1- Eisregen am Morgen
Die Leute laufen wie üblich an mir vorbei, ohne mich zu grüßen. Hier und da werde ich mal angerempelt, als wäre ich ein Gummiball, der dann einfach davon springt.
Manchmal frage ich mich, ob man mich überhaupt auf irgendeine Art und Weise wahr nimmt.
Als ich meinen Klassenraum betrete, muss ich mich schwer zusammen reißen, um beim Anblick von Denise und ihren Freundinnen nicht laut loszulachen.
Denise gehört zu der Sorte von Mädchen, die Makeup einer Pickelcreme vorziehen. Dementsprechend sieht sie auch aus.
In der letzten Reihe winkt mir jemand zu; die einzige Person, die mich bemerken zu scheint: Anna, meine beste Freundin. Anna ist das komplette Gegenteil von mir. Sie ist selbstbewusst, modisch gekleidet und bei den Jungs und Mädels relativ beliebt. Ich wundere mich, warum sie sich überhaupt mit mir abgibt. Dennoch bin ich ihr für alles dankbar.
Doch heute zieht nicht Annas neue Haarfarbe meinen Blick auf sich, sondern der Junge, der in der Bank neben unserer sitzt.
Seine blauen Augen sind eisig, trotz allem lächelt er etwas schüchtern vor sich hin. Ich kenne ihn nicht. Er muss wohl neu hier sein. Er hat braunes Haar, dass einwenig aufgestylt ist.
Auch Denise und ihre Clique starren ständig zu dem Kerl herüber, was er allerdings nicht zu merken scheint.
Ich schlendere zu Anna herüber und setze mich.
"Hi", begrüße ich sie und mustere ihre Frisur. "Sieht nett aus, auch wenn ich das dunkelblonde schöner fand."
Anna grinst und streicht sich eine hellblonde Strähne hinters Ohr.
"Man muss sich auch mal was trauen", lacht sie und beugt sich zu mir vor. "Guck mal, der Schnucki neben dir. Frag ihn doch mal, wie er heißt. Könnte deine Chance sein!"
"Bist du verrückt? Was will der denn von einer wie mir?", zische ich.
Ich bin nicht hässlich, dennoch war ich einfach nicht der Typ von Mädchen, auf den die heutige Jugend steht. Ich habe braune, glatte Haare, deren Spitzen ich meistens mit dem Lockenstab meiner älteren Schwester bearbeite.
Mein Kleidungsstil ist speziell: ich trage meistens Röcke oder Kleider mit Blusen und darüber eine Strickweste. Dazu Ketten, Strumpfhosen und Stiefel. In meinem Schrank gibt es keine Boyfriend-Jeans, Sweathers, Oversized-Hoodies oder Croptops, wie sie im Schrank meiner Schwester zu finden sind.
"Du bist süß, nett und hübsch. Frag ihn jetzt, wer er ist, Ellie!", drängelte Anna und funkelte mich mit ihren grünen Augen auffordernd an.
"Na schön", murrte ich und drehte mich zu dem Jungen in der Nachbarbank um.
"Bist du neu hier?" Meine Stimme klang ungewöhnlich hoch, doch der Junge schien dies gar nicht zu merken.
Er lächelte mich schüchtern an, was unglaublich süß aussah.
"Ja, hier ist doch der Kurs 11b, oder?", antwortete er und zeigte somit seine perfekten Zähne.
Ich nickte und rang mit mir, ob ich jetzt tatsächlich nach seinem Namen fragen sollte.
Doch er kam mir zuvor.
"Ich bin Felix und du?"
Der Name passte total gut zu ihm, fand ich.
"Ich heiße Elena", stellte ich mich vor und lächelte ihn an.
"Klingt nett", sagte er und grinste.
In diesem Moment betrat Frau Meers, unsere Kursleiterin, den Raum, wie immer einen riesigen Papierstapel an ihre voluminöse Brust gepresst.
Sie knallte die Papiere aufs Pult, ließ die Tasche neben den Stuhl gleiten und strahlte in die Klasse.
"Guten Morgen, meine Lieben!", rief sie und klatschte gut gelaunt in die Hände. "Wie ein paar von euch schon vielleicht gemerkt haben, ist unsere Schüleranzahl um eine Zahl gestiegen. Begrüßt bitte Felix Prinz, der ab sofort unsere Schule besuchen wird!"
Ein paar klatschten, ein paar andere grölten ein "Hallo!" nach hinten in die letzte Reihe.
Ich dagegen starrte ihn unauffällig an. Sein Nachname ist verdammt cool, meiner Meinung nach.
Doch bevor ich weiter über seinen Nachnamen nachdenken kann, unterbricht Frau Meers meine Gedanken.
"Allerdings haben wir heute euch einwenig Arbeit vor uns. Die Gedichtsanalyse schreibt sich schließlich nicht von alleine!", rief sie und wendete sich jetzt an Felix. "Mein Lieber, ich weiß nicht, was ihr an eurer alten Schule als letztes Thema in Deutsch hattet, deshalb wirst du wohl diese Deutscharbeit nicht mitschreiben können." Sie lächelte etwas entschuldigend, doch Felix hob den Arm.
"Ich hab vor einer Woche erst eine Gedichtsanalyse geschrieben, also wird das hier jetzt kein Problem für mich sein", erklärte er und Frau Meers nickte erfreut.
"Super! Gut, legen wir los!", verkündete sie und packte den Stapel auf dem Tisch, um jedem Schüler ein Arbeitsblatt und ein paar linierte Seiten auszuteilen.
Die Deutscharbeiten bei Frau Meers sind einfach, weshalb ich heute Morgen keinerlei Probleme hatte und Anna abschreiben lassen konnte, da sie eine echte Niete in Deutsch ist.
Meine Gedanken allerdings glitten oft zu der Person in der Nachbarbank, die eifrig das Papier vollkritzelte.
Er sah aus, wie aus dem Ei gepellt. Denise scheint die selben Gedanken wie ich zu teilen, da sie Felix mit erotischen Blicken bombardiert, der zum Glück auf seine Gedichtsanalyse konzentriert ist.
Würde er Denise sehen, müsste man ihm eine Kotztüte zur Verfügung stellen.
Als es gongt und Frau Meers durch die Reihe huscht und die Arbeiten einsammelt, spricht Anna Felix an.
"Bist du umgezogen?", will sie wissen und tritt mir unterm Tisch gegen das Schienbein; ein Zeichen, dass ich mich am Gespräch beteiligen soll.
"Jupp", macht Felix und fährt sich durch die Haare, was ziemlich sexy aussieht. "Hab vorher mit meinem Vater in München gewohnt."
"Echt? Ich wollte schon immer mal nach München", erzähle ich.
Ich bin total scharf auf die Dirndl dort.
"Ist gar nicht so toll, wie alle immer sagen", erklärt Felix und lacht. "Berlin ist cooler, finde ich. Mein Vater hat hier ne' neue Stelle, also ist das ganz praktisch gewesen."
Ich nicke und stelle fest, dass Anna bereits ihre Sachen zusammen packt. Ich tue es ihr nach, weshalb Felix ebenfalls beginnt, die Hefte in seine Umhängetasche zu schmeißen.
"Kannst du mir eventuell deinen Stundenplan ausleihen? Ich hab meinen noch nicht bekommen", fragt Felix mich auf einmal und schaut mir dabei in die Augen.
Dieses Blau ist unglaublich. Wie Eis.
"Öh- klar", sage ich schnell und krame in meinem Rucksack, den ich mir vor einer Woche in den Herbstferien gekauft hatte.
Heraus ziehe ich einen schon etwas zerfledderten Stundenplan, den ich Felix überreiche.
"Danke." Er lächelt und studiert den Plan, bevor er ihn in seine Tasche steckt. "Ich gebe dir ihn bei Gelegenheit wieder, okay?"
"Kannst ihn behalten, ich kann den auswendig", erwidere ich und schlängele mich durch den engen Mittelgang zur Tür durch.
"Alles klar", sagt Felix und folgt mir.
Er folgt mir? Will er nicht zu den Jungs?
Normalerweise schauen mich die Jungs noch nichtmal mit dem Arsch an und jetzt unterhalte ich mich mit einem, was bei mir eher eine Seltenheit ist, abgesehen von meinem Bruder.
Auch Anna scheint dies zu merken und zwinkert mir nur zu, während wir notdürftig zu dritt zum Chemiesaal traben.
Super, jetzt werde ich eine gesamte Stunde daran erinnert, wie dumm ich bin.
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