Kapitel 24

„Ich bin übrigens Lapislazuli", schrie die Frau mir über den Rücken hinweg zu.

Ich richtete mich auf. „Was?", entgegnete ich verdutzt.

Sie ließ ihr Tier langsamer werden und wartete, bis ich – oder vielmehr mein eigenes Reittier – aufgeschlossen hatte, dann wiederholte sie ihren Satz langsam und deutlich, als wäre ich schwer von Begriff. „Ich heiße Lapislazuli."

Ich hatte sie schon verstanden, aber ihr Name... Gab es nicht einen Edelstein, der so hieß? Konnte das Zufall sein? „Ich war nur überrascht, dass Ihr einen Namen tragt, der auch auf Akrid Sinn ergibt."

Sie lachte schallend. „Natürlich. Dieser Name existiert nicht in der Sprache meines Volkes. Bevor ich jedoch geboren wurde, empfing die Flüsterin eine Botschaft der Göttin. Daraufhin traf sie sich mit meiner Mutter und erklärte ihr, dass ihr ungeborenes Kind eines Tages mit einem Fremden aus einem entfernten Land mitgehen würde. Meine Mutter war darüber nicht recht glücklich, aber es hat sie besänftigt, zu wissen, dass ihre Tochter einmal die Welt retten wird."

„Und was hat das mit Eurem Namen zu tun?"

Zu meiner Überraschung ärgerte sie sich nicht über meine Frage, sondern lachte nur weiter. „Die Göttin hat diesen Namen für mich erwählt. Ein Kind mit besonderen Gaben braucht einen besonderen Namen, sagt unsere Flüsterin immer. Du willst nicht wissen, wie lange mein Volk gebraucht hat, bis es sich meinen Namen merken konnte. Du siehst schon, in unserem Leben spielst du eine große Rolle."

„Ich denke, Ihr verwechselt mich."

Sie spornte ihr Kopa an. „Nein, bestimmt nicht. Du bist eindeutig der goldene Mensch."

Ich bemühte mich, mein Tier auf derselben Höhe wie ihres zu halten. „Selbst wenn, was hast du damit zu tun?" Unbewusst war ich zu einer vertrauteren Anrede übergegangen, schließlich duzte sie mich bereits die ganze Zeit.

Sie schnaubte über meine offensichtliche Begriffsstutzigkeit. „Das sagte ich doch bereits. Ich bin von der Göttin mit einer bestimmten Gabe beschenkt worden und als Gegenleistung werde ich mit dir ziehen und dir helfen."

„Ja, und was kannst du nun Besonderes?"

Jetzt lachte sie wieder und hob eine Hand. Ihr Kopa preschte los, während meines stocksteif stehen blieb, als die Blätter um uns herum laut zu rascheln begannen und auf einmal lauter kleine glitzernde Wassertropfen durch die Luft flogen und Lapislazuli folgten. Selbst der Schweiß, der immer noch auf meiner Stirn stand, löste sich und reihte sich in die schillernde Spur ein.

Ich trieb mein Kopa an und folgte ihr. Als ich zu Lapislazuli aufgeschlossen hatte, schmiss sie einen unsichtbaren Gegenstand in die Luft und die Wassertropfen, die sich schwebend um uns versammelt hatten, flogen wie von einer großen Kraft angezogen nach oben, nur um einen Moment später auf uns niederzuprasseln.

Ich spürte sie auf meiner heißen Haut.

„Ich kann Wasser lenken", erklärte Lapislazuli überflüssigerweise.

„Das ist erstaunlich", brachte ich hervor. Ungemein faszinierend. Wenn ich ihr eher begegnet wäre, dann... Ich musste schlucken. Dann würde Joarken vielleicht noch leben. Sie hätte die Krokodile in ihrem See gefangen halten können, bis wir in Sicherheit gewesen wären. Lapislazuli schien meinen seltsamen Seitenblick zu bemerken. „Nein. Sein Opfer war nötig."

Ihre verschlossene Miene ließ all meine unausgesprochenen Einwände ersterben. Sie würde mit mir darüber nicht diskutieren. „Können alle Mitglieder deines Volks Gedanken lesen?", bemühte ich mich um einen Scherz.

Sie lachte nicht. „Nein, das kann nur die Flüsterin. Aber dein Gedanke stand dir praktisch auf der Stirn geschrieben. Du magst sonst vielleicht nicht leicht zu lesen sein, aber du konntest deine Schuldgefühle nicht verbergen."

Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. War ich etwa tatsächlich so leicht zu durchschauen? Ich bemühte mich, meine undurchdringliche Miene beizubehalten, aber ich wusste nicht, ob ich erfolgreich damit war. Immerhin schwieg Lapislazuli und schien auf einmal mit den Gedanken ganz woanders.

Trotzdem hob ich zögerlich die Stimme. „Du bist also keine Heilerin?"

Sie runzelte die Stirn. „Nein. Ich habe viele Jahre bei der Flüsterin gelebt und sie hat mir einiges über Kräuter und Tinkturen beigebracht, aber die Gabe des Heilens wurde mir nicht geschenkt. Nichtsdestotrotz...", fuhr sie fort, als sie mein enttäuschtes Gesicht sah. „... werde ich deinen Freund retten können, da ich das Mittel, das er benötigt, bei mir habe."

Ein Hoffnungsschimmer durchfuhr mich. Allerdings bezweifelte ich, dass wir es rechtzeitig schaffen würden, selbst mit den Kopas.

„Können wir uns vielleicht beeilen?", fragte ich mit einer Spur Ungeduld.

„Natürlich, Goldjunge." Unsere Tiere wurden schneller und die nächsten Stunden war ich vollauf damit beschäftigt, dem Blattwerk und den Ästen auszuweichen, die in rasender Geschwindigkeit auf mich zukamen. Die Kopas wichen Hindernissen elegant aus oder sprangen mit einem Satz darüber hinweg. Sie wussten die schmalen Lücken zwischen zwei Bäumen für sich zu nutzen und wurden in keinem Moment auch nur einen Deut langsamer. Atemlos saß ich auf dem Rücken meines Kopa und lehnte mich weit nach vorne. Es fiel mir schwer, mich komplett auf das Tier unter mir zu verlassen, aber wie immer wurde ich vom Rausch der Geschwindigkeit erfasst. Ich konnte ein Auflachen nicht unterdrücken.

Irgendwann wurden jedoch selbst die ausdauernden Kopas langsamer und schließlich blieb Lapislazuli stehen. „Unsere Tiere brauchen Rast."
Ich nickte erschöpft.

Sie sprang ab und ich tat es ihr gleich. Zu meiner Überraschung entfernte sie sich einfach. Ich folgte ihr. „Wo willst du hin? Und was ist mit den Kopas? Wir können sie doch nicht einfach so stehen lassen."

Sie lachte. „Ach, Goldjunge. Du bist so herrlich naiv. Die Kopas sind nicht wie eure Pferde. Sie haben uns einen Dienst erwiesen und ziehen jetzt wieder ihrer Wege."

Ich war so verdutzt darüber, dass sie mich immer anredete wie ein kleines Kind, dass mir die Worte fehlten.

„Wir bleiben hier", beschloss Lapislazuli.

„Hier?", echote ich und kam mir zunehmend dämlicher vor. Um mich herum waren nichts als Pflanzen. Es gab nicht einmal genug freien Platz sich hinzulegen.

„Dort oben auf dem Baum." Mit ihrem Finger wies sie in die Höhe.

Ich hatte schon lange nicht mehr auf einem Baum geschlafen. So etwas tat ich nur in äußerster Not. Lapislazuli schien jedoch fest entschlossen. Also fügte ich mich. Schließlich hatte sie es selbst gesagt: Es war ihr Dschungel, ihre Heimat und ich hatte mich ihr anzupassen, denn ich war nicht mehr als ein unwissender Fremder.

Wortlos kletterte ich hinter ihr auf einen Baum mit niederen Ästen und von dort auf den Nachbarbaum, ein prachtvolles Exemplar eines typischen Urwaldriesen.

Auch wenn die Astgabel so breit war, dass ich bequem darauf schlafen konnte, lag ich wach und wälzte mich ruhelos hin und her. Lapislazuli schien keine Probleme zu haben und war innerhalb kürzester Zeit eingenickt.

Jedes Mal, wenn ich kurz davor war einzuschlafen, kam mir Joarken wieder in den Sinn. Irgendwann fing es an zu regnen. Ich rollte mich zusammen und lehnte mich an den Stamm, während ich beobachtete, wie die Wassertropfen auf Lapislazuli fielen, nur um dort einfach zu verschwinden.

Schließlich gab ich es auf. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen und es war sowieso klüger, wenn jemand Wache hielt.

Ich brach einen dünnen Zweig von einem anderen Baum ab und beschaffte mir einen Teil der Rinde. Dann begann ich daraus sinnlose Sachen zu basteln, um mir die Zeit zu vertreiben. Vor ein paar Jahren hatte ich oft Dinge geschnitzt, aber ich besaß kein Messer. All unser Proviant und meine Stiefel waren am See zurückgeblieben. Mein Hemd hatte ich bei meiner wilden Flucht verloren, so besaß ich nur noch die Hose, die ich am Leib trug.

Immer wieder fielen mir die Augen vor Müdigkeit zu, aber die Bilder, die hinter meinen Lidern auftauchten, ließen mich jedes Mal wieder mit laut klopfendem Herzen aufschrecken.

Auf einmal bemerkte ich, dass Lapislazuli mich beobachtete. „Du solltest schlafen, Goldjunge. Sonst verlierst du deinen Glanz."
Ich seufzte. „Nenn mich nicht immer Goldjunge. Mein Name ist Senn."

Sie lachte. „Ja natürlich."

Ich zuckte zusammen. „Ich lüge nicht. Es ist der Name, den ich seit Jahren trage. Länger als irgendeinen anderen."

Lapislazuli richtete sich auf. In der Dunkelheit war sie nicht mehr als ein schwarzer Schatten. „Das mag sein. Aber es ist nicht der Name, den dir die Göttin gegeben hat."
„Das ist Goldjunge sicher auch nicht", konterte ich.

Sie grinste. „Nein, so hat dich unsere Anführerin einmal aus Versehen genannt und seitdem ist der Goldjunge in unserem Dorf so etwas wie ein Mythos."

Ich wusste nicht, ob ich von derart zweifelhafter Berühmtheit sein wollte.

Lapislazuli streckte sich und gähnte. „Lass uns aufbrechen. Es liegt noch ein langer Marsch vor uns."

Ich seufzte und dehnte meine steifen Glieder. Dann folgte ich ihr zurück auf den Boden.

Dieses Mal kamen wir merklich langsamer voran und ich begann, die Kopas zu vermissen. So war es ein mühseliger Marsch, der mich nur wieder an Joarken erinnerte. Nur dass ich dieses Mal nicht einmal Schuhe trug.

Lapislazuli stellte mir hie und da einige Pflanzenarten und Beerensorten vor, aber ich horchte nicht richtig hin.

Nach einer Weile nahm ich ein aufdringliches Rascheln wahr, das mit uns zu wandern schien. Sofort spannte ich mich an und meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich voll und ganz auf das seltsame Geräusch. Neben uns bewegten sich die Blätter und ich konnte einen Schatten sehen. Leise machte ich Lapislazuli darauf aufmerksam.

Sie runzelte die Stirn und starrte auf die verborgene Gestalt. Dann begann sie laut zu lachen.

„Was ist daran so lustig?", fragte ich verwirrt.

„Das ist nur Lavascha."
Ich erinnerte mich, dass es sich bei Lavascha um den Onza handelte. Oder war es „die Onza"? Mich machten diese ganzen fremden Wörter ganz wirr.

Als hätte sie ihren Namen gehört, sprang die Raubkatze aus dem Gebüsch hervor und strich um uns herum. Ich behielt sie skeptisch im Auge, aber Lapislazuli marschierte ungerührt weiter. Ohne eine Schicht Kleidung fühlte ich mich merkwürdig schutzlos, ständig meinte ich, irgendwelche Käfer auf meiner Haut krabbeln zu spüren oder Moskitos, die sich schamlos auf jedes bisschen unbedecktes Fleisch stürzten.

Lapislazuli schien ihre Blöße nicht zu stören. Allerdings bildete ich mir auch ein, dass sämtliches Krabbelgetier ihr auswich.

Der Onza musterte mich mit trägem Blick. Seine Muskeln spielten unter seinem gelben Fell und ließen die kleinen braunen Flecken auf und ab wandern. Er machte keinerlei Anstalten, uns zu attackieren, aber mir behagte seine Anwesenheit gar nicht. Deshalb war ich froh, als Lavascha auf einmal in der Tiefe des Dschungels verschwand und nicht mehr auftauchte. Einen Moment später konnte man den Todesschrei eines Tieres hören. Die Raubkatze hatte sich offenbar mit Futter versorgt.

Das erinnerte mich daran, dass ich ebenfalls schon seit geraumer Zeit Hunger verspürte. Lapislazuli jedoch machte keine Anstalten einer Pause und die uns davonlaufende Zeit ließ auch mich kommentarlos weitermarschieren.

Sogar als es schon dunkel war und ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte, folgte meine Führerin unbeirrt ihrem Weg. Meine Beine waren bleischwer. Sollten wir es schaffen, rechtzeitig zurückzukommen, würde ich wieder beginnen, ausgiebig zu trainieren. Meine fehlende Kondition bereitete mir mehr Schwierigkeiten als erwartet.

Endlich – als ich schon glaubte, jeden Moment einfach zusammenzubrechen – entschied Lapislazuli, eine Pause zu machen. Wir bestiegen wieder einen Baum und kaum hatte ich mich mit dem Oberkörper an den Stamm gelehnt, war ich auch schon eingeschlafen.

Ich war so erschöpft, dass ich nicht einmal von Albträumen gequält wurde, aber leider riss mich Lapislazuli schon viel zu früh aus dem erholsamen Schlaf.

Müde rieb ich mir die Augen. Es war immer noch stockfinster. „Wir müssen weiter", drängte die Frau.

Steif folgte ich ihr. Im Gehen überreichte sie mir einige Beeren, mit denen ich den schlimmsten Hunger stillen konnte. Sie schien ausgeruht wie eh und je.

„Wie kommt es, dass du nie müde wirst?", wollte ich wissen.

Sie lachte. „Das hier ist der Dschungel. Hier ist sogar die Luft beständig nass. Wasser erfrischt mich und füllt meine Energiereserven auf."

Ich versank in Grübeln. Konnte das Alyn dann etwa auch? Eher nicht, schließlich hatte sie keine Macht über das Wasser. Wenn Wasser jedoch in Bewegung war...

Ich hätte mich wohl selbst in meinen Gedankengängen verloren, wenn Lapislazuli nicht plötzlich stehen geblieben wäre.

„Hervorragend", rief sie entzückt aus.

Verwirrt sah ich mich um. Was hatte ihre gute Stimmung ausgelöst? Ich konnte jedoch nichts entdecken.

Dann hörte ich es jedoch. Ein leises Rauschen drang von fern an mein Ohr. Wir folgten dem Geräusch und standen bald vor einem schmalen Fluss.

„Das ist der Blable, er mündet im Sidun."

Blable? Ich konnte den Namen nur falsch verstanden haben. Blable klang mehr nach einer Sprachstörung als nach einem Fluss.

„Hilf mir mal", ertönte unwirsch Lapislazulis Stimme. Sie war etwas weiter gelaufen und mühte sich nun ab, einen Baumstamm ins reißende Wasser zu schieben.

„Was soll das?", fragte ich irritiert.

„Wir brauchen ein Beförderungsmittel oder willst du schwimmen?"
Ich starrte sie an. Das war nicht ihr Ernst. „Wir werden zerschellen oder untergehen. Das ist doch lebensmüde."

Sie schien über mein Entsetzen offensichtlich amüsiert. „Ich besitze die Gabe das Wasser zu kontrollieren. Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue."
Damit hatte sie meinen Schwachpunkt erwischt, denn mit Vertrauen hatte ich schon immer große Probleme gehabt.

Lapislazuli bemerkte mein Zögern. „Wir haben noch einen Tag. Dann wird es für deinen Freund zu spät sein. Zu Fuß schaffen wir diese Distanz niemals. Auch wenn du und dein Begleiter viel Zeit durch einen Umweg verloren habt, braucht man für die Strecke mindestens vier Tage. Wir haben jedoch höchstens drei, wovon zwei schon um sind."

„Woher weißt du das so genau?"

„Die Flüsterin hat es mir mitgeteilt", entgegnete sie, als wäre es keine große Sache. Bald würde ich einen Götterkomplex bekommen, denn es war unmöglich, dass diese Frau das alles wissen konnte, ohne tatsächlich überirdische Hilfe bekommen zu haben.

Gemeinsam schoben wir den Stamm ins Wasser, der seltsamerweise nicht von der Strömung fortgetrieben wurde. Lapislazuli kletterte elegant darauf, während ich mich hinter sie schwang.

Meine Füße tauchten in das kalte Wasser und meine Hose saugte sich am Saum voll. Plötzlich setzte sich der Stamm in Bewegung und schoss von der Strömung getragen los. Entgegen meinen Erwartungen blieb er dabei vollkommen ruhig, wie ein Fels im reißenden Bachbrett.

Wieder einmal schöpfte ich Hoffnung. Vielleicht würden wir es ja doch noch rechtzeitig schaffen.

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