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Man sollte meinen, dass es schwierig sei, einen Superschurken aufzuspüren. Schließlich sollten diese doch eigentlich ein gewisses Interesse daran haben, nicht gefunden zu werden, damit sie in Ruhe an ihren bösen Plänen arbeiten können. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Man hält einfach nach einer bedrohlich wirkenden Höhle/Burg/Villa in der menschenfeindlichsten Umgebung, die man finden kann, Ausschau und – ta-da – schon hat man seinen Bösewicht gefunden. Es ist geradezu lächerlich einfach!
Ich brauche keine fünf Sekunden, um die dämlichen pinken Felder hinter mir zu lassen und eine felsige Einöde auszumachen, in der es abgesehen von ein paar menschlicher Knochen keinerlei Hinweise auf Leben gibt. Ich unterdrücke bei deren Anblick ein genervtes Augenrollen. Nichts schreit so sehr nach Bösewicht wie eine Wüste mit ein paar schönen Gerippen direkt vor der Haustür. Noch offensichtlicher wäre nur noch ein blinkendes Neonschild mit der Aufschrift „Hier bin ich! Bitte vereitelt meine bösen Pläne!". Zumindest weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin ...
Kaum habe ich den Gedanken beendet, taucht unter mir eine Festung auf, die sich totenweiß von der düsteren Umgebung abhebt. Ich bremse abrupt ab, nehme das Gebäude näher in Augenschein und stöhne leise. Das sind Knochen. Die gesamte Burg ist aus abertausenden von Knochen errichtet, die sich unheilvoll unter mir auftürmen. Wow, wie unglaublich originell. Da fragt man sich doch, ob ein gewisser Superschurke versucht, mit seiner Festung aus Knochen etwas zu kompensieren. Ich spiele mit dem Gedanken, diesen Bösewicht einfach zu überspringen und den nächsten ausfindig zu machen. Dann denke ich an Amora. Ob die Vergiftung schon weit fortgeschritten ist?
Kurzentschlossen lande ich in der Festung und mache mich dort auf die Suche nach den Gemächern des Oberschurken, wobei ich meine Super-Ninja-Künste nutze, um den Wachen aus dem Weg zu gehen. Eine schwere, große Knochentür mir aufwendigen Verzierungen, signalisiert mir schließlich, dass ich am Ziel bin. Mit einem wohl platzierten Fußtritt stoße ich sie auf und werfe einen Blick in die Gemächer. Düstere Gemälde von Leuten, die so sauertöpfisch reinblicken, als wäre gerade ihre Lieblingsserie abgesetzt worden, ein mir abgewandter Thron aus Totenschädeln (wie könnte es auch anders sein?) und ein Schreibtisch, auf dem sich halb vollendete Todesflüche neben vergessenen Essensresten stapeln. Ein leeres Bett. Die Laken zerwühlt.
Ich verschränke die Arme und starre abwarten den Schädelthron an.
Nichts rührt sich.
Ich räuspere mich vernehmlich.
„Wenn das nicht Maria Susanna Frederika Antonia Valentina von und zu Lilienhain ist. Ich habe dich erwartet, Auserwählte!"
Der Totenkopfthron wird quietschend einmal um die eigene Achse gedreht und präsentiert einen narbenübersäten Elfen mit Augenklappe und Glatze. Ich versuche nicht einmal, so etwas wie Überraschung zu heucheln, sondern stöhne einfach nur genervt. Im Gegensatz zu mir reißt der Elf bei meinem Anblick überrascht das noch vorhandene Auge auf, was er schnell durch einen bösen Blick zu kaschieren versucht.
„Du bist nicht Maria Susanna Frederika Antonia Valentina von und zu Lilienhain", stellt er fest.
„Und du hast mich nicht erwartet", gebe ich zurück und starre vieldeutig seine vom Schlaf noch verwuschelten Haare und sein seidenes Nachthemd mit kleinen Totenköpfchen drauf an. „Ich würde ja sagen, dass wir beide enttäuscht worden sind, aber meine Erwartungen waren ohnehin von Anfang an nicht besonders hoch."
Ich mustere ihn kalt. Es gäbe eine Million Wege, ihn zum Reden zu bringen. Intelligente, raffinierte und elegante Wege. Ich habe nicht vor, auch nur einen davon umzusetzen.
„Wo ist Maria Susanna?", fauche ich und verleihe meiner Stimme dabei denselben drohenden Unterton, den ich normalerweise anwende, um kinderfressende Monster zum Weinen zu bringen oder aufdringliche Verkäufer abzuwimmeln.
„Ich weiß, wer du bist", der Bösewicht fuchtelt aufgeregt mit den Händen herum. Seine Stimme überschlägt sich. „Du bist das ultimative Böse!"
„Noch nicht", sage ich mit einem gefährlichen Grinsen. „Aber ich werde es gleich werden, wenn du mir nicht auf der Stelle verrätst, wo ich Maria Susanna, beziehungsweise ihre Privatresidenz finden kann."
„Ich bin Lord Evil, der Anführer der Schattenelfen", stellt er sich ungefragt vor und verzieht die Lippen zu einem schwachen Lächeln. „Es ist eine Ehre, dir endlich begegnen zu dürfen, ultimatives Böses. Ich hätte wissen müssen, dass du die Schlacht vor drei Tagen überlebt hast! Nun steht uns nichts mehr im Wege. Du kannst dich uns endlich anschließen und an unserer Seite Jahrhunderte voller Dunkelheit hervorbringen, sowie es die Prophezeiung vorhergesagt hat."
Sprachlos vor Empörung starre ich ihn an.
„Ich muss mich wohl verhört haben", sage ich schließlich leise. „Ich mich euch anschließen??? Es müsste doch wohl eher umgekehrt sein!"
Lord Evil zuckt mit den Schultern.
„Die Prophezeiung ist da leider ziemlich eindeutig", sagt er ohne auch nur einen Hauch von Bedauern in der Stimme.
Unfassbar! Ich hätte nicht gedacht, dass mein Tod durch Maria Susanna noch beschämender werden könnte, aber herauszufinden, dass sie mich nur ermordet hat, um zu verhindern, dass ich mich diesen Witzfiguren anschließe, macht das alles gleich doppelt so demütigend. Die kleine gemeine Stimme in meinem Hinterkopf lacht hämisch.
„Was soll das eigentlich für eine Schlacht gewesen sein, die du vorhin erwähnt hast?", frage ich, um mich abzulenken. „Ich habe vor drei Tagen keine Schlacht geführt."
Außer mein Kampf um die Fernbedienung mit der Meerschweinchen-Königin, der fast einen Krieg ausgelöst hätte, zählt als Schlacht. Aber das war noch in dieser seltsamen Nagetier-Welt, in die Kass uns geschleppt hat. Lord Evil kann unmöglich davon wissen.
„Das magische Internet ist voll davon", entgegnet Lord Evil und hält mir eine Kristallkugel unter die Nase.
„Magisches Internet?", wiederhole ich irritiert und nehme die Kugel entgegen. Von ihrer Oberfläche grinst mir Maria Susannas Abbild überheblich entgegen. Mit der einen Hand macht sie ein Victory-Zeichen, in der anderen hält sie ihr brennendes Schwert, von dem noch frisches Blut heruntertropft. Im Hintergrund erkennt man eine zerstückelte und verkokelte Leiche.
„Oh mein Gott", hauche ich. Meine Augen werden feucht. „Das ist überall im Internet?"
„Ist schon okay", Lord Evil legt mir tröstend eine Hand auf den Arm. „Wir haben alle ... ähm ... weniger fotogene Tage."
Ich werfe ihm einen irritierten Blick zu und schüttle seine Hand ab. Wovon redet er? Meine Leiche auf dem Bild sieht einfach nur hinreißend aus! Was mich stört, ist, dass Maria Susanna offenbar beschlossen hat, meine ... meinen strategischen Rückzug ... noch demütigender zu gestalten, indem sie die ganze Welt daran teilhaben lässt.
„Was zum –?", ich halte inne, als ich die Hashtags bemerke, mit denen das Bild versehen wurde.
#NurMalKurzDieWeltRetten
#BestMarySueEver
#KillingWithKindness
„Will die mich verarschen?", frage ich fassungslos über Maria Susannas Dreistigkeit. „Es war alles andere als freundlich, wie sie mich massakriert hat."
„Oh das?", Lord Evil grinst dümmlich. „Sie hat ihr flammendes Schwert ‚Kindness' genannt. Ist das nicht einfach genial? Es hat einen eigenen Account mit Millionen von Followern und alle sind sich darüber einig, dass es die coolste Waffe ist, die je existiert hat!"
Ich beiße die Zähne zusammen und rufe mir energisch ins Gedächtnis, dass ich auf seine Hilfe angewiesen bin und ich ihn deswegen noch nicht zu neuem Baumaterial für seine Festung verarbeiten darf – wie sehr es mich auch in den Fingern juckt.
„Das war vor ein paar Stunden", sage ich hoheitsvoll, „nicht vor ein paar Tagen". Das beweist nur mal wieder, dass Superschurken dumm wie Flammenschwerter sind.
Lord Evil nimmt mir wortlos die Kristallkugel aus der Hand und verkleinert das Bild, indem er die Kugel wie einen Touchscreen bedient. Ein fahler Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Unter dem Bild ist in kleinerer Schrift zu lesen, dass das Bild vor genau drei Tagen hochgeladen worden ist. Drei Tage ...
Tja, das war's, meldet sich die gemeine kleine Stimme in meinem Hinterkopf zu Wort. Unmöglich, dass sie das so lange überlebt hat. Du hast nicht nur gegen Maria Susanna verloren, sondern auch noch deine Freundin sterben lassen. Gratulation, du bist auf ganzer Linie eine Versagerin.
„Nein", widerspreche ich. Meine Stimme bricht. „Nein, das kann nicht sein. Immerhin bin ich Mary Sue!"
Bist du das?, erkundigen sich meine Selbstzweifel spöttisch.
Ich balle die Hände so fest zu Fäusten, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Nein, es ist noch nicht zu spät. Ich weigere mich, das zu glauben!
„Ruf mir auf der Stelle ein Navi auf und gibt Maria Susannas Adresse ein!", verlange ich von Lord Evil und deute auf die Kristallkugel.
„Maria Susanna legt großen Wert auf ihre Privatsphäre", entgegnet der Elf und hebt abwehrend die Hände. „Das kann man nicht einfach so online finden."
„Also willst du mir sagen, dass du keine Ahnung hast, wo sie lebt?", frage ich mit gefährlich leiser Stimme. Wenn sich herausstellt, dass ich hier meine Zeit verschwendet habe, werde ich keinen Knochen hier auf dem anderen lassen – Knochen Anwesender eingeschlossen.
„Natürlich weiß ich, wo sie lebt", Lord Evil verschränkt beleidigt die Hände. „Immerhin bin ich ihr Erzfeind. Ich habe hier irgendwo eine Karte."
Ich stöhne fassungslos. Eine Karte! Das ist ja wie im Mittelalter!
Aber anstatt mir das blöde Teil endlich rauszusuchen, verschränkt Lord Evil die Arme und mustert mich misstrauisch.
„Was willst du dort überhaupt?", will er wissen. „Der Plan war, dass du dich uns anschließt und wir gemeinsam gegen Maria Susanna vorgehen. So hat die Prophezeiung es vorhergesagt!"
„Ich habe meinen eigenen Plan", sage ich. Und zwar Amora und Kass ausfindig machen, Amora heilen, weil es definitiv noch nicht zu spät ist, und dann in eine andere Welt zu verschwinden. Möglichst, ohne Maria Susanna dabei nochmal persönlich über den Weg zu laufen. „Also gibt mir endlich diese blöde Karte!"
„Wieso sollte ich das tun?", Lord Evil starrt mich aus seinem einen Auge herausfordernd an. Ich begegne seinem Blick, lächle ihn lieblich an und präsentiere dabei eine Reihe schneeweißer Zähne.
„Vielleicht wie du mich so lieb und sympathisch findest, vielleicht aber auch weil ich sonst deinen Schädel einschlage, deine Burg pink färbe und deine Todesflüche in Schokolade verwandele. Such es dir einen Grund aus!"
Lord Evil seufzt. Dann beginnt er, seinen chaotischen Schreibtisch zu durchforsten. Ich nehme währenddessen die Kristallkugel wieder an mich und scrolle auf der Suche nach Hinweisen zu Amoras und Kassandras Verbleib die Bilder und Posts durch. Maria Susanna stiftet Frieden zwischen zwei verfeindeten Königreichen. Maria Susanna rettet niedliche Welpen aus einem brennenden Haus. Maria Susanna findet ein Heilmittel gegen eine tödliche Pandemie. Langweilig.
„Meinst du, Maria Susanna hasst mich?", fragt Lord Evil in die Stille hinein.
„Bestimmt", antworte ich abgelenkt. Ich bin gerade bei ihrem aktuellstes Bild angelangt, keine zehn Minuten alt. Es ist ein Selfie mit ein paar Freunden, die neben ihr alle so blass und farblos erscheinen, dass mein Blick immer wieder gelangweilt von ihnen abgeleitet. Der Post darunter verrät mir, dass das Selfie auf einer Party aufgenommen wurde, die zu Ehren der Zitat „besten und tollsten Mary Sue aller Zeiten" veranstaltet wird. Ich knirsche mit den Zähnen und die Kristallkugel in meiner Hand bekommt einen Sprung.
„Aber hasst sie mich oder hasst hasst sie mich?", hakt Lord Evil nach und beginnt, an seiner Augenklapper herumzuspielen. „Du weißt, schon, sieht sie mich einfach nur als einen Feind oder geht ihre Abneigung tiefer. Empfindet sie denselben aufrichtigen Abscheu auf mich, den ich ihr gegenüber empfinde?", er zögert und seine Stimme wird kleinlaut. „Glaubst du sie hat noch andere Erzfeinde als mich?"
„Das könnte mir nicht gleichgültiger sein. Wenn du jemanden brauchst, mit dem du in aller Ruhe über deine Gefühle reden kannst, dann schaff dir einen Spiegel an", entgegne ich gereizt.
Lord Evil seufzt und legt den Kopf schief.
„Sollte ich ihr vielleicht einen abgetrennten Kopf oder so schicken, oder glaubst du, das ist ein bisschen zu viel des Schlechten?", fragt er. „Ich will nicht verzweifelt rüberkommen."
Wenn er nicht verzweifelt rüberkommen wollte, hätte er sich vielleicht keine Festung aus Knochen bauen sollen. Ich starre ihn finster an.
„Die Karte. Heute noch!", zische ich in einem gefährlichen Tonfall. „Ansonsten ist es dein abgetrennter Kopf, den wir Maria Susanna zuschicken."
„Meinst du das würde sie schockieren?", fragt er hoffnungsvoll. Er scheint die Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen.
Ich stöhne entnervt. Ich hatte ganz vergessen, wie anstrengen Superschurken sind! Ich halte dieses Geschwätz nicht länger aus. Um Lord Evil ein wenig anzuspornen, hebe ich einen Finger, woraufhin sich die Armlehne des Knochenthrons augenblicklich in einem grellen Pinkton einfärbt.
„Schon gut, schon gut", Lord Evil zieht ein Blatt Papier unter einer halb leeren Schachtel Pizza hervor. „Hier hast du die Karte. Ich habe sie schon vor einer Weile gefunden, ich wollte nur unser Gespräch nicht unterbrechen. Es tut gut, mal mit jemandem zu reden, der von gleichwertiger Bösartigkeit ist wie ich."
Ich verschwende nicht einmal Zeit damit, mich tödlich beleidigt zu fühlen, sondern reiße ihm die Karte aus der Hand, präge sie mir ein und erhebe mich dann in die Luft. Die Knochen über mir geben ein lautes Knirschen von sich, als ich sie durchbreche, um durch die Zimmerdecke und das Dach hindurch nach draußen zu gelangen. Noch bevor die zerbrochenen Knochenstücke auch nur auf den Boden aufschlagen können, bin ich schon meilenweit entfernt – auf dem Weg zu Maria Susannas Zuhause. Die Nachtluft schlägt mir beim Fliegen kalt entgegen, aber ich beachte sie kaum.
Amora, ich komme.
Bitte sei noch am Leben.
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