Kapitel 18

Der Dschungel wirkte von Nahem bei Weitem bedrohlicher. Ich starrte unbehaglich in das dunkelgrüne Blätterwerk. Irgendwo dort drinnen lebte ein Volk, das unser aller Leben retten konnte.

Der Glatzkopf neben mir schien meine Gedanken zu teilen. Sein Gesicht spiegelte seinen Zwiespalt zwischen Hoffnung und Resignation.

Ich hatte darauf bestanden, ihn mitkommen zu lassen. Er musste seinem Käpt'n helfen, andernfalls wäre er seines Lebens nicht mehr glücklich geworden. Die Piratin hatte nach einigem Zögern meinen Bitten nachgegeben und ihn mir als Begleitung zugeteilt. Am Ende hätte man ihn sowieso in den Dschungel geschickt, weil er sie angegriffen hatte, obwohl Doms Mannschaft bereits kapituliert hatte. Für die Jamarer eine besonders ehrlose Tat.

Aöwe klopfte mir auf die Schulter. „Ich wünsche euch viel Glück. Ihr habt zehn Tage. Dann ist es zu spät. Segrele wird alles tun, um Dominic so lange am Leben zu halten."

Ich schulterte meinen Rucksack. Er war nicht sonderlich schwer. An meinem Gürtel hing ein mir unbekanntes Gewicht. Die Piratin hatte mir eine große Klinge überreicht. „Das ist eine Machete. Mit ihr kannst du dir den Weg freihieben." Ich hatte sie zögerlich entgegengenommen. Ich war mit der Waffe nicht vertraut, aber ich sah ein, dass sie sich vielleicht noch als unentbehrlich herausstellen könnte.

Der Glatzkopf, dessen Name ich immer noch nicht kannte und der immer noch hartnäckig schwieg, bekam ebenfalls eine Machete. Er schwang sie geschickt durch die Luft und kam mir dabei so nahe, dass ich fast zurückgewichen wäre, wenn mich mein jahrelanges Training nicht auf genau solche Situationen vorbereitet hätte. So zuckte ich nicht mit der Wimper, was der Glatzkopf, ohne das Gesicht zu verziehen, zur Kenntnis genommen hatte.

Langsam bewegte ich mich auf die kleine Schneise zu, von der aus man auf den Pfad, der tiefer in den Dschungel führte, gelangen konnte. Kurz blickte ich nochmal zurück und Aöwe nickte mir aufmunternd zu. Die beiden grimmigen Piraten neben ihr hoben ihre Waffen. Die Warnung war eindeutig. Sollte ich es mir anders überlegen, wäre mein Leben verwirkt. Auch wenn Aöwe und ich uns verstanden, wusste ich doch, dass sie mir nicht zur Hilfe kommen würde. Es war meine Mutprobe.

Ich verfluchte den Kapitän, der mir das alles eingebrockt hatte. Die Flussräuber waren offenbar der Meinung, der junge Mann habe versucht, ihre Anführerin vor seinem eigenen Matrosen zu retten. Ich wusste nicht, wen er damit hatte retten wollen. Seine Stiefmutter oder doch seinen Matrosen, der durch einen Mord sofort sein Leben verwirkt hätte.

Kurz warf ich einen Blick auf den Glatzkopf, der in eine ausführliche Musterung des Dschungels versunken war. Er schien der Meinung zu sein, dass sein Kapitän sich für ihn opfern hatte wollen.

Was hatte Dom wirklich vorgehabt? Gab es überhaupt einen Plan oder war es mehr eine rein instinktive Handlung gewesen?

„Die Zeit läuft", meldete sich Aöwe ungeduldig zu Wort.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Ich werde rechtzeitig zurück sein." Mit diesen Worten marschierte ich los. Ich drehte mich nicht mehr um.

Der Pfad führte tiefer ins Blattwerk und meine Augen passten sich an die Dunkelheit an. Ich hatte erwartet, dass der Dschungel, ähnlich wie die Wälder Seyls, eher ein ruhiger Ort sein würde, aber ich hatte mich geirrt. Von allen Seiten drang Zwitschern, Rascheln und sogar Gebrüll auf uns ein. Ich konnte jedoch kein einziges Tier sehen, egal wie sehr ich meine Umgebung auch absuchte.

Der Glatzkopf neben mir zuckte bei jedem Brüllen zusammen. Schnell wurde der Pfad enger und wir mussten hintereinander gehen. Weil mein Begleiter zögernd stehen blieb, übernahm ich die Führung. Immer wieder versperrten uns Pflanzen den Weg, aber die Machete leistete gute Dienste.

Bald hatte ich jegliche Orientierung verloren. Diese Tatsache beschäftigte mich mehr als ich zugeben wollte, schließlich war mein Orientierungssinn bisher immer unfehlbar gewesen. Hatte ich zuvor noch eine leise Hoffnung gehegt, das geheimnisvolle Volk zu finden, schwand auch diese dahin.

Diese Mission war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Ich hatte es nur nicht wahrhaben wollen.

Ich schlug auf ein großes Insekt, das sich auf meinem Arm niedergelassen hatte, während mir Aöwes Worte durch den Kopf geisterten. Die Flusspiratin hatte mir im Schnelldurchlauf einen Einblick in die Flora und Fauna des Dschungels gegeben. Fliegendes Insekt, das dir das Blut aussaugen will – eindeutig ein Moskito, die jamarsche Antwort auf Mücken.

Vor meinen Augen huschte etwas über den Pfad und verschwand hinter Buschwerk, bevor ich erkennen konnte, worum es sich gehandelt hatte.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. In diesem Wald war die hohe Luftfeuchtigkeit nahezu unerträglich. Der Rucksack drückte mich zu Boden, aber Aöwe hatte mich überzeugt, dass sein Inhalt unverzichtbar war.

Inzwischen knurrte mein Magen und ich keuchte. Bedauerlicherweise hatte ich seit dem Überfall in Merin meine alte Kondition noch nicht zurückgewonnen.

Der Mann hinter mir schwieg weiterhin verbissen, was ich als angenehm empfand. Auch ich wollte nicht reden.

So wanderten wir eine Weile, ohne zu sprechen, bis ich auf einmal stocksteif stehen blieb. Es waren vielleicht vier Stunden seit unserem Aufbruch vergangen, aber es fühlte sich an, als wäre ich bereits tagelang marschiert. Die Wasserflaschen, die ich mitgenommen hatte, waren bereits geleert und meine Kehle fühlte sich trocken an. War ich bis eben wenigstens noch langsam vorangekommen, so weigerten sich meine Füße, sich weiterzubewegen. Ständig waren wir von einer Vielzahl an Vogelgesängen und anderen Lauten des Dschungels begleitet geworden, nun aber war alles still. Bis auf ein einziges Rascheln.

Der Glatzkopf prallte gegen mich und öffnete den Mund, zweifellos, um zu einer Tirade anzusetzen. Ich hob mahnend die Hand. Er bemerkte meine angespannte Haltung und blieb still. Stattdessen lauschte er ebenfalls und zog ruckartig seine Machete. Offenbar hatte er nun auch das seltsame Geräusch gehört.

Auf einmal wusste ich, worum es sich dabei handelte. „Bei den Göttern!", schrie ich. „Lauf!"

Ohne mich nach ihm umzudrehen, stürmte ich los. Ich war bereits ein gutes Stück gerannt, als mir auffiel, dass mein Atem der einzige war, den ich hören konnte. Auch waren hinter mir keine anderen Schritte ertönt. Rasch warf ich einen Blick nach hinten, nur um entsetzt festzustellen, dass sich dieser Idiot keinen Zentimeter von der Stelle gerührt hatte. Stattdessen stand er breitbeinig auf dem Pfad und hielt seine Machete griffbereit in der Hand.

Aber das, was da auf uns zukam, war kein Gegner, den man mit einer simplen Waffe töten konnte.

Hin- und hergerissen, schwankte mein Blick zwischen ihm und der rettenden Sicherheit. Wenn ich zurückrannte, würden wir vielleicht nicht mehr entkommen. Der Kerl war schon so gut wie tot.

Deshalb fiel mir die Entscheidung nicht schwer.

Laut fluchend hetzte ich los.

„Du Dummkopf!", schrie ich. „Renn! Du kannst diesen Gegner nicht besiegen. Renn oder du stirbst."

Unendlich langsam wandte er mir den Kopf zu. Sein Blick war entschlossen. „Ich laufe vor nichts davon! Ich bin kein Feigling."

Ich erreichte ihn und warf einen panischen Blick in Richtung der noch nicht sichtbaren Gefahr. „Das hat nichts mit Feigheit zu tun. Ein guter Kämpfer erkennt, wenn er verloren hat. Und wir haben verloren. Willst du dein nichtsnutziges Leben einfach so hinschmeißen? Wofür habe ich die verdammten Piraten um einen Gefallen angebettelt? Damit du deinen eigensinnigen Kapitän retten kannst oder damit du hier an deiner Starrsinnigkeit zugrunde gehst?"

Er zögerte, aber ich hatte schon lange genug gewartet. Ich würde nicht sterben, nur weil er nicht in der Lage war, die Situation richtig einzuschätzen. Mehr konnte ich nicht für ihn tun. Wenn er seine verdammten Füße nicht in Bewegung setzte, war das sein Problem, ich würde ihn doch nicht ziehen.

Verzweifelt zupfte ich an seinem Ärmel, als panische Tiere an uns vorbeischossen. Wenn wir nicht sofort flohen, würde es zu spät sein. „Verstehst du jetzt?", unternahm ich einen letzten Versuch, als eine große gefleckte Raubkatze an uns vorbeiraste.

Endlich tat er einen Schritt in meine Richtung.

Wir hetzten den Pfad zurück, die einzige Möglichkeit, die sich uns bot. Früher oder später würden wir ihn jedoch verlassen müssen, sonst wären wir wieder am Anfang. Ich zweifelte nicht daran, dass man uns dort erwarten und sofort töten würde.

Als sich endlich eine kleine Lücke im Blattwerk auftat, zögerte ich nicht lange. Ich schlüpfte hinein, in der Hoffnung, dass der Glatzköpfige es mir nach tat.

Ich bildete mir ein, das Tappen tausender Füße zu hören, während ich mich unter Lianen bückte und hohem Wurzelwerk auswich.

Plötzlich brach unter mir der Erdboden weg und hätte mich nicht in letzter Sekunde eine Hand gepackt, wäre ich in ein an die fünf Scal tiefes Loch gefallen.

„Danke", keuchte ich. Der Glatzkopf erwiderte nichts, sondern rannte einfach weiter.

Irgendwann wurden unsere Schritte langsamer und langsamer, bis wir beide um Atem ringend stehen blieben.

Ängstlich lauschte ich, konnte aber nichts außer den üblichen Geräuschen hören. Erleichtert ließ ich mich zu Boden sinken. „Wir müssen Rast machen", sagte ich, nachdem ich mich etwas von dem Waldlauf erholt hatte.

Allmählich wurde es finster und zu allem Übel begann es auch noch zu regnen. Zuerst waren es nur ein paar vereinzelte Tropfen, die sich aber rasch vermehrten, bis ein regelrechter Guss auf uns niederprasselte. Im Nu war ich bis auf die Knochen durchnässt.

Erschöpft strich ich mir mit beiden Händen über Gesicht. Ich war müde, einfach nur müde. Wieder einmal fragte ich mich, warum ich das alles tat. Meine Kleidung klebte mir an der Haut und der Regen vermischte sich mit meinem Schweiß.

Ich weiß nicht, wie ich die Kraft fand, aufzustehen. Meine Glieder fühlten sich steif an. Mit klammen Fingern begann ich in dem einfachen Rucksack zu wühlen, bis ich eine große Plane aus festem Stoff fand. Mühselig band ich zuerst ein Ende an einem vorstehenden Ast fest, dann blickte ich mich suchend um.

Kein anderer Baum in der Nähe bot sich an, dafür fand der Glatzkopf einen fast drei Finger breiten Stock. Gemeinsam schafften wir es, ihn in den weichen Boden zu rammen und mit einem verzweigten Ast zu stützen. Die restlichen beiden Enden befestigten wir etwas weiter unten, sodass das Wasser, welches der Stoff nicht mehr einsaugte, ablaufen konnte. Unsere Konstruktion sah recht wackelig aus, aber die Hauptsache war, dass sie hielt. Zumindest hoffte ich es.

Gemeinsam suchten wir unter dem provisorischen Dach Schutz. Der Regen prasselte laut von den Blättern und der Boden unter uns war nass.

Ich schlüpfte aus meinem Hemd und wrang es aus. Dann legte ich es auf einen schmalen Stein, sodass es wenigstens ein bisschen trocknen würde. Aus Platzmangel hatte ich keine Kleidungsstücke mitgenommen, aber wenigstens eine dünne Decke hatte ich dabei. Diese wickelte ich um meinen Körper.

Der Glatzkopf tat es mir nach. Ein offenes Feuer machten wir nicht, denn wir besaßen weder trockenes Holz noch konnten wir welches sammeln. Immerhin war es nicht kalt.

Ich schichtete etwas Laub zu einem kleinen Haufen zusammen und bettete mich darauf. Es war nur mäßig bequem, aber es hätte schlimmer sein können.

„Was war das für ein Monster?"

Überrascht sah ich auf. Der Glatzkopf blickte mich mit seinen olivfarbenen Augen durchdringend an. „Nicht ein Monster, sondern viele."

Er schnaubte. „Wie soll ich das verstehen?"

„Ameisen", erklärte ich.

„Ameisen?" Er schien mir nicht zu glauben, aber mir war es genauso gegangen.

„In diesem Dschungel gibt es ein Heer an riesenhaften Ameisen. Sie sind mit den Treiberameisen verwandt, aber durch ihre Größe nicht nur Insekten und kleinen Säugetieren gefährlich. Sie hätten uns töten können."

„Du verarschst mich." Ich runzelte kurz die Stirn ob seiner Ausdrucksweise, aber ich war niemand, der jemanden deswegen verurteilen würde. Sollten die Leute doch reden, wie sie wollten.

„Ich wünschte es wäre so. Aber leider ist es mein völliger Ernst."

Der Glatzkopf schien über meine Worte nachzudenken und schwieg. Ich nahm mir Zeit, in dem schattenhaften Licht seine Tätowierungen zu mustern. Seine mächtigen Oberarme wurden von verschlungenen Ranken geschmückt, die sich in wilde Tiere verwandelten. Im flackernden Schein der Kerze, die der Mann gerade eben aus seiner Tasche gezogen hatte und die auf wundersame Weise trocken geblieben war, schienen sich die Tätowierungen zu bewegen. Wie hypnotisiert konnte ich den Blick nicht mehr abwenden.

Ertappt zuckte ich zusammen, als der Glatzkopf wieder zu sprechen begann. „Warum tust du das?"

Ich wurde rot. „Es tut mir leid", murmelte ich tatsächlich verlegen, was ich selbst mit Überraschung feststellte.

„Mir sollte es leid tun. Jetzt hast du schon wieder mein Leben gerettet, obwohl ich alles dafür getan habe, dich zu sabotieren."

Ich seufzte. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass dieser Mann zu jener eingeschworenen Truppe gehörte, die mich hatte vergiften wollen.

„Mir liegt nichts daran, dich zu töten. Sonst wärst du schon längst in die Hallen der Götter eingetreten."

Er zweifelte nicht an meinen Worten. „Du hättest mich trotzdem zurücklassen können."

„Du bist dem Kapitän treu ergeben und ich habe diesem ein Versprechen gegeben. Ich pflege meine Versprechen zu halten. Das ist der einzige Grund", erklärte ich entschieden.

Zum ersten Mal sah ich den Glatzkopf lächeln. „Klar", murmelte er. Dann sahen wir beide gemeinsam zu, wie der Regen zu Boden tropfte, nur um sofort zu versickern. An manchen Stellen hatten sich kleine Pfützen gebildet, die aufgrund der Dunkelheit schwarz leuchteten.

„Ich bin Joarken", sagte der Mann.

„Senn", erwiderte ich und er nickte.

„Ich weiß."

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