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Um mich herum ist Pink. Ich liege auf dem Rücken und starre in den Himmel. Die Sonne ist mittlerweile aufgegangen und keine einzige Wolke ist zu sehen. Es verspricht ein wunderschöner Tag zu werden. Dunkel erinnere ich mich daran, wie ich feige aus Maria Susannas Haus geflohen bin. Ich habe mich in den Nachthimmel erhoben und bin einfach drauflos geflogen, bis ich mich irgendwann einfach habe fallen lassen. Keine Ahnung, wo ich jetzt bin oder wie viel Zeit seitdem vergangen ist. Es spielt auch keine Rolle. Nichts spielt mehr eine Rolle.
Der Wind durchfährt sanft, das Feld, in dem ich liege. Es ist schön, den pinken Halmen beim Tanzen zuzusehen. Fast schon idyllisch. In der Ferne kann ich Grillen zirpen und Insekten summen hören. Ansonsten ist es still. Ich bin ganz alleine. Maria Susanna hat sich noch nicht die Mühe gemacht, mich aufzuspüren. Ich zweifle nicht daran, dass sie mich innerhalb von Sekunden finden könnte, wenn sie es darauf anlegen würde, aber wahrscheinlich bin ich im Moment einfach nicht wichtig genug, um mir nachzujagen. Immerhin ist sie eine Mary Sue, sie wird viel zu tun haben. Und sie weiß, dass sie mich besiegt hat. Ich stelle keine Gefahr mehr für sie dar – falls ich das jemals getan habe.
Tränen rinnen lautlos meine Wangen herab. Ich weine um die Mary Sue, die ich einst gewesen bin und die ich nie mehr sein werde. Ich werde sie vermissen. Jetzt, da sie fort ist, herrscht in meinem Inneren gähnende Leere. Selbst die gemeine, kleine Stimme in meinem Hinterkopf ist verstummt. Mein ganzes Leben lang wusste ich genau, wer ich bin. Was ich bin. Jetzt aber weiß ich gar nichts mehr. Ein Schluchzen steigt meine Kehle empor. Bin ich wirklich nur ein weiterer Superschurke, dessen alleiniger Existenzzweck es ist, von Maria Susanna besiegt zu werden? Ist das alles? Dann kann ich genauso gut einfach hier liegen bleiben und warten, bis Maria Susanna mich findet.
„Mary Sue, wir haben ein Problem."
Ich hebe nicht einmal den Kopf. Maria Susanna scheint jemanden geschickt zu haben, um es zu Ende zu bringen. Offenbar bin ich es nicht einmal mehr wert, dass sie sich selbst um mich kümmert. Ein erneutes Schluchzen erschüttert mich. Was habe ich denn auch erwartet? Ich bin ein Nichts. Habe ich das denn immer noch nicht begriffen?
„Hallo! Ehre an Mary Sue. Wir haben ein Problem, also komm her, und hilf mir, es zu lösen!", erklingt die unbekannte Stimme erneut.
Ich stehe auf. Es bringt doch nichts, es hinauszuzögern. An der Stelle, an der ich gelegen habe, hat mein Abdruck eine klaffende Wunde in dem pinken Weizenmeer geschaffen. Ich schniefe. Das Feld war wunderschön und perfekt und ich habe es kaputt gemacht. Ist das alles, wozu ich noch gut bin? Um Schönheit zu zerstören? Maria Susannas Handlanger soll es einfach zu Ende bringen. Ich habe es nicht anders verdient. Langsam wie eine Schlafwandlerin bewege ich mich durch die hohen pinken Halme hindurch auf den Ursprung der Stimme zu.
Ich muss nicht lange suchen. Schon nach wenigen Schritten entdecke ich eine Gestalt, die im Schneidersitz auf dem Boden sitzt und von dort zu mir hochblickt. Ich reibe mir die verquollenen Augen. So hatte ich mir meine Henkerin nicht vorgestellt. Vor mir sitzt ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Sie ist deutlich kleiner als ich, vermutlich würde sie mir nicht mal bis nur Nasenspitze reichen. Ungezähmte Locken umrahmen ein fröhliches Gesicht mit ein paar Sommersprossen und lebhaft blitzenden Augen. Sie trägt ein dunkles T-Shirt, auf dem ein neongrüner Zahlencode gedruckt ist, und dazu eine ausgewaschene Jeans. Als sich unsere Blicke kreuzen, glaube ich für einen Moment so etwas wie Vertrautheit in ihren Augen lesen zu können, als würde würden wir uns schon mein ganzes Leben lang kennen. Aber das ist natürlich Blödsinn, schließlich bin ich ihr mit Sicherheit noch nie begegnet!
„Setz dich doch", sagt sie und klopft mit der Hand einladend neben sich.
Ich halte Ausschau nach der Waffe, mit der sie meinem Leben ein Ende bereiten wird, kann aber keine entdecken. Stattdessen hat sie eine Tüte Schokokekse auf dem Schoß liegen, aus der sie sich gedankenverloren bedient, während sie auf meine Reaktion wartet.
„Dein Problem scheint zu sein, dass du deine Waffe vergessen hast. Ich werde dir aber bestimmt nicht helfen, eine neue zu besorgen", sage ich emotionslos. Maria Susanna mag mich besiegt und gedemütigt haben, aber das bedeutet nicht, dass ich auch noch aktiv zu meiner Ermordung beitragen werden.
„Oh nein, was mach ich den jetzt nur ohne Waffe?", fragt das Mädchen in gespieltem Entsetzen und grinst mich dann fröhlich an. „Änderst du deine Meinung, wenn ich lieb ‚Bitte, bitte' sage?"
Ich starre sie einfach nur an.
„Was, wenn ich lieb ‚Bitte, bitte' sage und", das Mädchen macht eine dramatische Pause Dann hält sie mir die Tüte Schokokekse entgegen, „dir einen Keks anbiete?"
Sie lächelt mich auf eine Art und Weise an, als hätte sie mir gerade den besten Deal aller Zeiten angeboten.
Als ich noch eine Mary Sue war, habe ich gelernt, Ablehnung in verschiedenen Abstufungen allein durch meine Augen auszudrücken. Ich starre sie an und lege genau die richtige Nuance an Kälte in meinen Blick.
Das Mädchen lacht, wobei ihre Locken fröhlich auf und ab wippen.
„Okay, okay", sagt sie und hebt die Hände. „Gut, dass ich für heute nicht plane, dich umzubringen. Unser Problem ist deutlich komplizierter."
So etwas wie Wut steigt in der Leere auf, die meine Gefühlswelt darstellt.
„Machst du dich etwa über mich lustig?", frage ich.
„Wer ich?", sie reißt betont unschuldig die blauen Augen auf. „Ich würde mich doch niemals über dich lustig machen. Glaube mir, wenn ich dir versichere, dass ich die letzte Person bin, die sich jemals über irgendjemanden oder irgendetwas lustig machen würde!"
Sie unterstreicht das Gesagte mit theatralischen Gesten, verschränkt dann die Arme und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Ehrlich gesagt verletzt es meine Gefühle, dass du mir so etwas unterstellst, Mary Sue."
Wenn ich noch eine Mary Sue wäre, würde ich mich spätestens jetzt mit einem Feuerball revanchieren. Aber ich bin keine Mary Sue mehr. Ich bin ein unbedeutendes Nichts. Ein Superschurke in einer langen Reihe von Superschurken, die einzig und allein existieren, um Maria Susanna gut aussehen zu lassen. Ein bitterer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus und eine einzelne Träne löst sich aus meinem Augenwinkel. Wieso tut es nur so weh?
„Unser Problem ist, dass wir gerade an einem Punkt angelangt sind, an dem es nicht weitergeht.", fährt das Mädchen unbekümmert fort. „Du befindest dich in einer emotionalen Notlage, aus der du dich nicht selbst befreien kannst. Wir brauchen also irgendeine externe Kraft, die dir hilft, aus deinem emotionalen Tief wieder herauszukommen und dich als Charakter weiterzuentwickeln – eine Art Deus ex Machina. Es darf halt nur nicht zu unglaubwürdig sein, sonst macht es keinen Spaß mehr. Irgendwelche Vorschläge?"
Ich blinzle. Einmal. Zweimal. Vielleicht war es ein Fehler, meine einsame Lichtung zwischen den pinken Halmen zu verlassen und hierher zu kommen. Dort konnte ich zumindest in Ruhe mein tragisches Schicksal betrauern.
„Ein Deo ex was?", frage ich und wundere mich im selben Moment darüber, dass ich die Frage überhaupt ausgesprochen habe, da mir die Antwort nicht gleichgültiger sein könnte.
„Deus ex Machina", wiederholt das Mädchen und grinst breit. „Googel es halt, wenn du eine genaue Definition willst."
„Goo-?", wiederhole ich fragend, breche dann aber ab, als es mir zu blöd wird. Dieses Mädchen fängt langsam an, mir gehörig auf den Geist zu gehen.
Das Mädchen lacht.
„Ach ja, stimmt. In deiner Welt existieren nur namenlose, anonyme Suchmaschinen, weil ein gewisses IT-Unternehmen sich geweigert hat, mich für Schleichwerbung zu bezahlen", sagt sie, richtet dann die Augen gen Himmel und ruft plötzlich laut: „Ich hoffe, ihr kommt euch richtig dumm vor, wenn ich erst einmal reich und berühmt bin!"
Ich beginne, mich zu fragen, ob Maria Susanna dieses Mädchen vielleicht als eine Art psychische Folter zu mir geschickt hat. Das würde zumindest eine Menge erklären.
„Was sind denn so klassische Dei Ex Machina", beginnt das Mädchen laut zu überlegen und spielt dabei an ihren Haaren herum. „Eine geheimnisvolle Stimme aus dem Off? Der Geist eines verstorbenen Mentors? Eine gute Fee?" Sie seufzt. „Das ist alles so langweilig und vorhersehbar."
Okay, ich geh dann mal. Mit ein bisschen Glück bemerkt sie gar nicht, dass ich weg bin. Ich werde mich einfach irgendwo in einem Loch verkriechen und warten, bis Maria Susanna kommt und meinem elendigen Dasein ein Ende bereitet. Gerade, als ich mich abwenden will, kreischt das Mädchen so laut, dass ich unwillkürlich zusammenzucke.
„Ich hab's!", ruft sie freudestrahlend. „Oh, das ist genial! Ich bin genial!"
Die klatscht begeistert in die Hände.
„Ich selbst werde deine Dea ex Machina sein! Es ist zwar ungewöhnlich, aber das macht es nur umso genialer!"
Wenn sie nicht säße, würde sie vor Aufregung vermutlich auf und ab hopsen.
„Okay, cool", sage ich gleichgültig. „Wer warst du nochmal?"
Nicht, dass es eine Rolle spielt. Nichts spielt mehr eine Rolle.
„Stimmt, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt", das Mädchen lacht und streckt mir die Hand entgegen. „Du kannst mich JMarie nennen. Ich bin die Autorin."
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