3- Alkohol ist keine Lösung
Die Wecktöne meines Handys reißen mich wie üblich aus dem Schlaf und machen mir somit klar, dass ich meine gemütliche Koje verlassen muss und mich im Bad von meinem Zombielook verabschieden soll.
Als ich dies getan habe, gleich nachdem ich Jojo aus dem Bett geschmissen hatte, schlurfte ich auf Socken hinunter in die Küche, mit dem Schulrucksack über der Schulter hängend.
"Was ist denn das?", begrüßt mich Helen und mustert mit kritischem Blick meinen weiß-türkis gestreiften Rock, den ich über alles liebe.
"Das, liebe Helen, ist ein Rock", erkläre ich ihr und setze mich neben meinen Vater, der mir sogleich den Brotkorb reicht.
"Der Rock sieht furchtbar aus. Und darüber kannst du keine korallenfarbene Weste anziehen!", belehrt mich meine große Schwester eines besseren und greift nach der Marmelade.
"Ich finde, es sieht gut aus", mischt sich Jojo ein, welche gerade die Küche betritt und der Tisch nun vollständig besetzt ist.
Sechs Blondschöpfe und zwei Braunhaarige (davon ein Säugling) sind nun am Tisch versammelt und ich muss mich mal wieder aufregen.
Ich bin die einzige Brünette in der Familie und hoffe inständig, dass mein jüngster Bruder auch zum Dunkelhaarigen mutiert. Doch Mama hat mir mindestens schon zwanzig mal gesagt, dass Leonards Haare von Tag zu Tag heller werden.
Ich grinse in Richtung Jojo und schlinge mein Brötchen hinunter.
Als auch Jojo fertig ist, stehe ich auf, um aufzubrechen.
"Kommst du?", frage ich und hebe meinen Rucksack vom Boden auf. Neben der Spüle stopfe ich eine Brotdose, auf der ein gelber Zettel mit der Aufschrift Elena klebt, hinein und stecke eine Wasserflasche in das Außengefach.
"Nö", meint Jojo und schenkt sich noch Milch nach. "Wir haben die erste Stunde frei."
Sie streckt mir triumphierend die Zunge raus.
Ich rolle mit den Augen und würde die Mathestunde auch lieber gegen das Sofa tauschen.
Da Helen heute mit ihrer Ausbildung zur Modedesignerin anfängt, für welche meine Eltern einen Haufen Geld hinlegen müssen, werde ich den Schulweg alleine antreten.
Ich habe kaum den Wohnblock verlassen, als schon das nervige Hupen der Autos und Gequietsche der Reifen anfängt, mein Gehör zu plagen.
Berlin, die Ich-geh-dir-in-allen-Varianten-auf-die-Nerven - Stadt.
Missmutig stapfe ich vor mich hin, feststellend, dass meine Stiefeletten zu eng werden und meinen Zehen nur eine geringe Bewegungsfreiheit erstatten.
Die Autos rauschen an mir vorbei und ich versuche dies auszublenden. Doch als schließlich ein PKW direkt neben mir hält, schaue ich auf.
Bereits darauf gefasst von pedophilen Männern mit Süßigkeiten und Babykatzen ins Auto gelockt zu werden, erkenne ich, dass mir ein halbwegs bekanntes Gesicht entgegen strahlt.
Felix Prinz sitzt auf der Fahrerseite eines VW-Golfs und lässt rasch die Fensterscheibe hinunter.
"Hi!", sagt er. "Willst du mitfahren?"
Mit einem Kopfnicken deutet er auf die leere Rückbank, auf der ich meinen Hintern liebend gern platzieren würde, anstatt in zu kleinen Schuhen herum zu watscheln.
"Nein, danke", entgegne ich höflich und will somit nicht den Eindruck einer Bonze vermitteln, die sich zu jedem x-beliebigen Schauplatz kutschieren lässt, selbst wenn er, wie in meinem Fall gerade, nur hundert Meter entfernt liegt.
"Sind nur noch ein paar Meter."
"Ach, hab dich nicht so!", meint Felix und lacht ein Lachen, dass bei jedem Mädchen ein vielsagendes Kribbeln auslöst.
Dieses Kribbeln findet auch in meinem Bauch statt, weshalb ich mich geschlagen gebe, die Hintertür des Kleinwagens aufreiße und einsteige.
Meine Mum würde mich für diese Tat lynchen.
Als ich noch kleiner war, hat sie mir jeden Morgen gepredigt, dass ich ja nicht bei fremden Leuten mitgehen soll.
Doch ich kenne Felix schließlich, oder? Ich meine, er geht in meine Klasse und äh- ja...
Vergewaltigen wird er mich wohl kaum.
"Das ist übrigens Luke", stellt er mir seinen Beifahrer vor, welcher mir erst jetzt auffällt.
Soweit ich von dieser ziemlich unbequemen Rückbank erkennen kann, ist er dunkelblond und macht einen grimmigen Eindruck, was mich nur ein schwaches "Hallo." herausbringen lässt.
"Darfst du denn schon Auto fahren?", will ich von Felix wissen, da ich mich nicht daran entsinnen kann, dass man mit sechzehn oder auch siebzehn die Erlaubnis zum Führerschein hat.
"Klar. Ich bin vor drei Monaten achtzehn geworden und hab seit'n paar Tagen den Lappen in der Tasche", klärt mich Felix auf und hält an einer roten Ampel. „Wenn der beste Freund dann auch noch ein Auto hat, ist das doppelt praktisch."
Aha, einen Kumpel hat er also schon?
Aber spätestens jetzt würde meine Mutter die Hände über dem Kopf zusammen schlagen, mich mit Fragen wie "Warum fährst du bei Achtzehnjährigen im Auto mit?" löchern und sich Vorwürfe machen, dass sie bei der Erziehung ihrer zweitältesten Tochter grandios versagt hat. Ab und an ist sie ne' Dramaqueen.
"Du bist schon achtzehn?" Etwas perplex überschlage ich Zahlen im Kopf.
Ich persönlich werde erst im Sommer siebzehn, was heißt, dass Felix fast zwei Jahre älter ist, als die kleine, spießige Elena.
"Jip, bin ein Kannkind gewesen und mein Dad war der Auffassung, je schneller ich lerne, desto besser. Und dann bin ich in der achten Klasse sitzen geblieben", erwidert Felix lässig und fährt weiter.
Die restliche Autofahrt, bei der ich mir etwas Fehl am Platz vorkomme, verbringen wir schweigend. Luke hat bis jetzt kein Wort gesprochen, auf meine Begrüßung hat er auch nicht geantwortet, auch wenn ich bezweifele, dass er meine Piepsstimme überhaupt wahr genommen hat.
Als Felix den Wagen ungeschickt auf den Praschenplatz vor der Schule lenkt und sich eher schlecht als recht auf einem Parkplatz quetscht, ist es Zeit auszusteigen.
Da ich nicht unfreundlich sein will, sage ich noch Tschüß, bevor ich aus dem Auto steige und auf Felix warte, der immer noch drin hockt.
"Tschau und viel Glück bei deiner Klausur!", ruft Felix, verlässt ebenfalls den Wagen und schnappt sich seine Tasche aus dem Kofferraum.
Luke stattdessen wechselt seine Rolle vom Beifahrer zum Fahrer und braust ohne den Mund zu öffnen davon, wahrscheinlich zur Uni oder so.
"Danke, dass ihr mich mitgenommen habt", bedanke ich mich bei Felix, der heute verboten gut aussieht.
"Ist- äh... Luke etwas schweigsam?"
"Es geht", meint Felix und setzt sich in Bewegung. "Er ist zurückhaltend und konzentriert sich lieber auf seinen eigenen Kram, verstehst du?"
"Seit wann kennst du ihn? Schließlich wohnst du noch nicht lange hier", stelle ich meine eben aufgekeimte Frage.
"Er studiert hier", entgegnet er knapp und scheint keine weiteren Fragen in Sachen Luke beantworten zu wollen.
Ich nicke und erst jetzt fallen mir die ganzen Blicke der weiblichen Wesen auf, die noch auf dem Schulhof rumlungern, um sich eventuell noch einen Hochprozentigen zu gönnen, damit sie den Unterricht überstehen.
Ich bin ziemlich froh, dass ich zu diesem Volk nicht gehöre, welches die Kneipe als zweites Zuhause ansieht.
Dennoch, viele Augenpaare ruhen auf dem Neuen, der gerade mit dem Rockkind, unter wessen Name ich hier bekannt bin, den Schulhof überquert.
Ich erkenne Anna, die neben ihrer Cousine steht. Diese drückt ihre gerade eine verhängnisvoll aussehende Flasche in die Hand, was mir nicht entgeht.
Oh nein, Sophie, meiner Freundin flößt du nichts ein!
"Warte kurz!", zische ich in Felix' Richtung und rausche zu Anna und Sophie.
Anna schaut etwas beleidigt drein, als ich bei ihnen ankomme. Oho, habe ich ihr gerade die Chance gestohlen, zum Alkoholiker zu mutieren? Wenn ja, sei stolz auf mich, Anna.
"Na?", frage ich in die Runde und mustere Sophie von oben bis unten.
Ich verstehe es ehrlich gesagt nicht, dass solch eine Person mit jemandem wie Anna verwandt ist.
Wenn ich kurz erklären darf: Sophie könnte man auch beim Straßenstrich antreffen, was, ihrer heutigen Kleidung nach zufolge, am Morgen wahrscheinlich auch ihr erster Anlaufspunkt war. Es geht tatsächlich das Gerücht um, dass sie des öfteren mal dort anzutreffen ist.
"Gut", murmelt Anna und hebt die Flasche hoffnungsvoll in Höhe ihres Mundes.
Sie weiß genau, dass ich weder Tequila, wie er ein paar Meter weiter gerade verteilt wird, noch Berliner Luft Shots vor der Schule dulde.
Doch ich nehme ihr die Flasche ab und drücke sie Sophie in die Hand, die über meine Anwesenheit nicht sehr erfreut zu sein scheint. Sie kann mich nicht ausstehen. Anna erzählt oft, dass sie mich als Streber und besserwisserische Jungfrau bezeichnet, was bei mir aber abprallt wie Kritik an Jojo, welche auch lieber das tut, was sie will.
"Wir trinken nicht, danke", fauche ich Sophie an und nehme Anna bei der Hand, um sie zu Felix zu ziehen, der schon ungeduldig wartet.
"Du vielleicht nicht, sie schon", kontert das Mädchen vom Straßenstrich, wirft ihrer Cousine eine vielsagenden Blick zu und dampft zu dem nächsten Grüppchen ab, um sich dort ein paar Trinkpartner anzuheuern.
"Anna, das Thema Wir-trinken-nichts-vor-der-Schule haben wir schon mehrfach durchgekaut!", sage ich streng, als Sophie fort ist und kehre mit ihr zu Felix zurück.
Doch Felix wurde soeben von drei Jungs aus unserer Klasse abgefangen und ins Schulgebäude verschleppt. Gut so, dann kann ich Anna immerhin eine nette Standpauke halten.
"Sophie hat keinen guten Einfluss auf dich", meine ich ohne Scham.
"Ellie, sie ist meine Cousine und ich mag es nicht, wenn du sie ständig kritisierst!", stellt Anna klar und wirkt beleidigt.
Jetzt springt sie für dieses Assi-Weib auch noch in die Presche. Gut zu wissen.
"Sie kritisiert mich auch", kontere ich und weiche einer Traube Fünftklässler aus, die, wie ich gerade feststelle, modernere Handys als ich haben. Das Leben ist nicht immer fair, jaja...
"Ja, ich weiß. Aber du gehörst nicht zur der Sorte, die noch einen draufsetzt", kommt es von Anna.
"Gut und schön, trotzdem wird vor dem Unterricht nichts getrunken. Erinnerst du dich noch an letzten Monat?"
Anna wird rot wie die Tomaten, die sich in meiner Brotdose neben einem Butterbrot tummeln.
"Nö, was war denn da?", hickst sie und ich muss schon sagen, ihre neue Gesichtsfarbe beißt sich dezent mit ihrem fliederfarbenen Oberteil, das einen markanten Ausschnitt zeigt.
"Echt? Du weißt es nicht mehr? Gut, dann würde ich sagen, dass wir jetzt Herrn Lothar fragen. Der steht dahinten", beschließe ich und warte Annas Reaktion ab.
"Nein! Elena, untersteh dich!", kreischt diese und versteckt sich kindisch hinter mir, darauf bedacht, nicht von unserem Bio-Lehrer entdeckt zu werden.
Als Anna auf den Geschmack kam, sich vor der Schule einen kleinen Stimmungsverbesserer zu verpassen, hat sie in der ersten Stunde den (ziemlich heißen) Bio-Referendar angeflirtet und gefragt, ob sie nach der Stunde noch bleiben könne.
Ich konnte sie dann wieder aus der Scheiße rausreden und musste etwas von "Kopfweh und Gehirnerschütterung" labern.
"Reg dich ab!", lachte ich. "Wir müssen nach der sechsten Stunde sowieso bei ihm ne' Arbeit nachschreiben."
"Ich hatte das eigentlich erfolgreich verdrängt, aber danke für die Erinnerung", grummelte Anna und machte einen großen Bogen um unseren Lehrer, welcher im Moment gerade mit unserer Klassenlehrerin flirtet.
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