Mit angehaltenem Atem starrte ich auf das große Tier, das grollend die Zähne bleckte. Instinktiv wollte ich nach meinen Messern greifen, da fiel mir ein, dass ich abgesehen von meiner Hose nichts am Leibe trug.
Ein ungeschriebenes Gesetz, dem ich mich unterworfen hatte, lautete, niemals, auch nicht zum Schlafen, die Waffen außer Reichweite abzulegen. Es gab einen Grund, sich daran zu halten und dieser Grund kam gerade eben schleichend auf mich zu.
Ich packte einen Zweig und riss ihn mit einiger Anstrengung ab. Angespannt hielt ich ihn schützend vor meinen Körper.
Die Raubkatze schien sich über meine lächerliche Waffe, an der noch die Blätter hingen, lustig zu machen. Beeindrucken ließ sie sich jedenfalls nicht.
„Haub ab", schrie ich sie an, doch sie näherte sich unbeirrt. Heftig atmend stellte ich mich auf einen Kampf ein. Es war keine Frage, wer den Kürzeren ziehen würde. Vermutlich würde ich stürzen, bevor ich von ihr ernsthaft verletzt werden konnte. Sollte ich den Fall überleben, würden mich die Krokodile bei lebendigem Leibe fressen.
In Sekundenschnelle schossen mir die verschiedensten Szenarien durch den Kopf. Alle endeten damit, dass ich auf die ein oder andere Weise sterben würde.
Die Leiche Joarkens kippte schon wieder. Für einen kurzen Moment war ich versucht, sie fallen zu lassen und den Krokodilen zum Fraß vorzuwerfen, in der Hoffnung, dass sie mich dabei vergessen würden. Es wäre ein grausame Möglichkeit. In mir tobte ein Kampf. Mein Überlebenstrieb rang mit meinen Moralvorstellungen.
Wie ein verängstigendes Reh stand ich wie paralysiert vor der Gefahr.
Der Ast, auf dem ich balancierte, vibrierte, als die Raubkatze elegant einen Satz machte und vom anderen Baum zu mir herübersprang.
Ich fühlte, wie ein Schweißtropfen meinen Rücken hinabrollte und am Bund der Hose hängen blieb. All meine Haare stellten sich zu Berge. Mir lief die Zeit davon. Vorsichtig machte ich einen Schritt rückwärts, immer um mein Gleichgewicht bedacht.
Plötzlich ertönte ein fremder Schrei und die Raubkatze zuckte zusammen. Unruhig verharrte sie in ihrer Stellung. Ich folgte ihrem starrem Blick. Vom Nachbarsbaum fixierten mich zwei tiefblaue Augen. Menschliche Augen.
Trotzdem blieb ich auf der Hut, unsicher, ob die Fremde eine weitere Gefahr darstellte oder die Rettung. Bei den Göttern, sie trug schließlich nicht einmal richtige Kleidung. Diesen Fetzen, den sie sich da um den Körper geschlungen hatte, konnte man wohl kaum als solche bezeichnen.
Die Raubkatze setzte sich vor mir auf den Ast und ließ mich keinen Moment aus den Augen. Die Fremde näherte sich leichtfüßig, wechselte den Baum, ohne auch nur eine Sekunde aus dem Tritt zu kommen.
Dann stand sie vor mir. Überrascht starrte ich sie an. Sie war klein. Die Frau reichte mir nicht einmal bis zur Brust. Sie grinste mich an. „Du bist also der Fremde, der mich holen wird."
Ihr Akrid klang fremdartig. Sie rollte das „R" überdeutlich und zog die Vokale in die Länge. Fasziniert lauschte ich ihrer für ihren kleinen Körper überraschend dunklen Stimme. Dann besann ich mich jedoch und schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, so wieder klar denken zu können.
„Ich verstehe nicht."
„Ihr Fremden versteht so wenig", seufzte sie melancholisch. Ich konnte nicht anders, als ihr insgeheim zuzustimmen. Auch die Frau aus meinen Träumen hatte diesen Satz schon oft aus meinem Mund hören müssen. Die Haut der Fremden war nur ein klein wenig heller als die von Aöwe. Nicht schwarz, sondern eher in der Farbe von Kaffee. Umso deutlicher stachen ihre blauen Augen hervor, die von einem Schleier aus langen, welligen schwarzen Haaren umrahmt wurden. Haare, die denen von Alyn sehr ähnelten, aber etwas lockiger waren. Mit der breiten Nase im scharfkantigen Gesicht würde sie nach seylanischen Maßstäben nicht als klassische Schönheit gelten, aber ihre exotische Fremdartigkeit hatte etwas Hypnotisches an sich. Ihre Ausstrahlung zog mich in ihren Bann.
Das Knurren der Raubkatze riss mich zurück in die Gegenwart. Die Fremde strich der Raubkatze langsam über den Kopf.
„Was ist das für ein Tier?", stieß ich hervor, während ich unkonzentriert versuchte, mich an die Informationen, die Aöwe mir eingetrichtert hatte, zu erinnern.
„Wir nennen es Onza. Man kann sie nicht zähmen. Aber Lavascha ist mit mir aufgewachsen und hält mir bis zu einem bestimmten Grad die Treue."
Der Name der Raubkatze war eine Aufeinanderfolge von Vokalen unterbrochen von seltsamen Lauten, die vermutlich auf Askid nicht einmal existierten.
„Bis zu welchem Grad?", wagte ich zu fragen.
Die Fremde grinste erneut. Langsam und deutlich sprach sie es aus. „Futter."
„Sie wird mich also fressen?"
„Möglicherweise."
Ich betrachtete meine lächerliche Waffe. „Du kannst sie nicht davon abhalten?"
„Doch."
Sie schien meine Angst zu spüren, denn ich wusste, dass man sie mir nur schwer ansehen konnte. Die Fremde spielte mit mir Katz und Maus. Es stand außer Frage, wer welche Rolle einnahm.
„Und wirst du es tun?"
Für einen kurzen Moment legte die Fremde den Kopf schief, während sie zu überlegen schien.
„Das werde ich wohl müssen. Doch das Gesetz des Dschungels ist hart."
Mein Blick fiel auf den toten Körper Joarkens und sein Anblick ließ Schmerz aufflammen. „Das ist es in der Tat", sagte ich mit merkwürdig belegter Stimme.
„Ich werde dich retten und zu meinem Dorf führen. Dort wird entschieden, ob wir dir die Hilfe gewähren, die du so dringend benötigst. Dafür musst du jedoch den Dschungel achten."
„Wie soll ich das verstehen?", fragte ich durcheinander. Ich hatte doch längst einen Heidenrespekt vor dieser grünen Gryphe.
„Du musst den Krokodilen ihre verdiente Beute überreichen."
Ich starrte hinunter auf die grünen Reptilien, die erwartungsvoll zu uns hinaufblickten. Sie schienen zu wissen, worum sich unser Gespräch drehte. Entsetzt wandte ich mich wieder zu der Fremden. „Ich soll meinen Begleiter den Krokodilen überlassen?"
Sie nickte. „Mit dieser Geste beweist du, die Gesetze des Dschungels zu respektieren."
Ich rang mit mir selbst. Der Glaube an die seylschen Götter verbot es mir, eine derartige Schandtat zu begehen. Andererseits hatten diese auch noch nie Rücksicht auf mich genommen. Wenn ich tatsächlich an ihrer Stelle Seyl retten sollte, hatten sie sicher dafür Verständnis. Nur der Gedanke an Joarken ließ mich noch zögern.
„Deine Zeit läuft", ermahnte mich die Fremde und wie zur Bestätigung fauchte der Onza.
„Seine Religion...", wandte ich ein, aber sie unterbrach mich.
„Der Dschungel verbietet es. Hier gelten andere Gesetze. Man muss sich dem Dschungel anpassen oder wird von ihr getötet."
Es war beängstigend, sie so sprechen zu hören. Als handle es sich bei dieser grünen Endlosigkeit um ein lebendes Wesen mit einem Willen. Zudem sprach sie über den Dschungel, als wäre er weiblich.
Ich kniete mich zu Joarken. Der Matrose war seinem Kapitän treu ergeben, er hätte alles getan, um ihn vor dem Tod zu retten. Wenn es die einzige Möglichkeit war...
Kurz schloss ich die Augen, dann gab ich der Leiche einen leichten Impuls. Sie kippte vom Ast und fiel zu Boden. Sofort stürzten sich die Krokodile auf sie.
Voller Grauen wandte ich mich ab. Versuchte nicht mit anzuhören, wie die großen Tiere krachend die Knochen entzwei bissen.
Fest presste ich meine Kiefer gegeneinander, während unter mir diese Symphonie des Grauens ertönte. Ich versuchte mir einzureden, dass er sowieso zu Nahrung von Maden und Würmern geworden wäre, wenn ich ihn eingegraben hätte. Menschen entstehen aus Erde und vergehen in Erde. Der Grundsatz des Glaubens, den ich gerade eben mit Füßen getreten hatte.
Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Das Gesetz des Dschungels gefiel mir besser. Trotzdem trauerte ich um Joarken, es war so knapp gewesen. Einen Moment schneller. Wenn wir nur einen Moment schneller gewesen wären.
Ein leichtes Vibrieren des Astes ließ mich aufspringen und Abwehrhaltung annehmen. Die Raubkatze war verschwunden, stattdessen stand mir die Fremde gegenüber.
„Es tut mir leid, dir diese Entscheidung aufzudrängen, aber nicht der Dschungel ist unser Gegner, sondern die Zeit."
Ich staunte, wie gut sie informiert war. Die Frau schien es nicht zu bemerken, sondern ergriff meine Hand, die ich immer noch wie erstarrt gehoben hatte.
„Unser Dorf ist nicht fern."
„Ich kann nicht mit dir gehen", sagte ich.
Irritiert blieb sie stehen. „Wieso nicht?"
Ich starrte hinunter zu den Krokodilen, die sich gerade um die Überreste Joarkens zu streiten schienen. Übelkeit breitete sich in mir aus. „Das bin ich ihm schuldig", murmelte ich.
Das letzte Mal, als mir ein Tod so nahe gegangen war, war ich um einiges jünger gewesen und es hatte zwei unschuldigen Menschen das Leben gekostet. Ich wandte mich ab. Ich wollte nicht mehr daran denken. Dieser Mord war einer der Wendepunkte in meinem Leben gewesen und ich wollte nicht wieder die Schatten der Vergangenheit heraufbeschwören. Ich hatte schon genug damit zu tun, die jüngeren Geschehnisse zu verarbeiten.
Fast bildete ich mir ein, einen physischen Schmerz zu spüren, als würde ich selbst von den Krokodilen zerfleischt werden und nicht nur zusehen. Am liebsten hätte ich mich übergeben, es fiel mir schwer, den Würgereiz zu unterdrücken. Dieses Bild gehörte definitiv zu den grausigsten in meinem Leben, aber ich hatte schon viele schreckliche Dinge gesehen. Deshalb harrte ich bis zur letzten Sekunde aus.
Es ging erstaunlicherweise sehr schnell. Nach nicht langer Zeit, war von Joarken nicht mehr viel übrig und die Krokodile trollten sich zurück zu ihrem See.
„Ziehen Krokodile ihre Opfer nicht unter Wasser?", fragte ich.
„Diese nicht", antwortete die Fremde. „Es ist Zeit", fügte sie hinzu und ich nickte.
Kurz folgte mein Blick dem Weg, den die Reptilien genommen hatten und blieb an Joarkens und meinen Reisesachen hängen. Sie waren noch genau da, wo wir sie abgelegt hatten, und beschworen für einen Augenblick das Bild einer heilen Welt hinauf. Eine Welt, in der die letzten Minuten nicht existierten. Dann wandte ich meinen Blick ab und folgte der Fremden.
Sie eilte leichtfüßig voraus. Schwang sich an Ranken über Abgründe und bereitete mir Mühe ihr zu folgen. Bald keuchte ich und mein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment vor Anstrengung platzen. Gerade als ich glaubte, nicht einen Schritt noch tun zu können, hielt sie an.
„Wir sind da", verkündete sie.
Ich sank nach vorne, stützte die Hände gegen die Oberschenkel und hustete. Der Schweiß lief mir aus sämtlichen Poren und mein Körper schien in Flammen zu stehen.
Sie atmete nicht einmal heftig. „Ich dachte, deine Kondition wäre besser."
Ich wollte etwas Scharfzüngiges erwidern, aber ich war so damit beschäftigt meine Lungen mit genügend Luft zu füllen, dass ich stumm blieb. Joarken hätte sich großartig darüber amüsiert, mich von einer Frau besiegt zu sehen. Schweiß und Spucke tropften zu Boden, während ich nach den richtigen Worten suchte, die mir jetzt zu fehlen schienen.
Die Frau hakte sich bei mir unter. „Ich helfe dir", bot sie an, aber ich entwand mich ihrem Griff.
„Ich gehe allein", würgte ich hervor.
Sie neigte nur den Kopf. „Dann folge mir."
Das Dorf war von hölzernen Pfählen umschlossen, deren Spitzen gefährlich in die Höhe ragten. Es gab keine Wachen, der Zaun diente vermutlich eher dazu, wilde Tiere draußen zu halten, als Eindringlinge abzuwehren.
Hinter dem Zaun hatten sich anscheinend sämtliche Einwohner versammelt. Offenbar wurden wir erwartet, was mir gar nicht behagte. Alle starrten mich an, als wäre ich ein Wesen aus einer anderen Welt. Vermutlich hatte ein Großteil von ihnen noch nie einen Fuß außerhalb des Dschungels gesetzt. So musste ich mit meiner hellen Haut und den blonden Haaren einer seltsamen Kuriosität ähneln, vor allem, weil ich selbst die Männer um mindestens einen Kopf überragte. Jetzt bemerkte ich auch, dass meine Führerin zwar in Maßstäben außerhalb des Dschungels als klein gelten würde, sie hier aber eine der größeren Frauen war.
Staunend sah ich mich um. Für kurze Zeit vergaß ich sogar den Tod Joarkens und meine eigene Qual. Kinder näherten sich mir vorsichtig und mit großen Augen. Sie berührten meine Hose, als schienen sie nicht glauben zu können, dass ich wirklich existierte. Die Erwachsenen waren zurückhaltender, aber ich konnte aus ihren Mienen das gleiche Staunen herauslesen.
„Wir bekommen nicht oft Fremde zu Gesicht", fasste die Frau das, was ich mir längst gedacht hatte, in Worte. „Unsere Anführerin lebt in dieser Hütte dort vorne. Sie und die Flüsterin erwarten dich."
Verwirrt schaute ich in die angegebene Richtung und musterte die hölzerne Rundhütte. Sie war größer als die anderen, aber sonst glich sie dem Rest der Bebauungen bis aufs Dach. Vor dem Eingang hing ein Stück Leder. Davor waren Sträucher mit Früchten eingepflanzt, die in bunten Farben leuchteten.
„Flüsterin?", fragte ich durcheinander, da mir ihre Worte wieder in den Sinn kamen.
„In eurer Sprache gibt es kein entsprechendes Wort. Wir nennen sie Dwadleakela und sie ist so etwas wie unsere Verbindung zur Göttin."
„Ihr glaubt nur an einen Gott?"
Sie lächelte und verbesserte mich. „Göttin. Unser Leben beginnt und endet mit ihr."
Ich überlegte. Die Jamarer schienen ein sehr matriarchalisches Volk zu sein. „Und wer ist Eure Göttin?"
„Der Dschungel", antwortete sie und grinste dabei.
Sofort stieg mir das Bild der Krokodile, die Joarkens Leiche zerfleischten wieder vor Augen. „Der Dschungel ist Eure Göttin?", entgegnete ich fassungslos. Das erklärte einiges.
Die Fremde nickte. „In eurer Sprache mag der Dschungel männlich sein, aber wir glauben daran, dass alles, was Leben spendet, weiblich ist. Nur eine Frau kann neues Leben erschaffen und der Dschungel tut nichts anderes. Wir werden im Dschungel geboren und sie ernährt uns und hält uns am Leben. Der Dschungel ist unsere Religion."
Eine interessante Ansicht. Wenn ich darüber nachdachte, ergab sie sogar Sinn. Ich begann die Einstellung der Menschen dieses Landes zu mögen. Ihr Glaube war so viel logischer als unsere Erklärungsversuche mit den zahlreichen Göttern. Auch die Elfen hatten nur eine Göttin gekannt, schoss mir durch den Kopf.
Wir hielten vor der Rundhütte, vor deren Eingang zwei Wachen standen. Beide traten zur Seite und verneigten sich vor meiner Führerin.
„In unserem Dorf ist die Frau über dem Mann gestellt, darum bitte ich dich, unsere Gepflogenheiten nicht zu verletzen, auch wenn es dir als Mann noch so seltsam erscheinen mag. Sprich nur, wenn man das Wort an dich richtet und wage es nicht, einer Frau zu widersprechen."
„Aber die Wachen am Eingang waren doch männlich."
Sie lächelte. „Nur weil wir ein matriarchalischer Stamm sind, heißt das nicht, dass wir die uns Frauen überlegene Körperkraft nicht zu schätzen wissen. Du magst vielleicht glauben, dass wir denken, männliche Personen seien bei uns nichts wert, aber dem ist nicht so. Männer besitzen jedoch einen viel größeren Machtdrang und das macht sie ungeeignet für das Fällen von wichtigen Entscheidungen."
Ich war mir nicht sicher, ob ich mich durch ihre Worte gekränkt fühlen sollte oder nicht. Deshalb schwieg ich einfach.
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