Mary Sue 2.0
Mary Sues sind zu großartig zum Sterben ...
Wenn ich könnte, würde ich meine perfekten Gesichtszüge zu einer spöttischen Grimasse verziehen. Habe ich das nicht immer wieder behauptet? Zu großartig zum Sterben. Ein verbittertes Lachen steigt in mir hoch und scheitert an meiner nicht mehr vorhandenen Lunge. Tja. Ich bin trotzdem gestorben. Mausetot. Eine einsame, schöne Seele im leeren Raum, umgeben von undurchdringlicher Dunkelheit. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Mary Sues eigentlich zu großartig zum Sterben sind. Wenn es nicht so demütigend wäre, könnte man es fast darüber lachen. Ich – ermordet von einer anderen Mary Sue mithilfe eines so klischeehaften Flammenschwerts, dass ich vor Scham am liebsten erneut gestorben wäre. Was für ein schlechter Witz!
Fein, ich gebe zu, dass es eventuell Umstände geben könnte, unter denen auch eine Mary Sue sterben kann! Wenn sie mit einer Atombombe ins All fliegt, sodass die Explosion nur sie allein tötet; wenn sie sich in einer Gefahrensituation selbst opfert, um ihren Freunden die Flucht zu ermöglichen; oder wenn sie sich in letzter Sekunde vor den Strahl eines Lasers wirft, um die Zerstörung des Mondes zu verhindern. In solchen Fällen kann auch eine Mary Sue den Tod finden.
Ich jedoch habe stets Vorkehrungen getroffen, um solch einen dummen und sinnlosen Tod zu vermeiden. Sobald ich die Weltherrschaft an mich gerissen hatte, habe ich alle Atomwaffen verschrottet; meine unendlich vielen „besten Freunde" waren sowieso so oberflächlich und eindimensional, dass ich nicht einmal ansatzweise in Gefahr lief, mich für sie zu opfern; und die Zerstörung des Mondes habe ich unter strenger Androhung eines lebenslangen Internetverbots per Gesetz untersagt. Ich war so vorsichtig! Ich hätte also auf keinen Fall sterben dürfen!
Aber nicht nur die Tatsache, dass ich gestorben bin, sondern auch die Umstände meines Todes sind absolut inakzeptabel! Wenn eine Mary Sue schon stirbt, dann auf heroische Weise – am besten bei der Rettung der Welt. Und obwohl mein Tod extrem tragisch war und definitiv einen großen Verlust für die Menschheit und jedes einzelne Individuum an sich bedeutet, glaube ich nicht, dass ich durch mein Ableben irgendwie die Welt gerettet habe – nicht mal versehentlich wie damals, als ich mir für einen Filmabend sämtliche Popcornvorräte der Stadt gesichert hatte, und sich hinterher herausstellte, dass dieser mit Bakterien infiziert war, die, hätte ich das Popcorn nicht aufopferungsvoll alleine vertilgt, eine Zombieapokalypse ausgelöst hätten.
Aber mein Tod hat nicht nur NICHT die Welt gerettet, er war nicht einmal besonders episch oder heroisch! Schließlich wurde ich heimtückisch ermordet! Auf einer matschigen Wiese in einer fremden Welt liegend. Durchbohrt von einem Flammenschwert ... Ich kann es immer noch nicht fassen. Ausgerechnet ein blödes Flammenschwert! Und alle haben es gesehen. Das ist so peinlich. Wenn Maria Susanna mich schon unbedingt umbringen muss, kann sie es dann nicht zumindest auf eine coole Art und Weise machen? Mit einer Kettensäge zum Beispiel?
Das schwarze Nichts, das mich umgibt, zupft sanft an meiner Seele, um sie zu zersetzen. Nicht jetzt. Ich muss nachdenken. Ich verscheuche es mit einer fahrigen Bewegung meiner nicht mehr vorhandenen Hand.
Wenn eine Mary Sue nur dann stirbt, wenn ihr Tod episch und heroisch ist ... mein Tod jedoch alles andere als episch oder heroisch war ... dann ... dann bedeutete das ... es bedeutet, ... dass ich eigentlich gar nicht tot sein kann! Also schon tot im Sinne von körperlich tot, schließlich hat sich meine Seele von meinem Körper gelöst und verweilt in einem leeren Nichts, aber nicht in Sinne von tot-tot! Das ist die einzig logische Schlussfolgerung! Und wenn ich nicht tot sein kann, ... dann hindert mich auch nichts daran, zurückzukommen!
Folglich zwinge ich meinen Geist, die gemütliche Leere um mich herum zu verlassen, und lenke ihn zurück in meinen zerschmetterten Körper. Zunächst heile ich das durchbohrte und verbrannte Herz und bringe es dann behutsam wieder zum Schlagen. Dann wende ich mich meinem restlichen Körper zu, repariere zerquetschte Organe und lasse fehlende Gliedmaßen nachwachsen. Als alles wieder einigermaßen dran ist, halte ich einen Moment inne, um mir selbst zu meinem grandiosen Intellekt zu gratulieren, durch dessen logische Schlussfolgerungen ich von den Toten zurückkommen konnte. Ich bin wirklich großartig!
Schließlich schlage ich die Augen auf. Das hätte ich mir ebenso gut sparen können. Um mich herum ist es stockfinster. Es riecht nach feuchtem Moder, Lehm und Schimmel. Kalte Erde drückt schwer gegen meinen Körper. Ich kann mich kaum rühren, geschweige denn atmen, was ein wenig ärgerlich ist, da ich besonders viel Mühe in die Reparatur meiner Lunge investiert habe. Ich unterdrücke einen entnervten Seufzer, für den mir sowieso der Sauerstoff fehlen würde. Sieht ganz so aus, als wäre ich lebendig begraben worden. Gut, rein technisch war ich tot, als ich unter die Erde gebracht worden bin, aber das hilft einem auch nicht weiter, wenn man bei lebendigem Leib begraben wurde. Ich wette, Maria Susanna lacht sich bei dem Gedanken an mich jetzt gerade irgendwo ins Fäustchen.
Maria Susanna ...
Ich will nicht an sie denken, aber ihr wunderschönes Gesicht weigert sich, meinen Kopf zu verlassen, nachdem es erst einmal Einzug erhalten hat.
Eine Mary Sue also. So wie ich. Wie hätte man das auch ahnen können?
Ich habe nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ich in einer anderen Welt einer anderen Mary Sue begegnen könnte. Und selbst wenn, wäre ich davon ausgegangen, dass das Universum mit so viel geballter Perfektion nicht umgehen kann und einfach in sich selbst implodiert. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass ein Aufeinandertreffen mit einer anderen Mary Sue in meiner Niederlage enden könnte.
Niederlage ...
Das Wort fühlt sich komisch an. Niederlage. Verloren.
Mein ausgezeichnetes Gedächtnis sorgt dafür, dass sich die Szene immer wieder in sämtlichen Details vor meinem inneren Auge abspielt. Maria Susanna, wie sie sich mit ihrem brennenden Schwert vor mir aufbaut. Ihr wunderschönes Lächeln. Der Moment, in dem ich endlich begreife, wer sie ist. Was sie ist. Die flammende Klinge in meiner Brust, die mein Leben beendet.
Niederlage. Aber eine Mary Sue verliert nicht. Niemals! Das ist per Definition unmöglich. Ein Paradoxon. Und wenn eine Mary Sue nicht verlieren kann, ich Maria Susanna aber unterlegen war, dann bedeutet das ... es bedeutet, ich ...
Ich schüttle energisch den Kopf, was unter der Erde gar nicht so leicht ist. Wenn eine Mary Sue nicht verlieren kann, dann lässt das nur einen einzigen logischen Schluss zu: Ganz offensichtlich habe ich gar nicht verloren. Mein Tod war keine Niederlage, sondern lediglich ein kleiner Rückschlag. Eine Art strategischer Rückzug! Und wenn ich nicht verloren habe, heißt das, dass ich immer noch gewinnen kann!
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