Kapitel 1
Carnia blickte in den Himmel und für einen Moment kamen die Bilder aus ihrer Kindheit wieder in ihr auf. Sofort war die Wärme der Sonne, die auf sie hinabstrahlte, vergessen und der Tag wurde kalt und dunkel.
Es war selten, dass sie sich daran erinnerte, wie Daniel sie über die Leichen ihrer Eltern geführt hatte. Es war immerhin schon 25 Jahre her und die meisten Gedanken daran erstickte sie, bevor sie die Oberhand gewannen.
Obwohl sie sich gewehrt hatte, war sie sogar gezwungen wurden, sie sich anzusehen. Ein Bild, das sich bis heute in ihre Augen gebrannt hatte. War es einmal wieder an die Oberfläche gedrungen, wurde sie es so schnell nicht wieder los.
Bevor die Details deutlicher wurden, versuchte sie, sich durch ruhiges Atmen und die Konzentration auf die Umgebung zu beruhigen. Ihr Herz schmerzte und ihr Körper reagierte auf die mentale Anstrengung mit einem Zittern.
Der Anblick ihrer toten Eltern hatte sie dermaßen geschockt, dass sie die ersten Jahre hier bei Daniel kein einziges Wort gesprochen hatte.
Erst, als Adrian, ihr erster Sohn, auf die Welt gekommen war und sie plötzlich für ein kleines, unschuldiges Leben verantwortlich gewesen war, hatte sie ihre Sprache wiedergefunden. Etwas, was ihrem Mann, Daniel, überhaupt nicht gefallen hatte.
Jetzt war sie schon 25 Jahre mit dem Alpha verheiratet und hasste es jeden Tag mehr. Das Leben hier war so ganz anders als das in ihrem Rudeln. Frauen hatten hier zwar mehr Rechte, doch dafür stimmte vieles andere nicht. Allen voran ihr eigenes Familienlieben.
Anfangs hatte sie sich vorgemacht, sie könnte vielleicht beginnen, ihn wenigsten ein bisschen zu mögen. Lieben wäre nie in Frage gekommen, da er ihre Eltern so grauenvoll getötet hatte, doch er machte es ihr auch nicht leicht, auch nur das kleinste Fünkchen Empathie für ihn zu empfinden. Stattdessen schürte er ihren Hass. Jeden Tag mehr. So, dass für Carnia selbst das Leben hier unerträglich wurde. Aber wo sollte sie hin?
In diesem Teil der Welt war das Rudel von Daniel nicht die Familie, sondern ein zusammengesammelter Haufen an Kriegern. Die Stellung des Krieges wurde nicht nur durch seine Kraft, sondern auch der Anzahl seiner Sklaven gemessen. Etwas, womit sich Carnia lange Zeit überhaupt nicht hatte abfinden könnten. Sklaverei war ihr bis zu diesem Zeitpunkt fremd gewesen.
Obwohl sie mittlerweile verstand, was es damit auf sich hatte und eigentlich auch in einer sehr hohen Position stand, gefiel es ihr doch nicht. Andere zu entführen und dann für sich schuften zu lassen, war nicht das, was sie von ihrem Rudel kannte.
Daniel war nur Anführer dieses Zusammenschlusses, weil er mehr Beute bei den Raubzügen machte als andere. Immer wieder brachte er neue Gefangene mit. Carnia war nicht die Einzige, doch durch ihre Hochzeit mit Daniel, war sie zumindest in ihrer Stellung freier als viele andere hier. Noch immer verstand sie nicht, warum dieser Mann sie hatte heiraten wollen. Es gab so viele schönere Frauen, die ihm gehörten.
Maitae, die aus dem Scharfzahn-Rudel kam, war ein gutes Beispiel dafür. Sie war eine niedere Dienerin in ihrem Haushalt und half Carnia dabei, das Haus zu pflegen oder das Essen zu kochen. Gleichzeitig verlangte Daniel aber auch ständig Bettdienste von ihr. Nichts, worüber Carnia wirklich traurig war. Ihr tat Maitae leid, doch sie selbst war immer beruhigt, wenn sie am Abend nicht bei ihrem Mann schlafen musste. Er war kein sanfter Liebhaber.
Mit ihrem ältesten Sohn hatte sie ihre Schuldigkeit, einen Nachfolger zu zeugen, eigentlich erfüllt. Daher hatte sie auch gehofft, dass er sie nun nicht mehr auf diese Art beachtete. Es hatte jedoch nichts gebracht. Er schien wie versessen darauf, ein Kind nach dem anderen mit ihr zu zeugen. Dabei schenkte er seinen beiden jüngsten Töchtern kaum Aufmerksamkeit.
Nael, ein weiterer Sklave von Daniel, kam mit einem großen Wäschekorb auf sie zu. „Hier ist die Wäsche. Soll ich dir beim Aufhängen helfen?", fragte er, was Carnia zucken ließ. Sie hatte die Wäscheleine angestarrt und gar nicht bemerkt, dass sie mindestens zwei Minuten einfach nur auf der Stelle gestanden und vor sich hingestarrt hatte.
Jetzt versuchte sie sich aus den Erinnerungen zu ziehen und ihm zumindest ein leichtes Lächeln zu schenken.
Nael kam aus einem Schattenwolfrudel und war von Daniel auf ähnliche Art aus seiner Heimat entführt wurden wie sie. Nur zu einem anderen Zweck. Er kümmerte sich um die Dinge, die sie als Frau nicht erledigen konnte. Wie schwere Sachen tragen oder sich vorrangig um die Tiere kümmern.
Obwohl er vom Status her der Sklave des Hauses war, hatte sich zwischen ihm und Carnia doch eine Freundschaft entwickelt.
„Wenn du gerade Zeit hast", erwiderte sie, wobei ihre Stimme belegt klang, sodass sie sich räuspern musste.
„Kein Problem", erwiderte Nael und stellte den Korb so ab, dass sie beide leicht hineingreifen und mit dem Aufhängen beginnen konnten.
Soweit Carnia wusste, war er in seinem alten Rudel ein Omega gewesen und hatte sich beim Überfall versteckt. Dafür bekam er viel Kritik und Spott der Krieger, doch er hatte überlebt. Was man vom Rest seines Rudels nicht sagen konnte. Zudem war er noch ein kleiner Junge gewesen. Nael war gerade einmal 24 Jahre. Geraubt hatte man ihn, da war er gerade einmal 13 gewesen. Damit war er sogar noch jünger als sie. Er hatte die Dinge allerdings augenscheinlich besser weggesteckt als Carnia.
„Machst du dir Sorgen?", fragte Nael, dem nicht verborgen geblieben war, dass Carnia blass war und sich Sorgenfalten auf ihrer Stirn gebildet hatten.
„Ich mache mir immer Sorgen", antwortete sie, als wäre daran nichts Neues und sie wüsste nicht, warum er fragte.
Nael strich das Laken glatt und griff nach einem neuen. „Ich meine wegen dem bevorstehenden Ritual", konkretisierte er seine Frage, was Carnia frustriert die Luft ausstießen ließ.
Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Im Verdrängen war sie mittlerweile ein Weltmeister geworden. Alles andere würde auch nur dafür sorgen, dass sie zu früh dem Alterswahnsinn verfiel. Auch wenn sie nicht daran glaubte, dass es mehr als eine Legende war. Bisher waren Werwölfe, die sie kannte, noch nie alt genug geworden, um davon betroffen zu sein. Dabei war die älteste Werwölfin, die sie kannte, stolze 405 Jahre alt.
„Warum will er Adrian unbedingt mitnehmen? Ich verstehe das wirklich nicht", bemerkte sie und ließ ihren Frust dabei deutlich hören. Für sie war das kein Ritual von Männlichkeit, sondern Feigheit. Sie gingen auf die Jagd, doch statt etwas zu jagen, das sich mit ihnen messen konnte, erlegten sie unschuldige Rudel. So etwas sollte Adrian nicht lernen, auch wenn es für ihn ungefährlicher war.
„Damit er das erste Mal tötet", bemerkte Nael fast schon ungerührt, doch Carnia hörte einen leichten Groll aus seiner Stimme. Tief verborgene Gefühle, wie sie wusste. Nael war ein ruhiger, immer gefasster Mann, der wusste, wie man mit anderen umging. Auf ihn konnte sie sich mehr verlassen als auf ihren Mann.
Carnia krallte ihre Hände in das nasse Laken. Dabei wuchsen ihre Fingernägel, weil sie so wütend war. Sie zitterte sogar, versuchte jedoch schnell, sich wieder zu kontrollieren. Es würde nichts bringen, jetzt wütend zu werden, nur, weil Nael ihr etwas sagte, dass ihr nicht gefiel. Statt in ihren Emotionen zu ertrinken, sollte sie überlegen, was sie tun konnte. „Ich will nicht, dass mein Sohn so etwas lernt", sagte sie angespannt und knurrend. Das Wissen, dass sie es vermutlich nicht verhindern konnte, ließ sie hilflos zurück.
Aus Frust warf sie das Laken nur über die Leine, ohne es glattzuziehen, und drehte um. Wenn sie richtig lag, dann war Daniel mit Adrian im Hauptraum und bereitete die Waffen vor. Es wurde Zeit, mit ihm zu sprechen. Dann bekam wenigstens der Richtige ihre Wut ab, denn diese wurde nicht weniger.
Als sie dort eintrat, fand sie nicht nur ihre beiden Männer, sondern auch mehrere Krieger aus dem Rudel vor.
Darunter auch Sorin, der gerade seinen Bogen vorbereitete. Er war Daniels rechte Hand und ein Carnia hasste ihn zutiefst, denn er verkörperte alles, was sie an den Männern verabscheute. Er war hochmütig, kümmerte sich nur um sich selbst und sah auf andere herab.
„Weib, bring den Männern und mir Bier", befahl Daniel, der sich in den Jahren kein bisschen verändert hatte. Noch immer wirkte er so ungepflegt, wie Carnia ihn kennengelernt hatte. Nur sein hässlicher, brauner Bart war länger geworden. Leider ließ er sich diesen nicht stutzen.
„Es ist keines da", erwiderte Carnia, die ungerührt auf ihren Mann zuging. Dieser legte sein Messer, das er gerade geschliffen hatte, zurück und erhob sich. Damit überragte er sie um zwei Köpfe und konnte nun auf sie hinabsehen. Ein Versuch, ihr Angst zu machen, doch das war Carnia schon gewohnt, weshalb sie sich kaum bewegte. „Lass Adrian hier, er ist noch zu jung", verlangte sie, ohne große Worte. Carnia brachte ihre Anliegen immer ziemlich direkt hervor und hatte auch keine Angst mehr vor Daniels Reaktionen. Das Einzige, was sie noch hier hielt, waren ihre Kinder. Sie waren zu jung und ihnen konnte Daniel gefährlich werden. Carnia vermutete sogar, dass er nur deshalb immer wieder Kinder mit ihr zeugte, um sie in der Hand zu haben, damit sie nicht floh.
„Er ist alt genug und es ist Zeit, dass er ein starker, stolzer Krieger wird", erwiderte Daniel ungerührt und blickte auf seine Frau nieder.
„Stolz?", fragte sie mit erhobener Augenbraue verächtlich. „Du kannst mir doch nicht sagen, dass das, was tu tust, dich mit Stolz erfüllt", sagte sie mit Abscheu in der Stimme. Ihr war anzusehen, dass sie an seiner Ehre zweifelte.
„Er lernt das Kämpfen und wird seine erste Beute machen", sagte Daniel, als wäre das etwas Gutes, Ehrenhaftes.
„Beute? Das Einzige, was ihr tut, ist unschuldige, schwache Wölfe jagen", bemerkte sie herablassend. „Du bist doch nur stark, wenn du deine Männer hinter dir hast und in der Überzahl bist."
Sie erinnerte sich sehr gut daran, dass er mit mehr als zehn Wölfen ihre beiden Eltern angegriffen hatte. Dabei war seine Mutter nicht einmal eine Kriegerin gewesen. Gegen eine einfache Kräuterfrau – ob Werwolf oder nicht – hätte er allein kämpfen können. Aber das war nicht seine Art. Er ging immer auf Nummer sicher und machte nur dort Beute, wo er keinen Widerstand erwartete.
Daniel trat weiter auf sie zu, sodass er nun direkt vor ihr stand, weil Carnia nicht zurückwich. „Wie kannst du es wagen, etwas Derartiges zu behaupten?", fragte er verärgert und mit einem leisen Knurren.
Carnia störte sich daran nicht. Sollte er sie doch anschreien oder knurren. Ihr war es mittlerweile gleich. „Weil es stimmt. So etwas soll Adrian nicht lernen", sagte sie, ohne eine Regung von Angst.
Daniels Augen wurden dunkel, bevor er die Hand hob und ihr eine scheuerte, sodass es klatschte.
Carnia zuckte kaum und blickte ihn weiterhin an. Das Brennen auf ihrer Wange nahm schon kurz nach seinem Schlag ab. Lächerlich. Dass er überhaupt in der Lage war, gegen andere zu kämpfen! „Da hast du deinen Beweis", sagte sie mit ruhiger Stimme, während ihre Wange einen Moment eine rote Farbe annahm, aber sehr schnell wieder zur normalen Farbe zurückkehrte. „Du kannst dich nur stark fühlen, wenn du gegen schwächere antrittst." Damit wandte sie sich um. Hier hatte sie keine Chance mehr. Wenn sie Pech hatte, dann mischten sich die anderen Männer ein. Sie hatte keine Lust, sich mit ihnen anzulegen. Ihr Mann würde ihnen vermutlich sogar erlauben, über sie herzufallen. Immerhin war es ihm egal, von wem sie die Kinder bekam, solange sie welche in die Welt setzte.
Ein Gedanke, der es in ihr nur noch weiter brodeln ließ.
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