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Ich ignoriere JMaries ausgestreckte Hand geflissentlich, was diese jedoch nicht weiter zu stören scheint.

„Setz dich endlich und nimm dir einen Keks", meint sie gutgelaunt und streckt mir die Tüte entgegen. „Wir haben eine Menge Arbeit vor uns."

Ich zögere kurz, beschließe dann aber, dass sowieso alles egal ist, lasse mich neben JMarie auf den Boden fallen und schnappe mir einen Keks. Die Schokolade sorgt tatsächlich dafür, dass ich mich kurz besser fühle, dann fällt mir aber wieder ein, dass ich eine Versagerin und ein Nichts bin und es nicht verdient habe, mich am Geschmack von Schokolade zu erfreuen. Augenblicklich fühlt es sich so an, als hätte ich Asche im Mund.

„Folgender Plan", sagt JMarie fröhlich und nimmt sich ebenfalls einen Keks: „Ich werde dir dabei helfen, zu einer wichtigen Selbsterkenntnis zu gelangen, mit deren Hilfe du als Charakter reifen und dich weiterentwickeln wirst. Dann wirst du selbst in der Lage sein, dich aus deinem emotionalen Tief zu befreien und du wirst auch wissen, wie du mit der Maria-Susanna-Situation umgehen kannst. Na, wie klingt das?"

„Großartig", sage ich trocken. Ist es zu spät, mich stattdessen doch noch von Maria Susanna umbringen zu lassen?

„Wunderbar", JMarie klatscht zufrieden in die Hände. Die Ironie in meiner Stimme scheint ihr völlig entgangen zu sein. Sie beginnt, wild mit den Fingern in der Luft herumzufuchteln und plötzlich liege ich auf einer Liege und sie selbst trägt eine Brille auf der Nase und hält ein altmodisches Notizbuch in der Hand, während ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden sind. „Fangen wir an", sie kneift die Augen zusammen und mustert mich durch ihre brandneuen Brillengläser hindurch. „Wie fühlst du dich gerade, Mary Sue?"

Ich lache freudlos. Was für eine dumme Frage. Als könnte sie meine roten, verquollenen Augen und die Spuren, die die Tränen auf meinen Wangen hinterlassen haben, nicht ganz genau sehen.

„Mir geht es großartig", sage ich spöttisch. „Ich habe gerade herausgefunden, dass mein Leben eine Lüge ist und ich selbst eine unbedeutende Versagerin. Ich konnte meinen Freunden nicht helfen, bin getötet, besiegt und gedemütigt worden und stecke zu allem Überfluss auch noch in der dümmsten Welt aller Zeiten fest! Es könnte mir nicht besser gehen."

JMarie zieht die Stirn kraus.

„Bist du nicht ein wenig hart?", will sie wissen. „Ich finde diese Welt sehr schön und fantasievoll."

Ich schüttle nur ungläubig den Kopf.

„Ich glaube, die Worte, nach denen du suchst, sind ‚einfallslos' und ‚langweilig'", verbessere ich sie und füge dann spöttisch hinzu: „Pinke Felder und von selbst leuchtende Häuser ... Na, wenn das nicht von Kreativität zeugt."

JMaries Lächeln verrutscht etwas.

„Ich bin sicher, es gibt eine sehr intelligente Erklärung für die Farbe der Felder und das Leuchten der Häuser", sagt sie scharf. „Ich bin sicher, wer auch immer diese Welt gebaut hat, hat eine Menge Zeit und Mühe investiert, um ein komplexes und faszinierendes System zu entwickeln."

„Sicher", schnaube ich und zucke mit den Achseln. „Weißt du, was das Beste hier ist? Die nennen ihr Internet hier ‚magisches Internet', ohne jemals vom normalen Internet gehört zu haben. Wieso sollte man spezifizieren, dass das Internet magisch ist, wenn gar kein nicht-magisches Internet gibt? Das ist so bescheuert!"

„Ich fand das lustig", sagt JMarie kalt und knallt ihr Notizbuch zu. Dann schließt sie kurz die Augen, atmet tief durch und öffnet das Buch wieder. „Lass uns weitermachen, du musst immer noch zu deiner Selbsterkenntnis kommen!"

„Hat meine ‚Selbsterkenntnis' was mit Selbstvertrauen zu tun? Innere Schönheit? Der Wert von guten Freunden?", rate ich. Das sind so die Klassiker. Wenn Leute in Filmen und Serien zu irgendeiner Selbsterkenntnis kommen, sind es meistens diese Dinge.

„Das kann ich dir wohl kaum verraten, sonst wäre es keine Selbsterkenntnis mehr", sagt JMarie ein wenig verschnupft. „Aber ich kann dir so viel sagen: Sie wird dir helfen zu einem besseren Menschen zu werden. Eine Art Mary Sue 2.0."

Ich stoße ein verbittertes Lachen aus.

„Es mag dir vielleicht entgangen sein, aber ich bin keine Mary Sue mehr – falls ich je eine gewesen bin."

JMarie zieht die Augenbrauen hoch.

„Bist du dir da sicher, Mädchen, dessen Name wortwörtlich ‚Mary Sue' lautet?", fragt sie.

„Das ist doch nur ein komischer Zufall", sage ich abwehrend. Ehrlich gesagt habe ich nie eine Verbindung zwischen meinem Namen und meinem ehemaligen Mary-Sue-Dasein gezogen und die Tatsache, dass JMarie es tut, weckt einen eigenartigen Widerwillen in mir.

„Wie du meinst, Mädchen, das absolut overpowert und unrealistisch schön ist und von jeder einzelnen Person ihrer ganzen Welt irrationalerweise vergöttert wird".

JMarie versucht nicht einmal, ihr breites Grinsen zu verbergen. Wie nett von ihr, mir in Erinnerung zu rufen, was ich alles verloren habe, und darüber auch noch zu lachen.

„Entschuldige, trägt mein Leid etwa zu deiner Belustigung bei?", frage ich kalt.

„Ein wenig. Ja", gibt JMarie ungerührt zurück. „Deine Selbsterkenntnis hängt mit etwas zusammen, das dich von Maria Susanna unterscheidet. Und es sind nicht deine Haare", fügt sie schnell hinzu, als meine Hand unwillkürlich an meine angekokelten Haarsträhnen fährt.

Etwas, was mich von Maria Susanna unterscheidet. Das könnte alles sein. Haben wir überhaupt irgendwelche Gemeinsamkeiten? Ihre herablassenden Gesichtszüge blitzen vor meinem inneren Auge auf. Sie hat mich mühelos besiegt. Fast kann ich ihre Klinge noch in meiner Brust spüren. All die Dinge, die sie bei unserer letzten Begegnung zu mir gesagt hat, brüllen in meinem Kopf herum ...

„Maria Susanna ist stärker und schöner und klüger als ich", sage ich bitter. „Vielen Dank, dass du das Trauma wieder aufleben lässt. Ich fühle mich schon so viel besser."

Ich ziehe die Knie an und schlinge meine Arme darum. JMarie betrachtet mich mit gerunzelter Stirn.

„Natürlich ist sie stärker, schöner und klüger als du. Eine Mary Sue ist per Definition die Stärkste, Schönste und Klügste in ihrer Welt und dies hier ist nun mal Maria Susannas Welt. Aber das meine ich nicht!"

JMarie klingt zunehmend frustriert. Ich halte ihr wortlos die Kekstüte hin und sie schnappt sich einen Keks und schlingt ihn herunter.

„Okay, stell dir bitte folgendes Szenario vor", fährt JMarie fort: „Einer von Maria Susannas zahlreichen unerwünschten Verehrern wird von einem blutrünstigen Vampir angefallen. Was würde sie tun?"

„Sie würde ihn retten", sage ich genervt. „Wahrscheinlich würde sie nebenbei noch mit dem Vampir Frieden schließen und eine jahrtausendelange Fehde zwischen Menschen und Vampiren beenden oder so."

„Sehr gut", JMarie nickt erfreut. „Und was würdest du in derselben Situation tun?"

„Mir eine Tüte Popcorn besorgen", antworte ich prompt. Schließlich liebe ich Horror-Filme. JMarie verzieht das Gesicht, nickt dann aber langsam. Ich nehme mir währenddessen einen weiteren Keks.

„Und was glaubst du, ist der Grund dafür, dass ihr unterschiedlich handeln würdet?", will JMarie wissen und mustert mich eindringlich durch ihre Fake-Brillengläser hindurch.

„Wenn du darauf hinauswillst, dass Maria Susanna im Gegensatz zu mir langweilig und einfallslos ist — das wusste ich bereits." Ich beiße von meinem Keks ab und dieses Mal schmeckt er nicht nach Asche.

JMarie stöhnt genervt. Sie kritzelt in ihrem Notizbuch herum und schafft es dabei irgendwie, sich an beiden Händen mit Tinte einzusauen. Nur mal so aus Neugierde setze ich eine etwas abgewandelte Form meines Röntgenblicks ein, um mitlesen zu können. Gerade hat sie in Großbuchstaben das Wort ‚IGNORANT!!!' geschrieben und es dreimal unterstrichen. Keine Ahnung, auf was sich das bezieht.

„Also gut, machen wir es noch ein wenig offensichtlicher", sagt sie verdrossen. „Mary Sue, wie würdest du dich fühlen, wenn du plötzlich in einer Diktatur leben würdest und grausame und willkürliche Gesetze eines selbsternannten Alleinherrschers befolgen müsstest?"

Ich ziehe die Stirn kraus. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es sich bei der Frage um eine Fangfrage handelt.

„Ich schätze, ich wäre nicht allzu glücklich darüber", antworte ich.

„Sehr gut", JMarie nickt erfreut. „Und was glaubst du, wie die Leute in deiner Welt sich gefühlt haben, als du die Weltherrschaft an dich gerissen hast?"

Ihre Stimme hat denselben erwartungsvollen Tonfall angenommen, den Lehrer verwenden, nachdem sie ihre Schüler Schritt für Schritt durch eine Aufgabe geführt haben, damit diese nur noch die finale Lösung aussprechen müssen.

„Stolz. Vielleicht auch ehrfürchtig und dankbar", vermute ich. Das scheint mir am naheliegendsten zu sein, auch wenn ich mich nie wirklich für die Gedanken und Gefühle anderer Leute in meiner Welt interessiert habe.

JMarie stöhnt frustriert und schlägt sich dreimal mit der Hand vor den Kopf.

„Ich geb's auf!", verkündigt sie. „Es geht um Empathie! Du sollst erkennen, was du in der Vergangenheit alles falsch gemacht hast, deine Fehler bereuen, Mitgefühl entwickeln und dadurch zu einem besseren Menschen werden!"

Ich betrachte sie stirnrunzelnd.

„Hättest du mir das sagen dürfen?", erkundige ich mich. „Ich dachte, ich muss selbst zu meiner Selbsterkenntnis kommen."

JMaries Antwort besteht aus einem weiteren frustrierten Stöhnen.

„Außerdem ergibt das keinen Sinn!", füge ich hinzu. „Ich bin bereits ein guter Mensch!"

JMarie starrt mich nur ungläubig an.

„Du bist narzisstisch, arrogant und verfolgst eine so krasse Doppelmoral, dass ich mich manchmal wundere, warum wir überhaupt noch Leser haben!", widerspricht sie. Dabei fuchtelt sie mit dem Füller vor meiner Nase herum, sodass sich ein paar Tintentropfen daraus lösen und in meine Richtung fliegen.

Wow, okay. Unhöflich!

„Wer ich?", ich reiße betont unschuldig die blauen Augen auf. „Ich würde doch niemals doppelmoralisch handeln. Und glaube mir, wenn ich dir versichere, dass ich die letzte Person bin, die sich jemals arrogant oder narzisstisch verhalten würde!"

Ich unterstreiche das Gesagte mit theatralischen Gesten, verschränke dann die Arme und werfe ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ehrlich gesagt verletzt es meine Gefühle, dass du mir so etwas unterstellst, JMarie."

JMarie vergräbt den Kopf in ihren Händen und stöhnt frustriert.

„Wie kannst du glauben, dass du ein guter Mensch bist?", frag sie und deutet anklagend mit dem Zeigefinger auf mich. „Du hast buchstäblich die Weltherrschaft an dich gerissen!"

Wow, noch jemand, der das Konzept von Ich-Botschaften nicht verstanden hat.

„Und?", ich zucke mit den Schultern. „Wir haben doch bereits geklärt, dass die Leute aus meiner Welt deswegen Stolz, Dankbarkeit und Ehrfurcht empfinden. Wenn überhaupt, dann macht mich das zu einem besseren Menschen."

„Du hast willkürliche und barbarische Gesetze erlassen", fährt JMarie im vorwurfsvollen Tonfall mit ihrer Anklage fort.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

„Findest du nicht auch, dass es von dir als Außenstehende ein wenig anmaßend ist, beurteilen zu wollen, ob die Gesetze einer fremden Welt barbarisch sind oder nicht?", frage ich scharf. „Solltest du das nicht lieber den Einheimischen überlassen?"

Und dann wirft ausgerechnet sie mir vor, arrogant zu sein.

„Du ...", JMarie starrt mich fassungslos an. „Du bist einfach ... unglaublich!"

„Danke", ich schenke ich ein Lächeln, nehme die Kekstüte an mich, fische einen Schokokeks heraus und beiße ab. Lecker.

„Du hast Kindern Süßigkeiten geklaut!", JMaries Gesicht hat mittlerweile einen faszinierenden Rotton angenommen. „Das ist doch wohl die klischeehafteste böse Tat überhaupt! Wegen dir mussten tausende von Kindern wochenlang auf ihr Popcorn verzichten!"

„Ähm ja", ich seufze genervt. „Aber nur, weil ein Gesetz in meiner Welt besagt, dass ich den Erstanspruch auf sämtliches Popcorn habe, das hergestellt wird. Jetzt bin ich also schon böse, weil ich mich ans Gesetz halte?"

Hat JMarie eigentlich irgendeine Vorstellung davon, wie lächerlich sie gerade klingt?

„Ein Gesetz, das du selbst erlassen hast!", ruft sie.

„Das macht es nicht weniger gültig", entgegne ich ruhig.

JMarie schleudert ihr Notizbuch von sich und rauft sich die Locken.

„Ich gebe zu, dass ich andere moralische Grundsätze als du verfolge", sage ich. „Aber das macht mich noch lange nicht zu einem schlechten Menschen! Und es ist extrem arrogant von dir, anzunehmen, dass deine moralischen Vorstellungen die einzig richtigen sind und dass jeder, der ihnen nicht folgt, deswegen automatisch böse ist! Du hast kein Recht, deine moralischen Maßstäbe anderen aufzuzwingen!"

JMarie schließt die Augen, reibt sich den Kopf und stöhnt erneut.

„Ich geb's auf", verkündet sie schließlich resigniert. „Ich kapituliere. Gegen deine Ignoranz bin selbst ich machtlos."

Immerhin sind wir uns einig, dass sie gerade keinen besonders guten Job macht. Selbst jetzt, da ich über meine angebliche Selbsterkenntnis Bescheid weiß, habe ich keine Ahnung, was mir dieses Wissen bringen soll.

„Und wie genau hätte mir das gegen Maria Susanna helfen sollen?", erkundige ich mich.

Schließlich war das doch Ziel und Zweck dieser Übung, oder etwa nicht?

„Wärst du zu einem besseren Menschen geworden, hättest du Maria Susanna überhaupt nicht mehr besiegen müssen.", sagt JMarie dumpf. „Sie hätte dich nämlich einfach in Ruhe gelassen."

Ich runzle irritiert die Stirn.

„Wieso hätte sie das tun sollen?", frage ich.

„Weil sie eine Mary Sue ist und Mary Sues das Richtige tun, egal, ob es ihnen passt oder nicht!", erklärt JMarie und verdreht die Augen. „Deswegen hat Maria Susanna Amora auch das Gegengift gegeben und deswegen würde dir auch nichts mehr antun, wenn du plötzlich einen Sinneswandel zum Guten hin hättest. Weil Mary Sues keinen guten Menschen Schaden zufügen."

„Ich bin mir da nicht so sicher", widerspreche ich zweifelnd. „Ich an ihrer Stelle würde mich von so einem Sinneswandel nicht abhalten lassen."

„Ich weiß", sagt JMarie resigniert und lässt sich nach hinten auf den Boden fallen. „Genau darum geht es mir doch die ganze Zeit!"

Natürlich! Das ist es!

Ich reiße die Augen auf und springe mit einer eleganten Bewegung auf die Beine. Wie konnte ich nur so blind sein?!? Es ist so offensichtlich! Endlich begreife ich, was JMarie mir schon die ganze Zeit sagen wollte. Ich weiß jetzt, was mich von Maria Susanna unterscheidet. Unglaublich, dass ich trotz meines überdurchschnittlich hohen IQs so lange für diese Erkenntnis gebraucht habe.

Endlich weiß ich, wie ich Maria Susanna besiegen kann!

„Mary Sue, was auch immer du glaubst, begriffen zu haben –", setzt JMarie mit zunehmendem Entsetzen in der Stimme an.

„Vielen Dank für deine Hilfe, JMarie", unterbreche ich sie fröhlich. „Ohne die Ablenkung durch deine Pseudo-Therapiestunde hätte ich es vermutlich deutlich schneller herausgefunden, aber ich schätze, die gute Absicht zählt."

Ich erhebe mich in die Luft, stibitze mir mithilfe meiner telekinetischen Fähigkeiten die Kekstüte und schenke JMarie noch ein letztes wunderschönes Lächeln, bevor ich in Schallgeschwindigkeit davonfliege.

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