Dieser eine Moment
(SabinaOehler Hier die Kurzgeschichte für deinen Contest. Die Vorgabe-Wörter waren: Notizen - Großmutter - Camping - Loch.)
Es gibt da diesen einen Moment, der gar nicht wirklich existiert.
Wenn man in jemandes Gesicht blickt und einem klar wird, 'das ist Liebe', dieser Augenblick der Magie, der uns in Disney-Filmen und Erzählungen unserer Großeltern immer und immer wieder begegnet, bis wir beginnen selbst davon zu träumen und darüber nachzudenken.
Meine Großmutter sagte mir immer mit ihrem summenden, französischen Akzent: "Warte nur, Clara, eines Tages findest du deinen Nussknacker." Sie machte diese Anspielungen immer, als wäre mein Leben irgendeins ihrer heißgeliebten Ballettstücke. Für eine 16-Jährige, deren Sinn für Kunst sich auf Popsongs und Rock'n'Roll beschränkte, waren das wenig verständliche Worte und so war ich froh, als ich die Sommerferien fernab von Opern, peinlich sauberen Marmorflächen und der todesähnlichen Stille verbringen konnte, die im Haus meiner Großmutter herrschte, wenn nicht gerade irgendwo klassische Musik lief.
Ich liebte meine Großmutter von ganzem Herzen, ich war bei ihr großgeworden, doch dieser Ort, der einen Großteil meiner Kindheitserinnerungen beherbergte, war kalt geworden nach Großvaters Tod. Ich sehnte mich nach dem Gefühl von Sommer, Licht und Freiheit. Nach dröhnendem Bass und lautem Gelächter und neuen Bekanntschaften. Bekkas Einladung zu einer Party mit Camping im Wald kam mir gerade recht.
Ich war überrascht, als Großmutter mich ohne ein Wort des Widerspruchs gehen ließ. "Ruf mich an, wenn du dort bist. Und dass du mir keinen Alkohol trinkst", meinte sie nur, als sie mich kurz umarmte, ehe ich auf das Fahrrad stieg, auf meinem Rücken ein Rucksack mit Wechselkleidung und einem Schlafsack. Es war vielleicht eine halbe Stunde Fahrt, kein Grund sich Sorgen zu machen, doch ich nickte pflichtbewusst. "Bis morgen!", rief ich ihr noch zu, dann bog ich auch schon auf die Straße ein und das Haus verschwand aus meinem Sichtfeld, während mir Fahrtwind entgegen schlug und mich frieren ließ. Die Entscheidung, eine stylische, zerfetzte Jeans zu tragen, hätte ich noch einmal überdenken sollen, denn der beißende Wind zog durch die Löcher im Stoff an den Beinen.
Kurz überkam mich ein schlechtes Gewissen, weil ich Großmutter einfach so allein ließ, doch nach wenigen Momenten auf dem Fahrrad schalteten meine Gedanken ab. Es war nur eine Nacht auf dem Campingplatz, andere Jugendliche machten so etwas doch ständig.
Als ich ankam, dämmerte es noch nicht einmal, doch tönte bereits laute Musik von der Lichtung her. Als ich von meinem Fahrrad abstieg, wurde ich bereits freudestrahlend von Bekka empfangen. Ihre Wangen waren leicht gerötet, die blonden Haare zerzaust. "Du konntest kommen!", quietschte sie und fiel mir um den Hals.
Ich wich etwas überwältigt zurück. Wir saßen bloß in Mathe und Englisch nebeneinander und darauf beschränkte sich unser Kontakt normalerweise auch. "Ja, das habe ich doch versprochen", meinte ich nur verwirrt. Bekka hörte mir gar nicht mehr zu, sie begrüßte schon die nächsten Gäste und ließ mich allein stehen. Das gab mir jedoch die Gelegenheit, mich umzusehen, die Hände unsicher in den Hosentaschen vergraben. Zelte für die Nacht waren aufgebaut, ich würde mir eins mit Bekka teilen oder eher mir ihres leihen. Ich bezweifelte, dass sie die Nacht in ihrem Zelt verbringen würde.
Aus einer Musikanlage dröhnte "Irresistible" von Fall Out Boy und Demi Lovato. Um die Feuerstelle saßen Jugendliche und kreischten laut, Bierflaschen standen herum und Scherben lagen am Waldboden. Auf einmal wollte ich nach Hause und weg von diesem grauenhaft lauten Ort und der Naturzerstörung, die hier gerade betrieben wurde.
Ich entschloss mich allerdings, mich doch noch etwas weiter umzusehen, ich fühlte mich schlecht, weil ich jetzt schon gehen wollte. Den Kopf gesenkt und die Gedanken auf die Lyrics des gerade spielenden Songs gerichtet, lief ich an der Feuerstelle vorbei auf die gegenüberliegende Seite des Platzes.
Im nächsten Moment prallte etwas gegen mich. Ich stolperte zurück. Etwas flatterte durch die Luft.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich mit jemandem zusammengestoßen war und die umhersegelnden Dinger Papierblätter gewesen waren. "Oh, tut mir schrechlich Leid! Das wollte ich nicht, warte, lass mich dir helfen", rief ich hektisch und kniete mich ohne aufzusehen ins Gras, welches ich durch die Löcher in meiner Jeans spüren konnte, um die Blätter aufzusammeln. Ich wollte eigentlich gar nicht darauf achten, was darauf zu sehen oder zu lesen sein könnte, doch irgendwann landete mein Blick doch auf den Zeilen. Es schienen Notizen - Hausaufgaben? Wer nahm seine Hausaufgaben zu einem Campingplatz mit? - zu sein, versehen mit Zeichnungen.
Im nächsten Moment wurde mir klar, dass es keine Hausaufgaben waren, sondern Informationen zu anderen Dingen. Wörter, die ich noch nie gelesen hatte, Zeichnungen von fantastischen Wesen. Ich errötete leicht und raffte die Blätter, die ich zu greifen bekommen hatte, hektisch zusammen. Ich hatte das Gefühl, das nicht gesehen haben zu sollen, als wäre es nicht für irgendjemandes Augen bestimmt.
Eilig stand ich auf und drückte der anderen Person ihre Notizen in die Hand. Mein Kopf hob sich, mein Blick streifte das Gesicht meines Gegenübers, welches ich bis jetzt überhaupt nicht beachtet hatte.
Strahlende, rehbraune Augen, halb verborgen unter langen Wimpern. Doch es war dieses Funkeln in ihnen, das mir den Atem aus den Lungen zu ziehen schien. Als hätten diese Augen gesehen, wie Welten erschaffen wurden und wieder zerfielen; als würden sie pure Magie beherbergen.
Und dann wurde mir klar, dieser eine Moment aus den Märchen existiert doch.
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