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Doktor Linder begleitet mich zurück zum Wartezimmer und bittet einen blassen, jungen Mann an meiner statt in den Behandlungsraum. Ich lasse mich wieder auf einen flauschigen Sessel fallen und seufze tief. Ich bin allein. Also abgesehen von dir. Wieso bist du nicht bei Doktor Linder geblieben? Interessiert es dich nicht, was sein neuer Patient für Probleme hat? Wieso musst du immer an mir kleben wie ein ausgelutschter Kaugummi?

„Verschwinde", murmle ich Doktor Linders Ratschlag folgend, obwohl ich mir dabei total bescheuert vorkomme, „lass mich einfach in Ruhe. Hau ab!"

Ich zögere. Das war jetzt vielleicht ein bisschen zu harsch. „Bitte?", füge ich daher hinzu.

Nichts passiert. Natürlich nicht.

Ich seufze erneut und ziehe mein Handy aus der Tasche. Mein Vater hat mir eine Nachricht geschickt. Er steht im Stau, weshalb er mich nicht pünktlich abholen kann. Ich beschließe, hier zu warten. Immerhin ist es wirklich ein ausgesprochen schönes Wartezimmer. Bist du sicher, dass du nicht für immer hier bleiben willst? Sieh dir nur die flauschigen Sessel, die geschmackvolle Einrichtung und die neusten Zeitschriften an. Komm schon. Das ist doch viel besser als mein langweiliges Leben. Ich erlebe nie etwas Aufregendes!

Plötzlich tauchen zwei Mädchen mitten im Zimmer auf.

Was zum –? Ich blinzle ungläubig. Wie ist das möglich? Die beiden waren gerade eben nicht da, da bin ich mir ganz sicher. Die Tür ist nicht aufgegangen. Bis vor einem Augenblick war ich noch völlig allein. Sie sind einfach so erschienen. Wie aus dem Nichts! Das ist ... das ist unmöglich ...

Ich kichere leise. Okay, jetzt ist es also offiziell. Du bist keine geheimnisvolle Gestalt aus einer anderen Welt die aus irgendeinem unerfindlichen Grund ausgerechnet mir nachstellt. Nein, du bist nicht einmal real. Ganz offensichtlich bin ich psychisch krank. Sonst würde ich mir nicht einbilden, dass zwei Mädchen aus dem Nichts direkt vor meiner Nase erscheinen. Vielleicht ist es endlich an der Zeit, mir von Doktor Linder ein paar Pillen verschreiben zu lassen. Vielleicht hätte ich das schon vor Jahren tun sollen.

Neugierig betrachte ich meine Halluzinationen. Die beiden scheinen mich noch nicht bemerkt zu haben.

„Na ganz toll. Das hast du ja hervorragend hingekriegt", schimpft das eine Mädchen mit wütender Stimme. Ihr kastanienbraunes Haar ist zerzaust, ihre Brille sitzt schief. Sie trägt eine Art Hosenanzug, der extrem professionell wirken würde, wäre er nicht angekokelt. Ich kann Rauch riechen.

„Ich hoffe du bist zufrieden", zischt sie das andere Mädchen an.

Dieses zuckt mit den Schultern. Ihr Gesicht wird vom Körper der Brillenträgerin verdeckt, also verrenke ich mich ein wenig, um sie richtig sehen zu können. Mir stockt der Atem. Das zweite Mädchen ist bildhübsch. Was sage ich da? Bildhübsch beschreibt nicht einmal annähernd diese an Perfektion grenzende Schönheit. Dieses Mädchen könnte allein durch ihr Äußeres jegliches Model dieser Welt in tiefe Depressionen stürzen. Doktor Linder sollte mit ihr zusammenarbeiten. Er würde ein Vermögen verdienen.

„Ich habe nur versucht, dem Drachen eine wertvolle Lektion zum Thema ‚Teilen' beizubringen", rechtfertigt sich die Schönheit und verzieht ihre perfekt geschwungenen Lippen zu einem Schmollmund. „Nicht meine Schuld, dass der gleich so überreagiert."

Im Gegensatz zum ersten Mädchen ist ihre Kleidung tadellos. Ich kann nicht den kleinsten Brandfleck darauf erkennen.

„Du hast versucht, ihn auszurauben", gibt das erste Mädchen trocken zurück.

„Was nicht passiert wäre, wenn er mit mir geteilt hätte", entgegnet das zweite Mädchen schnippisch. „Der Drache sollte dankbar sein, dass ich ihm meine kostbare Zeit gewidmet habe."

„Um ihn auszurauben!", ruft nun das andere Mädchen entnervt, „Mary Sue, dieser Drache hätte uns fast gegrillt. Wann begreifst du endlich, dass deine Taten Konsequenzen haben. Wir sind nicht mehr in deiner Welt! Du kannst nicht einfach erwarten, dass du mit allem davonkommst, solange du jeden hübsch anlächelst und ein wenig mit den Wimpern klimperst."

„Das klingt ja fast so als würdest du dir Sorgen um mich machen", Mary Sue wirft dem anderen Mädchen ein strahlendes Lächeln zu. „Gib's zu. Mittlerweile bin ich dir ans Herz gewachsen, Ami."

Das andere Mädchen sieht aus, als würde sie ihr gleich an die Gurgel springen.

„Nenn mich noch einmal Ami und ich setzt dich in einer Welt aus, in der im Fernsehen ausschließlich Opern laufen", droht sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Mein Name lautet Amora Schneider, professionelle – "

„... Spaßbremse und Spießerin", unterbricht Mary Sue sie mit gelangweilter Stimme. „Ich weiß, ich weiß."

„Ähm, Entschuldigung?", melde ich mich schüchtern zu Wort. Beide Köpfe fahren zu mir herum und ich muss gegen den Drang ankämpfen, mich zu verstecken. „Ich weiß, dass ihr beide eigentlich nur in meinem Kopf existiert und es deswegen nicht wirklich eine Rolle spielt", fahre ich nervös fort, „aber könntet ihr vielleicht ein wenig leiser sein. Ich will nicht, dass Doktor Linder bei seiner Therapiesitzung gestört wird."

Die beiden starren mich entgeistert an. Ich schlucke und versuche mich an einem zaghaften Lächeln.

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