4- Referendare bringen Scherben
Unser Mathelehrer schreibt Formeln an die Tafel und wir krakeln sie notdürftig auf unseren Block.
Er stellt eine Frage, unser Klassenstreber Johannes meldet sich als einziger und antwortet.
Er gibt die Hausaufgaben an, niemand notiert sie sich, da er sie eh nicht kontrolliert.
Das ist die Ablaufroutine in unserer Mathestunde und sie wird sich niemals ändern. Aus diesem Grund verbringen wir diese Zeit meistens im Halbschlaf und horchen nur auf, falls er mal einen Test oder eine Arbeit ankündigt.
Ja, Herr Bolz ist schon ein komischer Kauz.
Anna neben mir checkt unter der Bank auf ihrem Handy heimlich Facebook ab, was mir extrem auf die Nerven geht.
Ständig zeigt sie mir Bilder und sagt "Schau mal, was Xy gepostet hat!", "Oh Gott, Yx zeigt auf dem Selfie ja voll Ausschnitt!".
Dass ich von solchem Kram wie Facebook Null wissen will, merkt sie gar nicht und bombardiert mich deshalb weiter mit Bildern von irgendwelchen Weibern zu, die wirklich nicht gerade viel anhaben.
Die wenigen Jungs, die sich in unserer Klasse befinden, haben Felix auf ihre Seite geschmuggelt und ihm einen Platz neben Elias spendiert, der sich was Schönheit angeht, eine Scheibe von Felix abschneiden kann.
Es klingelt. Ich springe auf und strecke mich.
Pause.
Doch die großen Pausen werden mittlerweile nicht mehr zum Fangen spielen genutzt, sondern zum Unterrichtsstoff wiederholen.
Meistens stehen Anna und ich dumm in der Ecke, lernen Vokabeln oder Formeln und beißen im Minutentakt in unser Brot.
So auch heute, ätz...
***
"Ellie, ich will nicht", jammert Anna und bleibt stehen. "Er ist pervers!"
"Du hast ihn angemacht, nicht er dich. Und wenn er Spaß daran hat, das halbe Personal durchzuvögeln, soll er dies tun." Ich rolle die Augen und zerre Anna eine Etage tiefer zu den Bioräumen.
Anna und ich müssen in der siebten und achten Stunde Bio nachschreiben, was bei uns beiden höchstwahrscheinlich katastrophal enden wird.
"Ich muss noch schnell auf's Klo, du kannst ja schonmal vorgehen", sage ich und warte gar nicht erst ihre Reaktion ab, sondern hechte zu der Damentoilette ein paar Meter weiter.
Während ich auf dem Klo hocke, schaue ich kurz auf mein Handy. Eine Nachricht von Maya.
Ja, sie hat ein Handy, allerdings ein Klapphandy mit zehn Freiminuten im Monat.
Maya: Wo bist du? Jonas hat sich verletzt. Kannst du nach Hause kommen?
Um Gottes Willen, das darf nicht wahr sein! Kann man die Kleinen nicht mal eine Stunde alleine zu Hause lassen, während Mama einkaufen ist oder so?
Elena: Nein, ich schreibe jeden Moment eine Arbeit. Warte bis Mama oder Helen zurück ist. Schreib nicht zurück, dein Guthaben wird sonst alle. Bis später.
Ich schalte das Handy aus und verlasse die Toilette. Schon eine Entschuldigung für mein Zuspätkommen auf den Lippen nähere ich mich dem Klassensaal, in dem wir nachschreiben werden.
Doch als ich vor der Tür stehe und anklopfen will, höre ich Stimmen. Jedoch keine in neutralem Ton, sondern eine ängstliche und wimmernde, vermischt mit einer Männerstimme.
Ich bleibe wie versteinert stehen und lausche den Worten.
"Elena wird gleich zurück sein! Sie können doch nicht-" Das war Anna.
"Ich bin Lehrer. Und Lehrer dürfen ihren Schülern Anweisungen geben. Und diese lautet: zieh dich jetzt aus!"
Mein Herzschlag gleicht einem Bass bei einem Rock-Festival und am liebsten wäre ich fortgerannt, würde meine beste Freundin nicht gerade von unserem Biolehrer zum Ausziehen gezwungen werden.
Anna beginnt zu weinen.
"Anna!", schreie ich und stürme in den Raum.
Herr Lothar sitzt oben ohne auf dem Pult und scheint jeden Moment bereit dazu zu sein, Anna die Kleider persönlich abzunehmen.
"Sie können doch keine Schüler missbrauchen! Sie sind doch verrückt!", rufe ich und muss feststellen, dass ich noch nie solch eine Großmäuligkeit einem Erwachsenen gegenüber gezeigt hatte. "Das kann Sie Ihren Job kosten!"
Herr Lothar sagt nichts. Anscheinend ist seinem schwanzgesteuerten Gehirn klar geworden, dass er morgen eventuell schon joblos ist, gerade weil er Referendar ist.
Deshalb denke ich, dass es bei einer anderen Schule nicht gut ankommt, wenn rauskommt, dass er eine Schülerin zum ausziehen gezwungen hat.
"Wehe, ihr petzt das! Ich sorge persönlich dafür, dass ihr fliegt!", mahnt er uns schließlich und macht auf mich den Eindruck einer wütenden Bulldogge.
"Zuerst fliegen Sie." Ich schnappe mir Annas Rucksack und haste mit ihr aus dem Raum. Sie befindet sich eindeutig in einer Schockstarre.
Wir rennen schnurstracks zu mir nach Hause, was mir nach der achten Stunde eh geplant hatten. Tun wir es halt nach der siebten und nachdem ich sie vor einem sexuellen Übergriff gerettet hatte.
Uns beiden ist schlecht und wir zittern, als wir vor unserem Haus ankommen und ich die Haustür aufsperre.
Im Hausflur lehnt sich Anna erstmal gegen die Wand und scheint einem Nervenzusammenbruch näher als nah zu sein.
Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter.
"Hey, beruhig dich erstmal. Willst du was trinken oder essen?"
Anna schüttelt den Kopf und eine Träne rann stumm ihre Wange herunter.
Ich nehme sie bei der Hand und öffne nebenbei unsere Wohnungstür. Geschrei begrüßt mich.
"Was ist denn hier los?", murmele ich.
Oh, der Vorfall mit Jonas...
Anna und ich gehen ins Wohnzimmer, wo Jojo notdürftig das Kindermädchen spielt.
Maya und sie sind heftig am streiten, während Jonas mit seinem Gipsbein und einem Kühlpack auf dem Sofa hockt und ebenfalls seinen Senf dazu gibt.
"Hallo?!", rufe ich laut in den Raum.
Ich habe zum Glück sofort die Aufmerksamkeit.
Ich lasse meinen Schulrucksack zu Boden gleiten und gehe zu Jonas.
Unter dem Kühlpack befindet sich ein nackter, dick angeschwollener Fuß mit drei blutigen Kratzern am Fußballen. Ich blicke entgeistert in die Runde.
"Wie konnte das passieren?"
"Du klingst wie Mama", sagt Maya und starrt Jojo böse an.
"Das ist mir egal. Was habt ihr hier getrieben?", will ich wissen und Jojo übernimmt das Wort.
"Sie sind im Flur herum gehüpft und dabei ist Jonas in Mamas Vase gefallen, was heißt, dass sein Fuß mit voller Wucht gegen den Schrank gedonnert ist." Sie rollt die Augen.
"Mamas Vase?!"
Ich stürze zurück in den Flur.
Dort liegt sie. Uromas Erbstück. Omas Erbstück. Mamas Erbstück.
Das Ding ist von Generation zu Generation weitergegeben worden und das immer, sobald die älteste Tochter auszieht.
Unter'm Strich: Helens Erbstück ist im Arsch.
Die weiße Vase war komplett zertrümmert.
"Mama wird ausrasten", grummelte ich.
"Helen auch", steuerte Jojo mir bei und jetzt wusste ich auch, warum sie Maya eben so angemotzt hat. "Sie werden beide in ungefähr einer halben Stunde nach Hause kommen. Ich bin auch erst vor zehn Minuten gekommen."
"Okay. Lasst die Vase so liegen. Jeder geht in sein Zimmer und macht Hausaufgaben. Ich will keinen Mucks hören", peile ich an und verscheuche die anderen aus dem Wohnzimmer.
"Wird das Ärger geben?", hickst Anna neben mir und an ihrer Stimme erkenne ich, dass sie am liebsten heulen würde, sie es aus Höflichkeit jedoch nicht tut.
"Ja." Ich marschiere in die Küche und setze Teewasser auf. Aus dem Schrank nehme ich eine Tafel Schokolade, auf der in Großbuchstaben ELENA steht.
Ja, in dieser Familie muss man fast alles beschriften, da es sonst schneller weg ist, als man 'Buttermilch' sagen kann.
"Welche Teesorte willst du?", frage ich Anna, welche wie ein getretener Hund am Kühlschrank lehnt.
"Hast du den Beste-Freundinnen - Tee da?"
Ich nicke und taste den Hängeschrank nach unserer exklusiven Teemischung ab.
Diesen Tee trinken wir nämlich immer, wenn eine traurig oder sauer ist, aber auch wenn wir total glücklich sind.
Ich drehe mich vom Wasserkocher weg und tausche mit Anna diese typischen Blicke aus, die man nur aufsetzt, wenn man sich nicht traut, zu sprechen.
"Elena?"
Ich schließe kurz die Augen, um nicht auszurasten.
"Was?", grummele ich Maya an, die im Türrahmen steht und einen Bleistift hinter'm Ohr trägt.
"Spielst du mit mir?", bettelt sie und zieht eine Barbie-Puppe hinter ihrem Rücken hervor.
"Nein, es hat sich für heute ausgespielt. Hast du keine Hausaufgaben auf?", entgegne ich und nehme zwei Tassen aus den Regal über der Spüle.
Versteht jetzt jeder, warum es anstrengend ist, die zweitälteste zu sein? Als zweitälteste ist man nämlich am interessantesten, da die älteste schon uncool ist, weil sie den Kleinen keine wirkliche Aufmerksamkeit mehr schenkt.
"Doch." Beleidigt zieht sie ab.
Der Tee ist fertig. Gemeinsam setze ich mich mit Anna auf's Sofa, da Jojo ja mein, oder eher unser, Zimmer belegt.
"Willst du es deinen Eltern sagen?", frage ich und breche ein Stück Schokolade ab.
Anna starrt unschlüssig in ihren Tee.
"Keine Ahnung. Nachher wollen die den noch verklagen und dann macht jeder daraus ein Riesending." Sie schluckt und eine Träne bahnt sich einen Weg über ihre Wange.
"Was ist da eben eigentlich genau gelaufen? Ich hab nur gehört, wie du etwas von 'Elena wird gleich zurück sein' gesagt hast", lenke ich das Thema um und merke, wie sich mein Bauch zusammen zieht.
Anna scheint die Sache unangenehm zu sein. Ich meine, wem ist das nicht?
"Ich hab mich hingesetzt und er hat angefangen, sein Hemd aufzuknöpfen. Als ich sagte, er soll das lassen, hat er mich aufgefordert, mich auszuziehen. Ich hab mich geweigert und er hat den Vorschlag gemacht, dass er es selbst erledigen könnte. Dann hab ich angefangen zu weinen und hab den Satz mit 'Elena wird gleich da sein' gesagt und dann bist du auch schon reingeplatzt. Danke nochmal."
Anna weint. Ich auch mit einem Mal.
***
"WAS IST DAS DENN?!"
Die hysterische Stimme meiner Mutter hallt durch die Wohnung. Jetzt gibt's Beef, Leute...
Anna und ich kommen aus dem Wohnzimmer und sehen meine Mutter neben der kaputten Vase knien. Helen steht erschrocken dahinter, mit Einkaufstüten in der Hand.
Die anderen drei kommen ebenfalls aus ihren Zimmern gekrochen und stellen sich wie Unschuldslämmer neben uns.
Jetzt heißt es Zusammenhalt oder ewige Feindschaft unter Geschwistern. Ich wähle das erste.
"Ich hab den Schrank geöffnet und dann kam plötzlich ein Windstoß wegen dem geöffneten Fenster daneben. Die Tür ist gegen die Vase geknallt", rattere ich herunter und verkneife mir den Vorschlag, ob man das Ding wieder kleben kann.
"Super! Und was ist jetzt mit meinem Erbstück, dass ich hätte erben sollen?", fragt Helen wütend und lässt die Einkaufstüten fallen.
"Auch aus Scherben kann man schönes basteln", sagt meine Mutter mit einem Mal und verschwindet in der Küche, um eine Schachtel für die Scherben zu holen.
"Klar, die blöde Helen kann mit Scherben auskommen!", ruft sie ihr erbost hinterher und würde Mama am liebsten eine Scherbe an den Kopf donnern.
"Hör mir mal gut zu, Fräulein!" Mama ist zurück. "Denkst du etwa, ich war es, der das Ding zerdeppert hat?! Bedanke dich bei deinen Geschwistern."
Ich glaube, ich spinne! Jetzt versuche ich die Geschichte auch schon so umzubauen, dass ich (oder eher die Kleinen) nicht persönlich Schuld sind und dann bekomme ich sie doch in die Schuhe geschoben!
"Elena kann dafür gar nichts!", kommt mir Jojo zur Hilfe, da Helen schon eine verbale Attacke für mich geplant hat. "Das waren ganz allein der Wind und die Schranktür!"
"Schön. Das klären wir später beim Abendessen, wenn kein Besuch mehr hier ist", meint meine Mutter. "Geht auf eure Zimmer bitte. Helen, du hilfst mir."
Wie beschissen kann ein Tag ablaufen? Zuerst wird die Freundin von einem Lehrer sexuell belästigt, dann zerdeppern deine Geschwister ein Familienerbstück, du springst für sie in die Presche und es kommt trotzdem nichts gutes dabei raus.
Ich würde gerne nochmal heulen.
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