Kapitel 14
Dom stand neben Alyn und Rosena. Gemeinsam starrten sie auf den Bewusstlosen. Abgesehen von Mat hatte niemand die Geschehnisse an Deck mitbekommen und der Kapitän hatte dafür gesorgt, dass der Matrose schwieg.
Gemeinsam mit Alyn hatte er Senn unter Deck verfrachtet und dort im Laderaum an einen der Eisenringe, die zum Befestigen der Ladung dienten, gekettet. Dort lag er nun zusammengesunken. Seine Brust hob sich regelmäßig und nichts schien auf seinen Wahnsinn zu deuten.
„Was war das da oben?", durchbrach Dom schließlich die angespannte Stille. „Wenn Ihr wollt, dass ich ihn nicht über Bord werfe, müsst Ihr mir einiges erklären."
„Die Grenze", flüsterte Alyn. Sie musterte ihn abschätzend und fällt eine Entscheidung. „Wir haben die Grenze passiert." Das, was sie Dom anschließend berichtete, sorgte dafür, dass sich seine Augenbrauen seinem Haaransatz näherten.
„Das ist unglaublich", murmelte er fassungslos. Er strich sich durch seine Haare, wodurch sein Hut auf und ab hüpfte.
„Ihr müsst versprechen, dass Ihr es niemandem erzählt. Die Oberen dürfen auf keinen Fall davon erfahren", beschwor ihn Alyn und er nickte langsam.
„Aber was machen wir nun?", fragte Rosena bekümmert. „Wenn er aufwacht und..." Ihre Stimme versagte und sie räusperte sich. „Wenn er immer noch so ist."
„Ich weiß es nicht."
Erregt rang Alyn mit den Händen. „Ich kann nichts dagegen tun. Verdammt", fluchte sie und Rosena zuckte zusammen. „Ich darf ihn nicht verlieren."
Sie drehte sich um und rauschte aus dem schmalen Raum. Rosena folgte ihr.
Nachdenklich blieb Dom zurück. Er kniete sich vor den Bewusstlosen. Alyn hätte ihn beinahe getötet. Doch ihr war keine Wahl geblieben. Der Kapitän musste ihr zustimmen. Das vorhin war nicht der Mann gewesen, den er so schätzte, sondern eine Marionette der Oberen. Jemand, der genauso handelte, wie sie es an seiner Stelle getan hätten. Es war kein eigenständiger Mensch mehr gewesen, sondern eine willenlose Puppe.
Er konnte nur hoffen, dass sein Passagier seinen Verstand wiedererlangen würde, denn sonst würde nicht nur er sterben, sondern möglicherweise auch Dom und seine Besatzung, die beiden Frauen mit eingeschlossen.
„Käpt'n!" Mat polterte die Treppe nach unten. „Die Schwarze Jungfrau, sie ist schon ganz nah."
Dom schüttelte den Kopf. Diese Fahrt brachte entschieden zu viele Probleme mit sich. Er hätte in Seyl bleiben sollen. Doch dank des Krieges florierte der Handel mit Skaramesch. Natürlich nicht der offizielle. Dom wusste, wie man Dinge möglichst unauffällig über die Grenze schmuggelte. Zuerst hatte er den letzten Auftrag nicht annehmen wollen, aber schlussendlich hatte er nachgegeben. Ein Fehler. Ein simpler Fehler, der ihm jetzt Kopf und Kragen kosten konnte. Er folgte Mat an Deck. Unter seinen energischen Schritten ächzten die Holzplanken, aber wenn er sonst dieses vertraute Geräusch genoss, hatte er heute kein Gehör dafür.
Sämtliche Matrosen befanden sich an Deck, aber nicht einer von ihnen hatte Augen für den prächtigen Sonnenaufgang, der sich ihnen bot. Helle Strahlen durchbrachen den leichten, frühmorgendlichen Nebel, der die Wellenkönigin hartnäckig umklammerte, und bildete einen verstörenden Kontrast zu dem schwarzen Schatten, der sich parallel zu ihnen hielt.
„Warum greifen sie nicht an?", wollte Alyn neugierig wissen, als Dom neben sie an die Reling trat. Zeigte diese Frau jemals Furcht? Tatsächlich glitt die Schwarze Jungfrau bereits seit geraumer Zeit neben seinem eigenen Schiff, gerade weit genug entfernt, um die vielen Gestalten an Deck noch als Stecknadeln erkennen zu können. Der Kapitän seufzte. „Sie zermürben uns."
Mit dieser Antwort hatte die junge Frau wohl nicht gerechnet. „Sie sind uns zahlenmäßig überlegen und Eure Mannschaft besteht wohl kaum aus Kämpfern. Wieso?"
„Bedauerlicherweise stimmt das, was Ihr sagt. Offenbar sind sie nicht auf Blutvergießen aus."
„Ein schneller Tod?"
Bei ihren Worten konnte Dom seinen Zorn nur schwer unterdrücken. „Sie gehen davon aus, ja. Aber ich gebe mich nicht so leicht geschlagen. Diese Halunken werden noch ihr blaues Wunder erleben."
„Wir könnten..."
Der Kapitän unterbrach sie. „Nein", sagte er entschlossen. „Ihr mischt Euch auf keinen Fall ein. Ich weiß, dass Ihr über gewisse Talente verfügt, aber auch Ihr könnt nicht eine ganze Mannschaft so schnell ausschalten. Zudem ist das eine Sache zwischen dem Kapitän der Schwarzen Jungfrau und mir."
Sie überlegte eine Weile. „Ich gebe das nur ungern zu, aber Ihr habt recht. Rosena und ich werden vorerst nicht eingreifen. Sollte unser Leben jedoch in Gefahr sein, werden wir keine andere Wahl haben, als unsere Kräfte zu offenbaren."
„Damit kann ich leben", erwiderte Dom. Wenn alles so lief, wie er es geplant hatte, würde es gar nicht so weit kommen.
„Ich weiß nicht, ob ich verärgert sein soll, weil er mich so rüde abgefertigt hat, oder ob ich beeindruckt sein soll, weil er sich nicht so leicht einschüchtern lässt", sagte Alyn leise zu Rosena.
„Auch wenn Ihr flüstert, kann ich Euch hören", verlautete der Kapitän. „Ich mag vielleicht noch nicht so viele Jahre zählen, aber ich habe bereits mit den verschiedensten Menschen diniert. Nicht wenige davon waren gefährlich. Dabei habe ich eins gelernt: Man darf niemals seine Furcht zeigen."
Alyn lächelte. „Das hätte von Senn stammen können." Sie seufzte vernehmlich. „Vielleicht sollte ich nach ihm sehen."
Eine Hand auf ihrer Schulter hielt sie zurück. „Lasst ihn. Er wird immer noch bewusstlos sein und die Schwarze Jungfrau wird jeden Moment andocken."
Obwohl es ihr sichtlich missfiel, gehorchte sie dem Befehl des Kapitäns. Eine leichte Brise kam auf und Dom umklammerte seinen Hut. Er war sein wertvollster Besitz, ein Erbstück seines Vaters und er wäre ins Wasser gesprungen, hätte er ihn verloren. Er wandte den Blick ab von dem monströsen Schiff neben ihnen und stampfte stattdessen zu Argur, der das Steuerrad fest umklammert hielt.
Die folgenden Minuten zogen sich in die Länge. Seine Mannschaft war wie paralysiert. Allein Degendan hielt sie zum Arbeiten an, doch sobald er einem von ihnen auch nur den Rücken zukehrte, hielt dieser wieder inne und starrte ängstlich in Richtung der Schwarzen Jungfrau.
Schließlich wurde es Dom zu bunt. Er winkte Argur und übergab ihm seinen Platz. Dann stellte er sich vor seine Mannschaft. Ohne etwas sagen zu müssen, gehörte ihm alle Aufmerksamkeit.
Er stemmte die Hände in die Hüften. „Seid ihr Männer oder Feiglinge?", begann er in lautem, verärgerten Ton. „Die Schwarze Jungfrau mag furchteinflößend sein, doch ich verspreche euch, dass euch nichts geschehen wird. Ihr habt bei mir angeheuert und es ist meine Pflicht als Kapitän für eure Sicherheit zu garantieren. Im Gegensatz solltet ihr jedoch vernünftig eurer Arbeit nachgehen. Eure Angst ist verständlich, an der Situation ändert sie jedoch nichts. Das dort drüben..." Er wies mit dem Finger auf die Schwarze Jungfrau, mit der anderen Hand packte er seinen Hut, ehe dieser davonfliegen konnte. „... sind stolze Männer, die eure Furcht wittern. Zeigt ihnen, dass ihr aus demselben harten Holz geschnitzt seid wie diese Piraten. Ich habe euch alle ausgewählt, mit mir auf der Wellenkönigin zu segeln, weil ich von euch überzeugt war. Beweist mir, dass ich mich nicht geirrt habe und versehentlich Feiglinge an Bord gelassen habe, die sich hinter Frauen verstecken müssen." Alle Köpfe drehten sich zu Alyn und Rosena, die an der Reling standen, ohne ihre Angst zu zeigen.
Dom wusste nicht, was schlussendlich dazu führte, dass die Männer jubelten und entschlossen ihrer Arbeit nachgingen. Ihm war es auch nicht so wichtig, solange der reibungslose Ablauf an Deck wiederhergestellt war.
Mit scharfem Blick begutachtete er jedes Detail, ehe ihm Mika auffiel. Sein jüngerer Bruder hatte schon lange nicht mehr so gesund ausgesehen. Wie immer drückte er sich in der Nähe von Rosena herum. Obwohl er sich sichtlich bemühte, dabei unauffällig zu sein, scheiterte er kläglich. Dom zögerte. Er wusste nicht, ob er zu seinem Bruder gehen und ihn darauf ansprechen sollte. Mika trug so viel Wut in sich und ein Teil davon richtete sich dabei auf seinen älteren Bruder. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, denn Dom konnte nicht zugleich der Kapitän eines großen Schiffes sein und ein Vaterersatz. Er hatte es nie gekonnt. Er war selbst doch nur acht Jahre älter. Doch die Zuneigung der jungen Frau schien ihm gut zu tun. Vielleicht konnte Mika endlich mit der Vergangenheit abschließen.
Er verbannte seinen jüngeren Bruder in dem Moment aus den Gedanken, als Krähe aufgeregt von seinem Beobachtungsposten hoch über den Köpfen aller lautstark Meldung machte. „Sie kommt! Sie kommt! Bei den Göttern! Sie kommt auf uns zu!"
Der Schiffsjunge hatte recht. Die Schwarze Jungfrau hatte ihren Kurs geändert und steuerte unverkennbar auf die Wellenkönigin zu.
Dom befahl die Segel zu reffen und keiner der Matrosen wagte seinen Befehl infrage zu stellen. Sofort wurde die Brigg merklich langsamer und dümpelte nun auf dem Wasser, nur noch von der schwachen Strömung vorangetrieben.
So dauerte es nicht mehr lange, bis das andere Schiff die Wellenkönigin erreicht hatte und auf gleicher Höhe mit ihr segelte.
Aufrecht stellte sich der Kapitän vor seine Matrosen, die besser oder schlechter ihre Angst verbargen. Argur stand noch immer am Ruder, an seiner statt nahm Mika den Platz zur Rechten seines Bruders ein, während Degendan sich wie immer links positionierte.
Sowohl Rosena als auch Alyn hatten sich neben Mika gestellt und wirkten beide äußerst entschlossen. Die jüngere Frau gab sich alle Mühe ihre Angst zu verbergen, ihre Hände zuckten immer wieder, doch sie behielt diese an Ort und Stelle – entspannt neben ihrem Körper. Sie würde Mika wirklich guttun.
Dom hätte sich diesem Gedanken noch länger hingegeben, wäre seine Aufmerksamkeit nicht von einer dringederen Angelegenheit beansprucht. Er starrte den Piraten mit fest zusammengebissenen Zähnen entgegen. Am ganzen Körper steif vor Anspannung wartete er auf den entscheidenden Moment, der dann auch kam.
Geradezu furchteinflößende Wilde sprangen auf die Brigg. Sie trugen starke Seile, mit denen sie die beiden Schiffe aneinander ketteten. Die Männer waren bis an die Zähne bewaffnet, Messer, Dolche, Säbel in den verschiedensten Ausführungen. Sie bewegten sich wunderbar aufeinander abgestimmt und dabei nahezu lautlos.
Dom fühlte sich in eine Zeit zurückversetzt, in der sein Vater noch gelebt hatte. Auch wenn dieses Leben sicher einiges an Aufregung geboten hatte, mochte er seine Stellung als halbwegs ehrlicher Kapitän lieber.
Niemand seiner Männer wagte auch nur eine Bewegung, was hauptsächlich wohl an den Armbrustschützen lag, die sie alle ins Visier genommen hatten. Die übrigen Piraten beförderten eine breite Planke zum Vorschein, die sie über die Reling der beiden Schiffe legten, sodass man den schmalen Spalt dazwischen problemlos überqueren konnte.
Einige der Flussräuber musterten die Mannschaft der Wellenkönigin argwöhnisch mit gezogener Klinge. Aufregung durchströmte Dom und er spürte jedes einzelne Härchen an seinem Körper.
Für einen Moment geschah nichts. Die ganze Szenerie wirkte wie erstarrt, dann jedoch tauchte eine einzelne Person auf, die majestätisch über die Planke marschierte. Sie hatte sich kaum verändert. Ihre dunkle Haut zierten vielleicht ein paar Falten mehr, aber obwohl sie inzwischen Anfang fünfzig sein musste, war sie immer noch von einer auffälligen Schönheit, trotz der Narbe, die ihr Gesicht in zwei Hälften teilte. Der Schnitt zog sich von ihrer rechten Wange über das Ende ihres Nasenbeins und teilte ihre linke Augenbraue in zwei ungleich große Hälften.
Ihr Blick glitt über die versammelten Mannschaft und blieb schließlich an Dom hängen. Noch immer waren ihre langen schwarzen Haare zusammengebunden, einzelne Strähnen mit bunten Bändern verziert, noch immer war ihre Haltung aufrecht und selbstbewusst, ihre Miene misstrauisch. Die Kleidung glich dem ihrer Männer: Ein schlichtes Hemd, darüber eine dunkle Weste. Ihre Füße steckten in soliden Stiefeln, um ihre Hüfte schlang sich ein breiter Waffengürtel, an dem wahrscheinlich normalerweise der Säbel befestigt war, den sie aber nun in der Hand trug.
Alle standen sich schweigend gegenüber.
Hinter sich konnte der Kapitän hören, wie einer seiner Matrosen unruhig das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. Dom jedoch blieb aufrecht stehen, starr wie eine Statue. Nur sein Mantel wog leicht auf und ab.
In dieser Stille traten die sonst so unauffälligen Geräusche in den Vordergrund: Das Gluckern des Wassers unterm Kiel, das klackende Geräusch eines nicht richtig befestigten Hakens, der vom leichten Wind getrieben gegen die Segelstange schlug, das Flattern der Stoffbahnen.
Nur eine falsche Bewegung oder ein falsches Wort würde in ihrer aller Verderben enden. So blieb Dom nichts anderes übrig, als zu warten. Darauf zu warten, dass ihr Gegner den ersten Schritt tat.
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