht tun", blaffte Fuchs. Er drückte Luipold eine Tasse in die Hand, ehe er sich grummelnd auf seinen Platz am Kamin zurückzog.
„Wer?", fragte Davide, dem die Unterbrechung höchst ungelegen gekommen war.
„Es gibt genau zwei Menschen, denen Elias neben seiner großen Liebe weit genug vertraut hätte, um sie zu informieren. Bei dem einen handelt es sich um seinen Leibwächter. Er kannte den Mann von klein auf. Als der Prinz noch jung war, hat dessen Vater die ehrenvolle Aufgabe übernommen, Elias zu schützen. Doch die letzten elf Jahre, bevor der Prinz verschwunden ist, war es stets sein Kindheitsfreund. Ich kann mich leider nicht mehr an den Namen erinnern. Soldaten, Wachen, Dienstboten – sie alle sind unbedeutend."
Eine Spur Arroganz schlich sich in Luipolds Stimme. Der ehemalige königliche Bibliothekar hatte durch seinen Posten über vielen gestanden und auch wenn er nicht so schlimm war wie manche Adelige, besaß er doch ein gesundes Selbstbewusstsein. Zudem war er in jüngeren Jahren ein stattlicher Mann gewesen, den viele bewundert hatten, was seinem Ego keineswegs geschadet hatte.
Luipold hustete und begann, geräuschvoll seinen Tee zu schlürfen. „Er ist viel zu heiß", beschwerte er sich an Fuchs gewandt.
Den schien das jedoch nicht zu kümmern. „Dann warte ein wenig und er wird kalt."
„Warum hast du nicht die Beerenmischung gemacht?"
Fuchs grinste hinterhältig. „Du hast mir nicht aufgetragen, welche Sorte. Mach dir deinen Tee gefälligst selbst, wenns dir nicht passt."
Davide war viel zu abgelenkt, um seinen Assistenten zu ermahnen. „Du sagtest, es gäbe zwei Menschen. Wenn der namenlose Leibwächter der eine ist, wer ist dann der andere?"
Luipold sah auf. „An den zweiten erinnere ich mich umso besser. Er war häufig zu Gast und im Gegensatz zu den meisten Besuchern im Königspalast einem Besuch in der Bibliothek nicht abgeneigt. Ich weiß, dass ihn der Prinz zumeist dazu angestiftet hat, er war schließlich ein besonnener junger Mann, reifer als seine Brüder. Aber immerhin tat er nicht so, als würde es ihn langweilen."
Davide fiel es schwer, Luipold nicht ins Wort zu fallen. Auch wenn er sonst sämtliches Wissen in sich aufsaugte, konnte er keinen Gefallen an dessen Ausführungen finden. Der alte Mann nahm einen weiteren Schluck aus seiner Teetasse.
„Soweit ich weiß, ist er einer der wenigen, die die Machtübernahme unbeschadet überstanden haben. Er hatte schon immer viele Verbindungen. Viele werden ihn geschützt haben."
„Und wer ist es nun?", fragte Davide nun doch etwas verärgert.
Luipold runzelte die Stirn. „Sei nicht so ungestüm. Wir haben Zeit."
„Die haben wir eben nicht", entgegnete Davide ungewohnt heftig.
Luipold schüttelte darüber nur den Kopf.
„Der Junge hieß Fernan. Heute ist er der Herzog von Sarkand."
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