Kapitel 15

Langsam öffnete die Kapitänin der Schwarzen Jungfrau ihren Mund. „Das ist ein Überfall. Warum kämpft ihr nicht?" Ihre Stimme war noch immer dunkel, rauchig und fremdartig. Sie rollte das „R" und erinnerte dadurch an einen Panther aus dem Dschungel Jamars, aus dem auch sie stammte.

Dom hob langsam die Hand und sofort ertönte Geklirre, als die Seeräuber ihre Waffen zogen. Einem der Matrosen entfuhr ein unterdrückter Aufschrei. Die Anführerin der Piraten lachte leise bei diesem Geräusch und bedeutete ihrer Mannschaft, die Waffen zu senken.

Mika schielte zu seinem Bruder, der für einen Moment wie erstarrt innegehalten hatte, nun aber seinen Hut ergriff und vom Kopf hob. „Darum", sagte er und reichte die Kopfbedeckung an die Kapitänin der Schwarzen Jungfrau.

Ihre dunklen Augen wurden groß und Wiedererkennen spiegelte sich darin. Ihre Wangen färbten sich trotz der dunklen Haut aschfahl. „Woher hast du diesen Hut?", fragte sie tonlos.

Der Kapitän neigte langsam den Kopf. „Mein Vater hat ihn mir vererbt, als er starb."

Erst jetzt schien sie ihn richtig zu betrachten. Ihr Blick glitt über seinen dunklen Haaransatz, über sein Gesicht hinweg bis hin zu seinen Stiefeln. „Ich verstehe."

Dom bemerkte, dass Mika ebenso sprachlos war wie alle anderen. Woher sollte er es auch wissen? Er war noch so klein gewesen.

Die Kapitänin fasste sich wieder. „Planänderung", verkündete sie ihren Männern, die diese Aussage mit einigem Murren aufnahmen. „Durchsucht das Schiff und entwaffnet sie. Die Wellenkönigin wird mit uns nach Par'Nevere segeln. Dort wird sich alles fügen."

Die Mannschaft der Brigg schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie sich über die Gnadenfrist freuen oder das Unbekannte fürchten sollten. Par'Nevere, die Hochburg der Piraten, versteckt in einem Seitenarm des Sidun und als uneinnehmbar geltend, war nicht bekannt für die milden Urteile, die dort gefällt wurden, sondern vielmehr für ihre hohe Verbrecherrate.

Die Piraten teilten sich unter den Augen ihrer Anführerin auf. Einige von ihnen machte sich daran, das Schiff auf den Kopf zu stellen, während die anderen seine Mannschaft aufteilten. Sie durchsuchten jeden einzelnen und sammelten die wenigen Waffen ein. Ihre Kapitänin betrachtete den kläglichen Haufen an Messern und Dolchen. „Du bist tief gesunken", sagte sie zu Dom.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin ein ehrbarer Händler. Meine Mannschaft besteht aus ehrlichen, hart arbeitenden Männern."

Sie lächelte. „Du hast dich sehr verändert."

„Du gar nicht", erwiderte er.

„Aus deinem Mund klingt das wie eine Beleidigung."

Dom kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, denn in diesem Moment kamen drei der Piraten, die das Schiff durchsucht hatten, wieder an Deck. In ihrer Mitte zerrten sie einen immer noch sichtlich benommenen Mann mit sich.

„Käpt'n", rief einer der Flussräuber. „Wir haben den im Laderaum gefunden. Er war angekettet."

Obwohl Alyn und Rosena sichtlich erschrocken waren, blieben sie stumm. „Wer ist das?", fragte Aöwe, die Kapitänin der Schwarzen Jungfrau, streng.

Dom bemühte sich um eine neutrale Miene, dieser Moment mochte alles entscheiden. „Er ist ein Matrose von mir. Er hat sich meinen Befehlen widersetzt."

„Du bist zu nachgiebig, Dominic. Du hättest ihn über Bord werfen sollen."

„Er ist ein guter Mann. Dein Schiff hat ihn jedoch sehr geängstigt. Er konnte nicht mehr klar denken", log Dom, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Bringt ihn zu den anderen", befahl Aöwe.

Die Flussräuber schleppten den Mann mit sich. Dieser begann erst jetzt richtig aufzuwachen. Während einer der Piraten ihn auf Waffen durchsuchte, schüttelte er verwirrt den Kopf. Dann klärte sich sein Blick und er begann die Situation einzuschätzen. Als er bemerkte, dass ihn der Kapitän beobachtete, nickte er kurz.

Erleichterung durchflutete Dom. Er schien wieder er selbst zu sein.

„Da unten stehen drei Pferde", sagte ein weiterer Flussräuber, der nun ebenfalls das Deck betrat.

Aöwe verengte die Augen zu Schlitzen. „Ware?"
„Es befinden sich Passagiere an Bord. Sie teilen sich eine Kabine", erklärte der Pirat.

„Ihr zwei, kommt her!", befahl die Kapitänin mit ihrem weichen Zungenschlag an Alyn und Rosena gerichtet. Die beiden gehorchten zögerlich. „Drei Pferde, wer ist der Dritte?"
„Es gibt niemanden. Das letzte Pferd ist unser Packtier", antwortete Alyn geistesgegenwärtig.

„Zwei Frauen allein? Lüg nicht!" Wütend gab ihr die Flusspiratin eine Ohrfeige. Dom war versucht einzugreifen, aber er schwieg. Alyn richtete sich auf und presste trotzig die Kiefer fest aneinander.

„Wer ist der dritte Passagier?", wiederholte die Piratin zornig. Rosena starrte gen Boden, als wolle sie sich wegducken.

Dom war dankbar, dass Senn schwieg, obwohl er sichtlich angespannt war und noch etwas desorientiert wirkte.

Die Kapitänin rang mit den Händen. „Warum verweigert ihr mein Lösegeld?" Sie schien ernsthaft verwirrt. Unter den Flusspiraten gab es ein Gesetz, welches Angehörigen ermöglichte, Entführte wieder freizukaufen. Gegen eine nicht geringe Summe Gold, wie sich von selbst verstand.

„Weil sowieso keiner zahlen würde. Es gibt keine lebenden Familienmitglieder." Rosena starrte immer noch auf den Boden und ihre Worten waren leise, aber eindringlich. „Wir sind auf der Suche nach etwas oder jemanden, der uns aus unserem Elend erlöst." Jetzt sah sie auf und fixierte die Frau vor ihr. Diese schwieg verdutzt, bevor sie sich wieder fassen konnte.

Dann runzelte sie die Stirn. „Wenn eurem Reisegefährten etwas an euch liegt, sollte er vortreten." Mit diesen Worten hob sie ihren Säbel und hielt ihn an Rosenas Kehle.

Entsetzt schluckte die junge Frau und Dom konnte sehen, wie ihr Gesicht bleich wurde, bis es der Farbe eines Geistes ähnelte. „Wem auf diesem Schiff etwas an dir liegt, sollte lieber vortreten!"

Der Kapitän wusste, dass Senn nicht schweigen würde. Entweder er würde vortreten oder Alyn und Rosena würden sich selbst befreien. Egal welche der beiden Möglichkeiten nun zuerst eintrat, beide würden in einer Katastrophe für seine Mannschaft enden.

„Damit bin wohl ich gemeint." Klare Worte durchbrachen die Wolke der Anspannung, die sie zu ersticken drohte.
Die Flussräuberin lächelte und ihre Zähne wirkten in ihrem dunklen Gesicht perlweiß. „Ich dachte mir schon, dass du es bist."
Mika lachte bitter. „Was wollt Ihr? Soll ich über Bord springen?"

Nein, nicht sein Bruder! Dom konnte es nicht fassen, dass er das tat. Auch wenn es Sinn ergab. Er wollte Rosena um jeden Preis schützen. Mikas Hände zitterten und seine Stimme klang etwas schrill, trotzdem war Dom von seinem Mut beeindruckt. Er hatte sich wahrlich verändert. Es fiel ihm dennoch schwer zu schweigen. Sollte sein Bruder in ernsthafte Gefahr geraten, musste er eingreifen.

„Nehmt die drei mit auf die Schwarze Jungfrau", befahl die Piratin und murmelte leise einige Worte auf Jamarisch.

„Mein werter Kapitän, wenn Ihr vorausgehen würdet", säuselte sie anschließend.

Dom nickte und versuchte, sich die Furcht, die ihn jetzt auf einmal überkam, nicht anmerken zu lassen. Er hielt inne und ließ seinen Blick über seine Mannschaft gleiten. Nur kurz blieb er an Senn hängen, der das Geschehen stumm verfolgt hatte.

Hoffentlich irrte er sich nicht und der Mann führte ihn in Wirklichkeit an der Nase herum.

Während die beiden Frauen und Mika im Schiffsbauch verschwanden, bedeutete Aöwe ihm, vorauszugehen.

In ihrer Kajüte ließ sie sich auf einem breiten Sessel nieder, einer ihrer Piraten brachte einen einfachen Holzstuhl. Dom wurde gezwungen sich zu setzen, dann verließ der Mann den Raum.

Aöwe spielte mit dem großen Hut seines Vaters. „Ich hätte geglaubt, du seist tot, Dominic", sagte sie schließlich. „Alle haben es geglaubt."

„Ich konnte nicht so weitermachen. Die Piraterie war nie das, was ich wollte", erwiderte Dom rau.

„Du hättest es mir sagen können", entgegnete Aöwe aufgebracht. Sie knallte den Hut auf den Tisch und erhob sich erregt. „Ich bin deine Stiefmutter! Ich hätte es niemandem verraten."

„Es tut mir leid." Dom sah auf. „Aber irgendjemand hätte Verdacht geschöpft. Ich habe alle Verbindungen zu meiner Vergangenheit gekappt. Einzig allein der Hut und die Wellenkönigin sind mir geblieben." Noch zögerte er, Mika zu erwähnen.

„Du bringst mich in eine schwierige Lage", sagte die Kapitänin, während sie sich langsam wieder setzte. „Meine Männer werden anfangen, Fragen zu stellen."

„Nun, ich habe nicht damit gerechnet, dass es auf diese Weise herauskommt. Ich war wohl etwas idealistisch. Schließlich bedeutete jede Fahrt an Jamar vorbei ein Risiko."

„In der Tat." Sie wechselte in ihre Muttersprache. „Was mache ich nur mit dir? Schon als Junge hast du mir nichts als Ärger bereitet."

„Du könntest meine Mannschaft gehen lassen."

„Du weißt, was du da von mir verlangst? Das würde meinen Ruf zerstören."

„Denk dir was aus."

„Ich bin dir nichts schuldig", stieß Aöwe hervor. „Ich habe euch wie meine eigenen Kinder geliebt und so dankst du es mir?"

Dom sprang auf. „Was hätte ich tun sollen? Glaubst du irgendjemand hätte mir seine Fracht anvertraut, wenn er gewusst hätte, dass ich der Sohn von Baldur Bluthand bin? Ich musste mir eine neue Identität verschaffen."

Die Spitze ihres Säbels drückte leicht gegen seine Kehle. „Setz dich hin.", sagte sie langsam. „Vergiss nicht, wieso du hier bist."

Er ließ sich zurück auf den Stuhl fallen und verschränkte die Arme. „Nett hast du es hier", wechselte er das Thema. „Ich sehe, du pflegst immer noch denselben Einrichtungsgeschmack."

Der große Schreibtisch dominierte den Raum, an den Wänden waren verschiedene Karten vom Sidun und auch von Teilen Jamars, Seyls und Skarameschs befestigt. Bunte Tuchbahnen trennten ihren Schlafplatz vom Rest des Raumes ab. Überall stapelten sich Dokumente, Verträge und Seefahrtsbücher. „Du hast sogar noch Vaters alte Truhe."

„Es hätte nie so weit kommen dürfen", ignorierte Aöwe seine Worte. „Hätte ich gewusst, dass du der Kapitän der Wellenkönigin bist, hätte ich sie niemals angegriffen."

Dom schwieg.

„Es hat mich beinahe umgebracht von eurer beiden Tod zu erfahren. Was ist mit Mika? Ist er auch hier?"

„Er weiß es nicht", sagte Dom. „Ich habe ihm nie verraten, dass du noch lebst."

Sie sog geräuschvoll die Luft ein. „Dominic! Wie konntest du nur? Deinen Bruder so zu belügen."

„Ich wollte ihn nicht auch noch verlieren", erwiderte er leise. Es war egoistisch von ihm gewesen, seinen Bruder mitzunehmen und ihn in sein neues Leben zu zwingen, aber Mika war zu klein gewesen, um selbst entscheiden zu können und Dom zu einsam, um ihn zurückzulassen.

„Du hast all meine Pläne durcheinandergebracht. Ich habe keine Ahnung, was ich nun tun soll. Ich will dich nicht töten, Dominic. Ich liebe dich noch immer, auch wenn du es eigentlich nicht verdient hättest. Aber ich kann dich nicht gehen lassen. Meine Ehre steht auf dem Spiel."

„Ich verstehe", erwiderte Dom. „Du bist genau wie Vater. Auch ihm war die Ehre wichtiger als seine eigene Familie."

Aöwe öffnete die Tür und die zwei Männer, die davor gewartet hatten, traten ein. „Bringt ihn zu den anderen", befahl sie kalt. „In Par'Nevere wird sich sein Schicksal entscheiden."

Widerspruchslos ließ Dom sich abführen. Er warf noch einen letzten Blick zurück, doch Aöwe hatte sich bereits wegdreht und knallte die Türe hinter sich zu.

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