Kapitel 5 (!) Zoe
Missmutig wartete Zoe in einem kleinen Unterstand, normalerweise machte ihr Regen nichts aus - sie genoss sogar das herrlich kühle Gefühl auf der Haut - doch gerade heute gab es die Art von Regen, die einen schnell und ohne Vorwarnung bis auf die Knochen durchnässte. Während der Regen in Strömen floss und die graue Straße mit Matsch überspülte, schien die Zeit stillzustehen. Energisch zog sie ihren Mantel enger um sich und versuchte die Welt auszusperren, es waren ja nur wenige Stunden, die sie irgendwie außerhalb des Radars eines jeglichen Mitglieds des Zeitordens verbringen musste.
Die Grauen Bindfäden machten sie wahnsinnig. Ihr leises Platschen wenn sie in die Pfützen eintauchten, ihre Farbe. Wo war nur ihr warmer Sommerregen geblieben? Die Stunden verschwammen vor ihren Augen und die Kälte kroch schleichend in ihr hoch, wo war nur ihre gute Laune geblieben? Seit sie den Zeitenordnern aus dem Gewirr der Ruinen entkommen war, hatte sich der Himmel zugezogen.
Sie hatte gerade noch Zeit gehabt ihr Handy zu entsorgen, nur für den Fall der Fälle, dass der Orden auch noch solch retroversierte Geräte aus ungeahnter Vergangenheit überwachte, bevor sich die Schleusen des Himmels geöffnet hatten und senkrecht sein Wasserspaghetti auf die Erde hatte regnen lassen. Sollte es einen Gott geben, vor etlichen Jahren schien es riesige Glaubensgemeinschaften gegeben zu haben, jetzt hätte sie einen gebraucht um das Wetter zu ändern und sich einen gewissen Zeitorden vom Hals zu schaffen. Ihr Blick schweifte über die wenigen Dinge die die Trockenheit unter der Überdachung teilten. Ein paar Blumentöpfe, die jemand achtlos weggeworfen hatte ohne den Inhalt vorher zu entfernen, ein Sack Kartoffeln, deren Triebe schon durch das Leinen sprossen, das eine oder andere kaputte Brett und schließlich noch eine einzelne, einst auf Hochglanz polierte Transportkabine mit einem ziemlich große Loch in der Frontscheibe aus gehärtetem Kunststoff, der neuesten Schöpfung des Ordens und der ihrer Meinung nach sinnlosesten der Geschichte. Kunststoff, gemischt mit Sand und Glas um die Lebensdauer zu verlängern.
Auch das hatte sie festgestellt. Der Zeitorden war nicht besser als die alte Regierung, nur klüger und moderner. Er spielte mit den Leuten und verbarg denselben, wenn nicht noch schlimmeren Dreck vor ihnen, wie die alte Regierung. Er stellte sich nur besser an, hatte Dinge wie Presse schneller unter Kontrolle gekriegt und mit seinen unzähligen Priestern schnell für eine Verbreitung seiner hirnrissigen Ideen gesorgt. Auf der einen Seite die Zeitenordner für die Arbeiter, die Priester für alle Blender, den Ratszirkel für alle Reichen und gerissenen und dann noch die Zeitenjäger, die Abstellkammer zur Kontrolle aller wirklich klugen Menschen dieses Landes
Getarnt als Sondereinsatzkommission, die in Wirklichkeit nur mit Aufträgen zur Kartographierung losgeschickt wurden. Früher, als ihre Großmutter noch nicht dem Orden als weiteres Opfer anhaftete, hatte sie sich ein paar der Dokus über das Leben von Zeitenjägern angeschaut, natürlich nur die im Fernsehen laufenden. Das Leben als Drachenjäger und stolzer Umhangträger mit altertümlicher Waffe war ihr teils aufregend und teils einschüchternd vorgekommen. Erst als sie sich später aus gegebenen Gründen gegen eine Zukunft beim Zeitorden entschieden hatte und untergetaucht war, hatte sie die Wahrheit erkannt. Das verzogene Lächeln der Zeitenjäger, wenn sie vor der Kamera landeten, immer den Obersten Zeitenordner gut sichtbar im Rücken.
Ein Teil ihrer Hoffnungen in den nächsten Stunden beruhte darauf. Bei ihrem winzigen Netzwerk unterzutauchen wäre der reinste Wahnsinn gewesen, sobald ihr Freund ihr in diesem verdammten Wetter endlich ihre Beute gebracht hatte würde sie sich schleunigst verziehen. Zum ersten Mal seit einigen Stunden schweiften ihre Gedanken zu dem, was danach zu tun war. Zoe lebte gerne im Jetzt und für den nächsten Einsatz, weiter erlaubte sie sich nie zu denken. Ihre Fluchtpläne waren vielleicht aus dem Grund nie geplant, weil sie immer noch hoffte ihre Großmutter zu rächen, einer oder zwei Zeitenordner, die sie vor ihrem großen Schlag gegen den Orden ausschaltete, waren einer oder zwei weniger, mit denen sie sich dann rumschlagen musste.
Außerdem probierte sie gerne neue Kniffe aus und so sehr sie ihre nicht geplanten Fluchtpläne hasste, so sehr liebte sie sie danach auch, wenn sie ein Dach über dem Kopf und ihre Beute sicher hatte. Ärgerlich streckte sie den Kopf in den Regen ungeachtet der Gesichter, die sie sehen könnten und musterte die Straße. Ihr Blick glitt wieder zu ihrer erst kürzlich gestohlenen Uhr hinüber. Er verspätete sich, war irgendetwas vorgefallen? Ein ungutes Gefühl begann sich durch ihren Körper zu schleichen und ihre Aufmerksamkeit stieg.
Eine weitere halbe Stunde verging und es hatte zu gewittern begonnen. Blitze und Donner jagten dicht gefolgt durch die Straßen der Stadt und ließen die Spitzen der dornenartigen Hochhäuser in ihrem Elfenbein und ihren hängenden Gärten erzittern. Mit jedem Blitzschlag stürmte es heftiger und ihr Unterstand bot immer weniger Schutz. Sie hatte sich bis an den hintersten Rand zurückgezogen und bekam trotzdem noch Regen ab. Große Pfützen hatten sich gebildet und die Straße war nun überhaupt nicht mehr zu sehen. Wenn ihr Freund nicht bald mit der Tasche kam würde es fast unmöglich sein, sich noch irgendwie fortzubewegen. Bei ihrem kurzen Blick die Straße entlang hatte sie erste erstarrte Kapseln gesehen, in ihnen immer noch der eine oder andere Mensch, bis zum Ende des Gewitters in ihnen gefangen. Sie begann kleine Kreise zu gehen und machte sich sorgen. Der Regen hatte Vor- und Nachteile, einerseits konnten die Kameras sie so schlechter erfassen, andererseits war sie immer noch an dieses Dreckloch von Überdachung gebunden und hatte noch kein weiteres Bleibe für die Nacht. Sie untersuchte die Rückwand ihres Unterstandes, doch ihre Erwartungen wurden enttäuscht. Zwar befand sie sich auf der Rückseite eines Wohnblocks, doch eine Hintertür besaß es nicht.
Während sie suchte gelangten zum ersten Mal wieder Geräusche über den ohrenbetäubenden Donner und das Rauschen des Regens an ihr Ohr. Sie strich ihren Mantel glatt und richtete sich auf, die Ohren gespitzt und alle Sinne angespannt. Ihr Freund wäre nicht so dumm auf sich aufmerksam zu machen. Zoe schaltete wieder in ihren Jagdmodus um und ihr Blick huschte auf der Suche nach einer behelfsmäßigen Waffe umher. Ihre Finger klammerten sich um eine der Scherben in dem Wissen, dass sie damit jemandem höchstens einen bösen Schnitt zufügen konnte und duckte sich hinter der Transportkabine in den Schatten.
Als sie das Trommeln von Füßen durch den Regen hörte, bestätigten sich ihre schlimmsten Vermutungen und sie strich sich ein letztes Mal den Mantel glatt, bereit in den Regen hinauszujagen. Erst jetzt, als die ersten Schemen rund zehn Meter die Straße runter sichtbar wurden, bildete ihr Gehirn einen Plan. Er war nicht genial, aber funktionieren würde er hoffentlich für ein paar Momente. Binnen Sekunden erkannte sie ihren Freund, die hoffentlich wasserdichte Tasche mit ihrer größten Beute überhaupt sicher um die Schulter geschlungen. Ihr Blick jagte zu seinen Verfolgern und die Scherbe fiel ihr aus den erstarrten Händen. Wichtige Momente verstrichen, das Klirren der Scherbe wurde vom Regen bei Weitem übertönt.
Der Blitz beleuchtete die Gesichter hinter ihrem Freund vielleicht nur einen winzigen Augenblick, doch sie war sich todsicher, mindestens einen der Mörder ihrer Großmutter endlich vor sich zu haben. Sie blinzelte einmal, sprang vorwärts, während ihr Freund kurz stockte, als sie an ihm vorbeischoss. Noch während sie in der Luft war begriff sie, dass es ein gewaltiger Fehler gewesen war, impulsiv zu handeln. Der Elite-Zeitenordner vor ihr reagierte sofort, warf sich zur Seite ohne auch nur groß mit der Wimper zu zucken.
In einem Augenschlag stand er wieder fest auf den Füßen und hatte jetzt sie im Visier, während sie versuchte auf der glatten Straßenoberfläche halt zu finden, betäubt vom grollenden Donner, der in eben jenem Moment über sie hinweggerollt war. Der Mann vor ihr stürzte vor, den Schlagstock erhoben. Nur mit Mühe konnte sie seinem Schlag ausweichen und ihrem Freund hinterherjagen, der nicht einen Augenblick innegehalten hatte, während sie den ersten Verfolger angegriffen hatte. Binnen weniger Schritte war sie wieder dicht hinter ihm, doch sie wusste, dass ihr Manöver sie wertvolle Sekunden gekostet hatte.
Der Regen prasselte auf ihren Mantel und Schlamm spritzte ihre Stiefel hinauf, als sie Seite an Seite mit ihrem Freund durch die überfluteten Straßen jagte, dicht hinter ihnen der gesamte Eliteclub der Zeitenordner, hinter diesen wiederum wahrscheinlich wieder haufenweise Zeitenordner, die in diesem Moment Verstärkung aus allen Richtungen anforderten. Sie erreichten die nächste Kreuzung in einem viel zu hohen Tempo und schlängelten sich rutschend und schlitternd zwischen den stillstehenden Transportkabinen hindurch, für Worte hatte keiner von ihnen den nötigen Atem.
Ihre Füße trugen sie in diesem Stil weiter Richtung der Stadtmitte und Unbehagen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie rannten eindeutig in die falsche Richtung, doch selbst das kleinste Zögern und der Erste der Elitetruppe hätte sie am Wickel. Wasser sammelte sich in ihrer Lunge an und das Blut pochte in ihren Adern, als der Regen noch heftiger wurde. Weitere Blitze schossen zwischen den Türmen der Stadt hin und her und beleuchteten die tiefen, schwarzen Wolken bedrohlich. Die gesammelte Elektrizität am Himmel entlud sich immer heftiger, die Straße war immer schwerer zu sehen und sie drohte die Orientierung zu verlieren, während ihre Verfolger anscheinend immer näher kamen.
Weniger als fünf Minuten später hatte sie die Orientierung verloren, ebenso wie ihren Atem und etwas Blut. Ein glatter Durchschuss aus nächster Nähe hatte ihren Oberarm zu einer blutigen Masse verwandelt. Es fühlte sich an, als ob ein Drache auf ihr rumgetrampelt hätte. Mit viel Mühe schleppte sie sich weiter, die Tasche mit ihrer Beute über dem Arm - Charles hatte sie ihr kurzerhand hingeworfen, als sie vom Pfeil getroffen worden war, dann hatte er sich aus dem Staub, beziehungsweise dem Regen gemacht und sich in einem der Wolkenkratzer verschanzt. Sie war sich nicht sicher, ob er es schaffen würde, doch er hatte im Gegensatz zu ihr eine realistischere Chance und war nicht verwundet.
Ein Postautomat tauchte vor ihr am Straßenrand auf und eine schwache Idee zeichnete sich ab. Weglaufen hatte eh keinen Sinn mehr. Mit zittrigen Händen zog sie das Buch aus ihrer Tasche und gab es der Packmaschine. Dann tippte sie eine Nummer ein, drückte auf einen leuchtend grünen Knopf und ließ sich mit einem leisen Lächeln in die Schwärze hinabziehen. Cora würde es verstehen.
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