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Ich reibe mir die Augen. Wie ist das möglich? Habe ich Halluzinationen?
„Mary Sue", krächze ich und reibe mir erneut die Augen. „Wo kommst du denn her?"
„Durchs Dach", sagt sie als wäre das die normalste Sache der Welt. Ich lege den Kopf in den Nacken und kann tatsächlich ein großes Loch im Dach der Lagerhalle entdecken, das zuvor definitiv noch nicht das war.
„Wieso habe ich das nicht gemerkt?", frage ich verstört. Ich meine, da ist ein verdammtes Loch im Dach. Das muss doch Lärm gemacht haben, als Mary Sue durchgebrochen ist. Steine hätten hinunterfallen und mich am Kopf treffen müssen. Außerdem hätte mir auffallen müssen, dass es durch das hineinfallende Sonnenlicht plötzlich viel heller ist. Wie kann es sein, dass ich das alles nicht mitgekriegt habe?
Mary Sue wirft mir einen Blick zu als hätte ich eine wirklich, wirklich dämliche Frage gestellt.
„Hallo", sie deutet vielsagend an sich herunter, „Mary Sue."
Diese Erklärung ist ungefähr so hilfreich wie ein Eisschrank in der Arktis, aber es gibt nun wirklich Dringenderes als sie ausgerechnet deswegen zu löchern.
„Mary Sue, du musst hier sofort weg!", sage ich eindringlich, trete einen Schritt näher an sie heran und umklammere die Gitterstäbe. „Die Männer, die mich entführt haben, haben es eigentlich auf dich abgesehen. Sie können jeden Moment zurückkehren. Wenn sie dich hier finden, machen sie Hackfleisch aus dir!"
„Im Ernst?", Mary Sue zieht ihre viel zu wohlgeformte Stirn kraus. „Die dachten, du seist ich? Sind die bescheuert? Ich meine, ich bin die Schönheit und Perfektion in Person und du bist – ", sie wirft mir einen kritischen Blick zu. „Ich finde das irgendwie beleidigend."
Okay, Planänderung. Die Kapuzenmänner brauchen sich nicht mehr herbemühen. Sobald ich hier raus bin, murkse ich Mary Sue persönlich ab.
„Ich wollte noch einmal mit dir über deine Gabe reden", fährt Mary Sue im Plauderton fort. „Du sagtest, du kannst zwischen den Welten reisen. Nur so aus Interesse: Was musstest du tun, um an diese Fähigkeit zu kommen?"
Ich sehe sie ungläubig an. Darüber will sie sprechen? Ausgerechnet jetzt?
„Ich habe mich vielleicht unklar ausgedrückt", sage ich und verleihe meiner Stimme Nachdruck. „Es sind Leute hierher unterwegs, die die feste Absicht haben, dich umzubringen. Du musst weg! Sofort!"
Mary Sue schlägt die Beine übereinander.
„Besitzt du deine Gabe schon immer? Oder waren sie eine Art Belohnung für eine gute Tat? Oder", ihre Augen glitzern gierig, „hast du vielleicht einen Gegenstand bei dir, der dir diese Macht verleiht?"
Ich kann es nicht fassen. Ein paar Verrückte wollen sie umbringen und was macht Mary Sue? Setzt sich so entspannt auf meinen Käfig, als wäre er ihre Wohnzimmercouch, und fängt an, mit mir über meine Weltreise-Begabung zu plaudern, anstatt panisch davonzulaufen. Ich war einmal in einer Welt, in der man kaum auf die Straße gehen konnte, ohne in eine spontane Musicalnummer zu geraten, da die Menschen dort sich alle für so unglaublich musikalisch und talentiert hielten (aus naheliegenden Gründen bin ich nicht besonders lange in dieser Welt geblieben). Vielleicht sind die Menschen in Mary Sues Welt einfach alle von Haus aus wahnsinnig. Das würde zumindest eine Menge erklären.
„Was interessiert es dich?", rufe ich ärgerlich. „Sie war eines Tages eben einfach da. Aber du wirst bald tot sein, wenn du nicht endlich deinen fetten Hintern bewegst!"
Mary Sue sieht mich irritiert an.
„Hast du mich gerade fett genannt?", fragt sie im pikierten Tonfall.
Ich verdrehe entnervt die Augen. Da weiß jemand aber Prioritäten zu setzen.
„Du kannst mich wirklich nicht ausstehen, oder?", fragt Mary Sue und lässt sie Beine baumeln. „Das ist kein klassischer Fall von ‚Du gibst vor, mich zu hassen, bist aber in Wahrheit besessen von mir'. Du kannst mich ganz aufrichtig nicht leiden."
Ihre Stimme klingt eher fasziniert als ärgerlich.
„Es mag dir entgangen sein", sage ich müde, „aber ich versuche gerade, dir das Leben zu retten."
Auch wenn ich langsam stark daran zweifle, dass ich damit Erfolg haben werde.
„Ungewöhnlich", meint Mary Sue, die mir kaum zugehört hat, und reibt sich das Kinn. „Wie genau setzt du deine Kräfte ein? Hast du schon mal versucht, jemanden in eine andere Welt mitzunehmen?" Ihre Augen funkeln bei diesen Worten.
Ich lasse mich resigniert an den Gitterstäben herabgleiten. Meine Hoffnung, dass Mary Sue diese Sache überlebt, schwindet langsam gegen Null.
„Diese Leute sind total verrückt Mary Sue", wage ich einen letzten verzweifelten Versuch. „Sie glauben aus irgendeinem Grund, dass du an all ihren Problemen schuld bist."
„Ach das", meint Mary Sue abfällig. „Ich hab vor ein paar Monaten die Weltherrschaft an mich gerissen. Also, kannst du andere Leute jetzt mitnehmen oder nicht?"
„DU HAST WAS?!?", kreische ich. Unwillkürlich weiche ich einen Schritt zurück. Das war ein Scherz, oder? Das muss ein schlechter Scherz sein.
„Lenk jetzt nicht vom Thema ab", sagt Mary Sue streng. „Ja oder Nein?"
„Keine Ahnung", ich bin noch immer völlig durch den Wind. „Was meinst du damit, du hast die Weltherrschaft an dich gerissen?"
„Das ist doch nun wirklich keine große Sache", Mary Sue verdreht die Augen. „Ich war es leid, ständig die Welt retten zu müssen, weil alle anderen zu unfähig zum Überleben waren. Also habe ich beschlossen, selbst die Weltherrschaft zu übernehmen, und seitdem habe ich meine Ruhe."
Ich blinzle verstört.
„Weißt du was", sage ich dumpf. „Ich habe meine Meinung geändert. Diese Verrückten können dich gerne umbringen."
Ich glaube, wenn ich hier fertig bin, sollte ich mich dringend in Therapie begeben. Ich kann nicht fassen, dass sie tatsächlich die Weltherrschaft an sich gerissen hat. Erst langsam wird mir bewusst, was das für mich bedeutet. Mary Sue muss sehr viel mächtiger und bösartiger sein, als ich angenommen hatte. Ich schaudere und werfe ihr einen kurzen Blick zu. Momentan wirkt sie so harmlos. Irgendwie macht mir das Angst.
Plötzlich öffnet sich geräuschvoll eine Tür. Lautes Gezänke ertönt. Schritte nähern sich. Meine Entführer sind zurückgekommen.
„Ich hab dir doch gesagt, dass einfach an der Haustür zu klingeln, eine blöde Idee ist", schnauzt Pickelgesicht. „Es war doch klar, dass sie so genug Zeit zum Fliehen hat."
„Nun immerhin bin ich nicht nur dumm rumgestanden", gibt Sherlock zornig zurück.
Pipsi stampft mit eingezogenem Kopf hinter den beiden anderen her. Sicherlich hat er sich eine Menge Ärger eingefangen, weil er mich unbewacht zurückgelassen hat. Die drei haben Mary Sue, die auf meinem Käfig thront, noch nicht bemerkt, aber es kann nicht mehr lange dauern. Ich kann kaum hinsehen. Das wird in einem Blutbad enden. Nur, dass ich mir inzwischen nicht mehr sicher bin, ob es sich dabei wirklich um Mary Sues Blut handeln wird ...
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Frohes neues Jahr XD
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