Kapitel 16

Langsam schrubbte ich das Deck. Noch nie hatte ich mich so entrückt gefühlt wie in diesem Moment. Immer wieder hielt ich inne, starrte auf meine Finger, bewegte sie einzeln und betrachtete das monströse Schiff vor uns. War ich wieder ich?

Die vergangene Nacht war hinter einem Schleier verborgen. Ich wusste, was ich getan hatte. Das Schlimmste war jedoch, dass ich mich nicht eingesperrt oder gezwungen gefühlt hatte. Es war meine eigene Entscheidung gewesen. Ich hatte es gut gefunden. Es hatte mir Spaß gemacht, Alyn vor mir herzutreiben und ihre Verzweiflung zu sehen. Es hatte mir gefallen.

Noch immer konnte ich es kaum glauben, noch immer war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich zurück war. Meine Schulter, an der sich die Tätowierung befand, pochte. Ich fürchtete, dass ich mich erneut selbst verlieren würde. Ich hatte keine Gewalt darüber. Wenn Alyn mich nicht in eine Ohnmacht getrieben hätte, wäre ich möglicherweise niemals zurückgekehrt. Die Frau aus meinen Träumen hatte mich irgendwie zurückgeholt. So leicht lässt du dich kontrollieren? Ich hätte mehr von dir erwartet.

„Du sollst nicht schlafen, sondern arbeiten." Degendans Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Er war es gewesen, der mir aufgetragen hatte, das Deck zu schrubben, damit ich nicht auffiel.

Einer der Flusspiraten stand in der Nähe und beobachtete uns grimmig. Degendan begann weiterzugehen, hinter ihm ein weiterer Flusspirat, der ihn bei jedem Schritt bewachte.

Niemand aus der Mannschaft der Wellenkönigin wagte es aufzubegehren. Auch wenn ich den Glatzkopf im Auge behielt. Er mochte zwar Rosena verspottet haben, doch seinem Kapitän war er offenbar treu ergeben, denn als dieser auf die Schwarze Jungfrau gebracht wurde, war der Glatzkopf kurz davor gewesen, die bewaffneten Flusspiraten anzugreifen. Nun arbeitete er jedoch genau wie die anderen vor sich hin.

Ich traute ihm trotzdem nicht.

Je näher wir dem Versteck der Piraten kamen, desto mehr Schiffe kreuzten unseren Weg. Kleine, große, Einmaster, Mehrmaster, alle Variationen waren vertreten, aber keines war so prächtig wie die Schwarze Jungfrau, die mit ihren vergoldeten Verzierungen eine Augenweide darstellte. Alle wichen diesem riesigen Gefährt aus und selbst die besonders abgebrühten unter den Flussräubern konnten sich ihrer Wirkung nicht entziehen.

Energisch wrang ich den Lappen aus. Dreckiges Wasser tropfte zurück in den Eimer. Ich hatte Zeit meines Lebens in den verschiedensten Rollen gelebt und viele davon beinhalteten regelmäßiges Putzen irgendwelcher Gegenstände; das Schrubben eines Schiffes war jedoch noch nie darunter gewesen.

Unauffällig schielte ich zum wiederholten Male auf die Schwarze Jungfrau. An Deck eilten die Piraten geschäftig auf und ab, immer wieder konnte ich auch ihre Anführerin entdecken; das Gesicht, das ich jedoch am meisten von allen zu sehen erhoffte, erblickte ich jedoch nicht. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich Alyn sehen wollte, weil ich mich nach ihr sehnte oder weil sie meine Zielperson war. Diese Unwissenheit trieb mich schier in den Wahnsinn.

„Nich träumen!", grunzte jemand und verpasste mir einen Rempler. Ich kippte von der Wucht des Schlages überrascht zur Seite, fing mich jedoch wieder, bevor ich stürzte. Grimmig rieb ich mir die Schulter und starrte den Piraten, der mich so rüde behandelt hatte, wütend an.

Er jedoch blieb davon reichlich unbeeindruckt. Für ihn war ich nicht mehr als ein einfacher Matrose und keine potenzielle Gefahr. Wie gerne hätte ich ihn in diesem Moment mit fast keinem Aufwand zu Fall gebracht und ihn dann von oben herab angestarrt. Die Bitte des Kapitäns und der Gedanke an Mika, der sich mit Absicht in die Fänge der Piratin begeben hatte, hielten mich davon allerdings ab.

Deshalb schluckte ich meinen Zorn und polierte verbissen irgendwelche Bohlen. Der Flussräuber wanderte weiter, als er erkannte, dass ich keine weiteren Schwierigkeiten bereiten würde. Noch nicht.

Als wir Par'Nevere erreichten, war es lange nach Mittag. Die Luft war schwül und ich schwitzte. Mein Körper hatte sich noch nicht an die deutlich wärmeren Temperaturen gewöhnt. Die hohe Luftfeuchtigkeit tat ihr übriges. Mir rann der Schweiß aus allen Poren. Erschöpft wischte ich mir mit dem Handrücken über die nasse Stirn.

Trotzdem betrachtete ich fasziniert das Gewusel am Hafen. Während die anderen Matrosen sich unter Aufsicht der Piraten auf das Anlegemanöver vorbereiteten, genoss ich einen Moment der Ruhe, ohne Beobachtung durch irgendeinen der Flussräuber.

Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal vor sein Haus tritt. Krylanid, die Stadt der Flüsse, besaß ebenfalls einen großen Hafen, doch diesen trennten Welten von Par'Nevere.

Die Stadt selbst erstreckte sich bis an den Rand des Dschungels, dessen hohe Bäume sämtliche Gebäude überragten, wie als stumme Warnung, die Vorherrschaft der Natur in diesem Lande zu respektieren.

Beim Großteil der Häuser handelte es sich um einfache Lehmbauten. Die Architektur der steinernen Paläste und Tempel, hingegen, ähnelte mehr dem Baustil aus Skaramesch – wenige Rechtecke, dafür umso mehr Oktogone. Die Acht war eine heilige Zahl im Glauben der Skara und da Jamar für geraume Zeit unter Vorherrschaft dieses Volkes gestanden hatte, war es nicht weiter verwunderlich, dass sich in Par'Nevere immer noch einige Hinweise darauf fanden.

Der Hafen schien sich über die gesamte Länge der Stadt zu ziehen. Zahlreiche Schiffe lagen vor Anker, schaukelten sanft in der kaum vorhandenen Strömung. Selbst hier kreischten die wohl auf der ganzen Welt verbreiteten Möwen um die Wette und übertönten dabei teilweise sogar die vielen Stimmen, die sich in einem Gemisch unterschiedlichster Sprachen verständigten.

In ganz Seyl wurde Par'Nevere gemeinhin als gefährlichste Stadt der bekannten Welt angesehen. Die Schiffe, die hier vor Anker gingen, bezahlten entweder hohe Schutzgelder oder gehörten denjenigen, die daran verdienten.

Nichtsdestotrotz fiel es mir schwer, mich der Magie dieses Ortes zu entziehen.

Anerkennend beobachtete ich, wie die Schwarze Jungfrau anmutig durch das Gewirr aus Poldern glitt. Ihre Herrin stand am Ruder und navigierte das Schiff sicher durch das enge Gewässer.

Die Menschen am Pier hielten in ihrer Arbeit inne, Kinder rannten aufgeregt nach vorne und winkten eifrig. Dabei sollten die hier Lebenden doch längst einen derartigen Anblick gewöhnt sein.

Die Wellenkönigin dockte neben dem Schiff der Piraten an. Argur führte das Manöver an der Stelle des Kapitäns aus, hinter ihm ein Flussräuber, der ihn scharf beobachtete.

Nachdem die beiden Schiffe nach einer gefühlten Ewigkeit vertäut waren, trieben die Piraten die Mannschaft der Brigg zusammen. So fand ich mich inmitten von nervösen Matrosen wieder.

Einer der Piraten, ausgestattet mit mächtigem Bart und Holzbein musterte uns mit stechendem Blick. Dann deutete er wortlos auf Argur, Degendan und Peter, die alsbald vortreten mussten.

Unbehaglich verlagerte ich mein Gewicht.

Die Piraten fesselten den drei Männern die Hände und banden sie mit einem Seil aneinander. Danach warteten sie.

Recht bald fand ich heraus worauf: Die schwarze Frau schritt vom Deck ihres Schiffes, neben ihr der ebenfalls gefesselte Kapitän der Wellenkönigin. Dieser warf einen angespannten Blick auf seine Mannschaft und schien sie im Geiste durchzuzählen. Als er feststellte, dass niemand fehlte, wirkte er merklich erleichtert. Nur kurz verharrte er bei mir, in diesem Moment drückte seine Miene jedoch einiges aus. Auch er machte sich Sorgen, dass ich mich wieder verlor.

Die Piratin packte ihn am Arm und zerrte ihn mit sich. Sie schien äußerst erregt zu sein. Den Menschen, die hinter ihr das Schiff verließen, schenkte sie keinerlei Beachtung. Drei ihrer Untergebenen eskortierten ebenso viele mir äußerst wohlbekannte Personen. Alyn entdeckte mich in der Menge der Matrosen und warf mir ein müdes, aber aufmunterndes Lächeln zu. Im Gegensatz zu mir schien sie keinerlei Zweifel an meinem Geisteszustand zu hegen. Auch Rosena und Mika blickten in meine Richtung. Beide wirkten wesentlich unsicherer als ihre Mitgefangene, aber keiner von ihnen trug Blessuren zur Schau. Ich kam zu der Überzeugung, dass sie sich nicht so leicht unterkriegen lassen würden.

Der Pirat mit dem Holzbein zog an dem Seil, an dem Argur, Degendan und Peter festgebunden waren. Unter Zwang setzten sich die Männer in Bewegung. Der Rest der Mannschaft starrte ihnen unruhig hinterher.

Es war ein kluger Gedanke, sie ihrer Anführer zu berauben und sie ohne sichere Hand zurückzulassen. Das würde die Matrosen für eine Weile handlungsunfähig machen.

Jedoch hatten die Piraten etwas Entscheidendes vergessen: Es gab auch unter weißen Schafen hin und wieder ein schwarzes Tier. Stirnrunzelnd blickte ich zu dem tätowierten Glatzkopf, der Wache gehalten hatte. Derjenige, den ich schon vom Anfang an im Auge behalten hatte, weil er zu aufrührerischen Gedanken tendierte.

Sein Blick gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht.

Möglichst unauffällig arbeitete ich mich in seine Richtung, während alle vom Geschehen an Land abgelenkt waren. Immerhin hatte sich dort inzwischen ein regelrechter Menschenauflauf gebildet, denn wenn es eines gab, was die unterschiedlichsten Individuen aller Kulturen vereinte, dann war es die Sensationsgier.

Keiner der Piraten nahm Notiz von mir. Trotzdem verfluchte ich meinen Standplatz, genau an der gegenüberliegenden Seite der Matrosen.

Ich sah, wie der Glatzkopf schluckte und sich straffte, als er seine Entscheidung gefällt hatte.

Mein entsetztes „Nein" kam zu spät, denn der Mann war bereits losgestürmt.

Bevor die Piraten reagieren konnten, hatte er die Wellenkönigin verlassen und steuerte direkt auf die Kapitänin zu. Ich hatte mich ebenfalls in Bewegung gesetzt, aber ich würde zu spät kommen.

Ich hetzte an den immer noch nicht begreifenden Flussräubern vorbei. Aus dem Augenwinkel erkannte ich ihre verdutzten Mienen. Und das sollten die Besten der Besten sein?

Der Tätowierte sprang auf ihre Anführerin zu. Diese drehte sich im letzten Moment um, offenbar hatte sie meinen Schrei und die raschen Schritte hinter sich gehört. Ich konnte ihre überraschte Miene sehen, wie sich ihre Augen weiteten, sie hektisch nach ihrem Säbel griff. Noch bevor sie ihre Waffe heben konnte, war der Mann über ihr und schmiss sie mit seinem Gewicht nach hinten. Ich bildete mir ein, den Aufprall ihrer Leiber deutlich zu hören.

Der Glatzkopf begann die Frau zu würgen, während sie verzweifelt versuchte, sich zu wehren. Ihren Säbel hatte sie fallen lassen und ihre Hand tastete vergeblich nach der Waffe.

Erst jetzt kam Leben in die Menge der Schaulustigen. Die meisten reagierten gar nicht, sondern lehnten sich gespannt vor, wie eine Bestie, die Blut geleckt hatte. Die Piraten hinter mir brüllten durcheinander.

Ein Bolzen sirrte durch die Luft und ich verfolgte seinen Flug, während sich alles wie in Zeitlupe abzuspielen schien.

Der Bolzen durchschlug einen Körper, der reglos auf den Boden prallte. Entsetzen durchströmte mich, weil es sich nicht etwa um den Glatzkopf handelte, sondern um Dom.

Auch der Tätowierte hatte begriffen, fassungslos ließ er von der Piratin ab und stürzte auf seinen Herrn zu. Ich ließ mich ebenfalls neben ihn fallen, wobei mein Blick sofort auf den immer größer werdenden Blutfleck fiel.

„Käpt'n, das wollt ich nicht! Bei den Göttern! Ich schwör's!"

Während der Glatzkopf immer noch wimmerte, glitten meine Augen suchend über den Boden. Nicht weit von mir entdeckte ich den Säbel der Piraten und ergriff diesen.

Niemand kümmerte sich um mich, denn sämtliche Flussräuber umringten ihre Anführerin.

Mit dem Säbel durchtrennte ich die Fesseln des Kapitäns, dessen Lider auf und ab flatterten, während er darum kämpfte, bei Bewusstsein zu bleiben.

Ich legte seinen Oberkörper frei und riss mir das Hemd vom Leib. Vorsichtig, aber schnell, brach ich den Bolzen ab, ließ den Schaft jedoch weiter im Körper stecken. Aus der Wunde quoll immer noch frisches Blut und ich presste mein Hemd darauf. Sofort sog es sich voll.

Eine eiskalte Hand berührte mein Handgelenk. „Denk an dein Versprechen", flüsterte der Kapitän mit schwacher Stimme. So leise, dass ich seine Worte mehr erahnt, als gehört hatte.

„Ihr werdet nicht sterben", entgegnete ich entschlossen, aber wir beide wussten, dass es sich bei meinen Worten um eine Lüge handelte.

Dann jedoch kniete sich jemand neben mich und beugte sich nach vorne. Eine Welle schwarzen Haares verdeckte mir die Sicht. „Ich kann ihm am Leben halten, aber wir brauchen einen Heiler. Dringend!"

Ich hörte auf, mich zu wundern, wie Alyn es geschafft hatte, sich zu befreien und sprang auf.

In diesem Moment kam die Piratin eilig auf uns zu. Offenbar hatte sie den Angriff unbeschadet überstanden, auch wenn sie noch recht bleich im Gesicht war. „Oh großer Sidun!", stieß sie hervor. „Dominic, wie konntest du nur so dumm sein?"

Sie ließ sich vor den Kapitän fallen, der inzwischen das Bewusstsein verloren hatte und begann zu schluchzen.

Vollkommen überrumpelt stierte ich auf die weinende Frau. Wäre Alyn nicht gewesen, die mich aus meiner Starre riss, würde ich immer noch verwirrt auf die Piratin blicken.

„Madam, er braucht dringend einen Heiler. Er stirbt andernfalls!"
„Einen Heiler?", echote sie.

Ich brüllte die gaffende Meute an. „Einen Heiler. Gibt es in dieser verdammten Stadt keinen Heiler?"

Endlich nach einer gefühlten Ewigkeit humpelte ein gebrechlicher Mann vor. Das sollte ein Heiler sein? Der Mann schien uralt und stützte sich schwer auf seinen Gehstock. Langsam ging er neben dem bewusstlosen Kapitän in die Knie, wobei er lautstark ächzte. Er sagte etwas in der fremdartigen Sprache des Dschungels und die Piratin rutschte etwas zur Seite.

Mit geschickten und überraschend flinken Fingern entfernte der Mann den abgebrochen Schaft aus der Wunde. Dann legte er seine bloßen Hände inmitten des verletzten Fleisches.

„Ich können die Wunde heilen", erklärte er in gebrochenem Akrid. „Aber ich nicht können entfernen Gift."

Alyn und ich wechselten einen entsetzten Blick. Natürlich, die wenigsten Heiler konnten den Körper von Vergiftungen befreien. Es war etwas anderes, zerrissene Muskelfasern wieder miteinander zu verbinden oder abgetrennte Nerven wieder aneinanderzufügen. Nur richtig fähigen Heilern gelang es auch, fremde Substanzen, die sich im ganzen Körper ausgebreitet hatten, unschädlich zu machen. „Welches Gift?", fragte ich angespannt.

Der alte Mann wechselte einige schnelle Worte mit der Piratin, worauf diese die Stirn runzelte und schließlich nickte. „Ich werde euch übersetzen", erklärte sie dann an uns gewandt. „Meine Männer benutzen ein besonderes Gift, gewonnen aus einer seltenen Pflanze namens Kabakoba, es verläuft in neunundneunzig von hundert Fällen tödlich, wenn die Essenz der Blätter in den Körper gelangt."
„Was ist mit dem übrigen Fall?"

Der Mann stieß einige hastige Worte hervor, von denen ich nur einige Brocken verstand. Zum Glück übersetzte die Kapitänin für uns. „Es gibt ein Volk, das ein Heilmittel dagegen besitzt."

Hoffnung durchströmte mich. „Wo finde ich dieses Volk?"

Mit versteinerter Miene deutete die Piratin auf den endlos wirkenden Wald. „Irgendwo im Dschungel."

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