Dreckige Verrätersau

Mist. In der Tür stand Kira, seine Einsatzleiterin.

Seine Gedanken rasten. Er hätte sich vorher eine bessere Ausrede überlegen sollen. Das mit dem Notfall zog hier nicht. Davon wüsste sie. Schuldbewusst dreht er sich langsam um und bemerkte, wie sein Gesicht aufglühte.

„Oh, hallo. Nichts Besonderes. Ich habe heute Morgen einen Schraubendreher an den Abflüssen liegen lassen. Nicht, dass er weggespült wird. Du weißt schon, wenn morgen früh alle ... na ja." Erstaunlich, wie schnell man sich an die schleimigen Dinger im Mund gewöhnte.

„Wie ärgerlich, aber ja, dann gib mal besser Gas, Lena wartet sicherlich auf dich." Erleichtert atmete er aus, als sie sich abwandte.

Bevor sie verschwand, drehte sich die Rothaarige nochmals um: „Dein Gesicht glüht ja. Hast du Fieber? Falls du dich nicht gut fühlst, kann ich das auch für dich übernehmen und du legst dich besser ins Bett."

„Was? Nein, nein. Vielen Dank und keine Sorge. Ich bin nur so schnell hierhergelaufen und daher außer Atem." Um es zu verdeutlichen, atmete er sichtbar erschöpft. „Damit ich später zumindest noch etwas von dem Abend mit der Familie habe."

„Ah, ja. Na gut. Wie du meinst. Grüß Lena und den Kleinen von mir. Wir sehen uns dann ja morgen in der Krabbelgruppe."

„Mache ich. Und vielen Dank nochmals." Damit verschwand sie endgültig aus der Tür.

Verflixt. Eine Lüge stapelte sich auf die andere. Mit schleimigen Schlangen spontan ein Kartenhaus bauen, war eine verdammt blöde Idee. Für Gewissensbisse war es zu spät. Jetzt musste er es durchziehen.

Eine halbe Stunde später wanderte er erneut in dem finsteren Korridor. Zumindest glaubte er das. Bei all der Aufregung heute Morgen hatte er sich nicht jede Abzweigung und alle Sektorenmarkierungen des Weges gemerkt. War es 03-95 oder 05-93? Eher 03, da es näher an der Oberfläche lag. Mit Bedacht schlich er vorwärts. Die Echos seiner platschenden Schritte verfolgten ihn. Mehr als einmal hielt er inne, um sicherzugehen, dass niemand kam.

Warum waren die Quartiere der Bunkerführung überhaupt separat? Diese Frage hatte er sich nie gestellt. Es war schon immer so. Aber was war der Grund? Sie standen alle auf der gleichen Seite und hatten nichts zu verheimlichen – oder etwa doch?

Da war sie! Die kaum wahrnehmbare, rostige Stiege, die zum Luftschacht führte. Zügig legte er Werkzeuggürtel und Helm ab. Erneut hämmerte sein Herz während des Aufstiegs. Dieses Mal nicht, weil ihn das schummrige Unbekannte erwartete. Im Gegenteil: Das Risiko war glasklar und potenziell tödlich. Atemlos erreichte er die Kante zum blechernen Schacht. In seinem Geiste hallten die Worte des Kriegsreporters nach: Alles ist in Ordnung! Sie lügen! ... Sie lügen!

Nicht nur in seinen Gedanken, verbesserte er sich. Eine gedämpfte Stimme sprach eindeutig im Klang und mit der Betonung eines Kriegsberichterstatters, obwohl er immer noch keine einzelnen Worte erfassen konnte. Vermutlich hörte ihre Führung ebenfalls die gleichen Berichte. Logisch. Rein zeitlich passte das. Die Nachrichten liefen etwa jetzt.

Aber etwas war anders in der murmelnden Sprache. Nur eine Kleinigkeit, die wie eine Kakerlake davonflitzte, sobald er den Lichtschein seiner Aufmerksamkeit darauf lenkte.

Näher ran. Um es greifbar zu machen, musste er das Gesprochene klar verstehen. Dafür war es notwendig, zumindest ein Stück in den Blechschacht zu robben. Mist. Er hätte seinen Overall ebenfalls unten lassen sollen. Die Verschlüsse würden deutlich hörbar über das Metall schaben. Aber die gemurmelten Worte zogen ihn an, wie das Feuer eine Motte.

Was war es, das hier nicht stimmte? Ihm lief die Zeit davon, gleich wäre der Bericht vorbei und die Chance vertan. Mit äußerster Sorgfalt kletterte er zwei Stufen höher, beugte sich unendlich langsam über die Kante und schob seinen Oberkörper mit untergelegten Armen in den engen Kanal. Die Beine zog er an, um sich hineinzuschieben. Das Rascheln und minimale Schaben würde man nicht hören, solange geredet wurde. Sein Kopf näherte sich bis auf Armeslänge den ersten Lüftungsschlitzen auf der Seite. Nur noch seine Unterschenkel ragten über die Stiege.

Die Stimme des Sprechers war klar und deutlich von rechts zu vernehmen: „... befinde mich hier in einem Begleitfahrzeug der 33. Panzerbrigade, die auf Charlottenburg zurollt. Wir stehen unter massivem Gegenfeuer." Er pausierte kurz. „Ups. Das hat ganz schön gerumpelt, aber unser Panzerstahl hat gehalten. Der Feind wirft alles an Granaten in den Kampf, was ihm noch verbleibt. Spätestens morgen ..."

Sein Herz setzte einen Schlag aus und es war, als hätte man ihn mit einem Kübel Eiswasser überschüttet.

Das war keine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher. Und selbst wenn die Bunkerführung über ein besseres Gerät verfügte ... es fehlten die Kampfgeräusche. Das war es! Kein Motorenlärm. Keine Schüsse. Keine Explosionen von Granaten. Der Sprecher klang beinahe entspannt.

Die Schlussfolgerung war klar: Es gab keine Kriegsberichterstatter an der Front. Es gab keine Front. Und damit keinen Krieg.

Alles ist in Ordnung! Sie lügen!

Er riss sich zusammen. Vielleicht spielten ihm seine angespannten Sinne nur einen Streich? Vermittelte ihm sein Gehör eine Klarheit, die es nicht gab? Blendete sein Gehirn die Kriegsgeräusche aus, einfach weil er sie nicht hören wollte? Die Konsequenzen seiner Entdeckung wären dermaßen gravierend, dass er um jeden Preis sichergehen musste. Sich mit eigenen Augen überzeugen.

Die Schlitze befanden sich eine Armeslänge entfernt und der Mann berichtete weiterhin. Mit Bedacht setzte er einen Ellenbogen vor den anderen und schob sich mit den Fußspitzen vorwärts. Seine Schultern berührten fast die Schachtseiten und über seinem Kopf war maximal eine Handbreit Luft. Nur noch ein paar Zentimeter.

Endlich erhaschte er mit einem Auge durch die schrägen Einschnitte einen Blick in den Raum darunter. Er sah einen braunen Holztisch in rund drei Metern Tiefe. Darauf lagen gefaltete, manikürte Frauenhände in einer weißen Bluse vor einem Tischmikrofon. Von oben erkannte er blonde gewellte Haare, die zu der Person gehörten. Um mehr zu erkennen, müsste er seine Position verändern, traute sich das jedoch nicht.

In diesem Moment beendete der männliche Sprecher seinen Monolog. Die Frau drückte einen roten Knopf am Mikrofon und beugte sich vor: „Vielen Dank, Mick, für den ausnahmsweise sehr ausführlichen Bericht von der Front. – Liebe Zuhörer, damit endet die heutige Nachrichtensendung. Ich wünsche allen noch eine geruhsame Nacht. Möge der Sieg unser sein."

Ein paar Sekunden herrschte Stille und mehrere Schalter klackten mechanisch. Dann lehnte sie sich knarzend zurück.

Der nicht sichtbare, angebliche Kriegsreporter ergriff das Wort: „Meinst du, die nehmen uns das nach dem Desaster mit Benjamin gestern ab?"

„Haben sie eine Wahl?", antwortete die Sprecherin.

„Nein, natürlich nicht." Es raschelte. „Möchtest du auch?"

„Danke." Damit nahm sie etwas entgegen, das er nicht erkannte.

Ein Streichholz kratzte und entzündete sich. Die Frau beugte sich über den Tisch und ließ sich ein weißes Röhrchen von dem Mann entzünden. Mit einem langen Atemzug stieß sie eine Rauchwolke aus.

Zigaretten? Die kannte er nur aus Büchern.

Der üble Gestank des Qualmes zog durch die Lüftungsschlitze und kitzelte in seinen Nüstern. Nur kein verräterisches Niesen! Zügig versuchte er, seine Nase in die Armbeuge zu drücken und durch den Mund zu atmen. Das war nicht clever. Sein Gesicht näherte sich dem Boden und er inhalierte den dort liegenden Staub. Zu spät. Ein kurzer, aber deutlicher Huster ließ sich nicht unterdrücken und sein Kopf stieß schmerzhaft an die Decke. Der heftige Stoß brachte die gesamte Metallkonstruktion wie einen gigantischen blechernen Gong zum Vibrieren.

„Was zum Teufel war das?!", rief der Mann. Stühle wurden schabend zurückgeschoben und Schritte trappelten.

„Klang, als ob das oben aus der Lüftung kam!", meinte sie.

Verflucht! Was sollte er tun? Wenn er sich jetzt bewegte, würden die sofort kapieren, was los war.

„Vielleicht Ratten?", spekulierte die Frau.

„Oh ja", kam die schnarrende Antwort des Mannes. „Eine verdammt große, wenn du mich fragst."

Kacke! Jetzt war es eh zu spät. So schnell er konnte, robbte er sich rückwärts und ignorierte den Höllenlärm, den er damit veranstaltete.

Ein Schuss knallte und stanzte kaum einen Schritt Entfernung ein rundes Loch in den Schachtboden. Ohne innezuhalten, schob er sich zurück und merkte, wie seine Füße an der Kante ankamen.

„KOMM RAUS DU DRECKIGE VERRÄTERSAU!", brüllte der Mann und schoss drei Löcher in das Metall, wo er Sekunden zuvor gelegen hatte. „Mara! Gib der Sicherheit Bescheid!"

Ihm klingelten die Ohren, aber inzwischen knickte seine Hüfte über die Kante der Stiege. Er hangelte sich bereits abwärts, während der angebliche Reporter oben den Lüftungsschacht komplett durchlöcherte. Mit wummerndem Herzen und fahrigen Händen ergriff er seine Sachen. Umziehen konnte er sich woanders. Nur weg hier!

Ein quäkender Alarm dröhnte durch den Gang, den er hinunterwetzte. Eine blecherne Frauenstimme rief: „Alle Bunkereinwohner begeben sich zur sofortigen Inspektion in ihre Quartiere! Ich wiederhole ..."

Verflucht! Selbst sprintend benötigte er mindestens 20 Minuten bis zu ihrem Privatquartier. Käme Harris, ihr lokaler Inspektor, vorher dort an ... nicht auszudenken. Dann bräuchte er eine verdammt gute Ausrede. Oh, Mist. Falls ihn hier jemand mit den Sachen auf dem Arm traf ... Gehetzt sah er sich zu beiden Seiten um und legte, ohne hinzuschauen, Werkzeuggürtel und Helm an. Dann gab er Vollgas.

Kreatives Denken und Sprinten vertrugen sich nicht. Er legte seine Priorität auf das Vorwärtskommen. Mit frühzeitigem Ankommen ginge er dem Problem mit der Ausrede aus dem Weg.

Vollkommen ausgepumpt schlitterte er um die Ecke der obersten Ebene des Wohntraktes. Die wenigen Bunkergänger, die er auf den Korridoren traf, ignorierten ihn oder hatten es ähnlich eilig wie er. Der nervtötende Alarm und die sich wiederholende Ansage sägten an seinem arg in Mitleidenschaft genommenen Nerven. Um nicht aufzufallen, verringerte er seine Geschwindigkeit und trabte zum Treppenhaus. Immer mehrere Stufen aufeinmalnehmend schwang er sich durch die Ebenen nach unten, bis er die 21 erreichte.

Jetzt bewusst nur noch im Laufschritt näherte er sich ihrer Tür. Verflucht. Dort stand bereits der Dreimanntrupp von Inspektor Harris. In diesem Moment donnerte der Mann mit der Faust mehrfach gegen das rostige Blech. Einer der Soldaten dessen weiße Schärpe ihn als Militärpolizist auszeichnete, tippte seinem Vorgesetzten auf die Schulter und deutete auf ihn.

„Guten Abend, Inspektor, Sir", begrüßte er den drahtigen Rothaarigen mit dem kantigen Gesicht, als er den Trupp erreichte. Mit flacher Hand an der Schläfe salutierte er. Der Mann musterte ihn schweigend mit einem stechenden Blick aus stahlblauen Augen. Mit einem Klacken öffnete sich die Tür und Lena trat Kim auf dem Arm haltend heraus.

„Da bist du ja endlich", meinte sie. „Ist der Notfalleinsatz bei der Elektrik beendet?"

Mist. Vermutlich wollte sie ihm damit einen Gefallen tun, aber die Story mit dem verlorenen Werkzeug wäre tausendmal plausibler gewesen.

„Notfalleinsatz?", fragte Harris mit schneidender Stimme und hinter dem Rücken verschränkten Armen. „Davon weiß ich ja gar nichts."

„Äh, da habe ich übertrieben. Ich wollte zur Sicherheit nochmals die Elektrik an den Pumpenanlagen prüfen. Außerdem hatte ich dort in der Früh ein Werkzeug bei der Reinigung der Abflüsse liegenlassen. Das war mir etwas peinlich und ich habe es gesucht."

Lena zog die Stirn in auffälligem Missfallen kraus, aber kommentierte das Gesagte nicht.

„Scheinbar waren Sie ziemlich erfolglos bei Ihrer Suche", merkte der Inspektor mit einer hochgezogenen Braue an und blickte auf seinen Werkzeuggürtel.

Dem Blick des Rothaarigen folgend schluckte er. Dort waren diverse Schlaufen leer. Mindestens vier Schraubenschlüssel hatte er verloren, ohne es zu merken.

„Ja, Sir, so ist es leider. Ich war wirklich ungeschickt."

„Nun denn." Der Inspektor räusperte sich und wandte sich an einen der Polizisten: „Max? Nehmen Sie die vermissten Werkzeuge zu Protokoll. Morgen früh prüfen Sie die Einsatzpläne und sprechen mit der Vorgesetzten des Gefreiten Melvin."

„Ja, Sir", bestätigte der Angesprochene.

„Und Sie", er wandte sich erneut direkt an ihn, „gehen jetzt ins Bett und sollten hoffen, dass sich die Werkzeuge wieder einfinden. Ansonsten gibt das ganz sicher einen Verweis."

„Ja, Sir." Er salutierte zackig. „Gute Nacht, Sir."

Als sich kurz darauf die Tür hinter seinem Rücken schloss, waren sie allein im Zimmer. Lena hielt Kim auf dem Arm und drückte ihn fest mit dem Kopf an ihre Schulter. Als müsse sie seinen Sohn vor ihm beschützen.

„Melvin. Bist du der Verräter, den sie suchen?"

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