Das Wiedersehen
Jetzt stehe ich hier auf dem Dach, immer noch bin ich in blau gekleidet, aber nicht mehr lange. Ich bin gerade aus einem fahrenden Zug gesprungen und hier gelandet. Mit mir ein ganzer Schwung anderer verschiedenfarbig gekleideter 16-Jähriger.
Es war nicht das erste Mal, dass ich Zug gefahren bin, aber das erste Mal, dass ich ohne Hilfe auf- und abgesprungen bin. Und ich bin überrascht, wie gut es geklappt hat. Vor allem der Absprung. Ich bin auf den Füßen gelandet und konnte mit ein paar Schritten den Schwung abfangen. Die anderen Jugendlichen um mich herum haben das nicht so gut geschafft. Ich sehe, dass viele im Dreck liegen oder sich schmerzvoll die Knie oder Ellbogen reiben.
Noch einmal denke ich an die Bestimmungszeremonie zurück. Mich hat es wirklich sehr gewundert, dass meine Mutter mich überhaupt dorthin begleitet hatte. Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet, da wir in den letzten Jahren keine gute Beziehung zueinander hatten.
Früher, als ich noch jung war, war sie wirklich eine sehr liebevolle Mutter, aber seit dem Tod von Dad hat sich das grundlegend geändert. Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade erst 10 Jahre alt. Ich habe meinen Vater über alles geliebt und war zu tiefst bestürzt über seinen Tod. In dieser Situation hätte ich die Liebe meiner Mutter gebraucht, doch stattdessen hat sie mir die Schuld an seinem Tod gegeben. Ich konnte das nie verstehen.
Seitdem war unser Verhältnis nicht mehr dasselbe. Ich habe immer versucht, ihr alles recht zu machen, doch das erwünschte Lob ist meistens ausgeblieben. Dafür hat sie mich kritisiert, wo sie nur konnte. Er einzige, der immer für mich da war, war mein großer Bruder. Er war sehr liebevoll zu mir und sogar so was wie ein Beschützer für mich. Häufig hat er mich sogar vor unserer Mutter verteidigen, wenn sie mich wieder mal beschimpft hatte.
Doch dann, vor 4 Jahren hat er mich auch verlassen. Er ist zu den Ferox gewechselt und so bin ich mit Mum alleine zurückgeblieben. Und sogar in dieser für mich äußerst schwierigen Situation hatte meine Mutter natürlich wieder nichts Besseres zu tun, als mir dafür auch die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich ebenfalls zu den Ferox wechseln werde. Und heute war es endlich so weit.
Allerdings bin ich wirklich enttäuscht von Mum. Ich hätte mir gewünscht, dass sie wenigstens eine kleine Gefühlsregung zeigen würde, aber nichts. Als mein Name aufgerufen wurde und ich zu ihr gesagt habe, dass ich jetzt vorgehen muss, kam nur ein "Ist gut" von ihr. Sie hat mich dabei noch nicht mal angeschaut.
Während ich dann mein Blut in die heißen Kohlen tropfen ließ, war ihr Gesichtsausdruck nur gleichgültig. Da war keinerlei Regung zu sehen. Das hat mich tief getroffen. Hat sie mich überhaupt jemals geliebt? Gab es einen bestimmten Grund, warum sie mich immer für alles Schlechte verantwortlich gemacht hatte? Und war sie vielleicht sogar erleichtert, dass sie mich endlich los geworden ist? All diese Gedanken sind mir bereits während der Zugfahrt durch den Kopf gegangen.
Doch nun bin ich endlich bei den Ferox. Also konzertiere ich mich wieder auf das Hier und Jetzt. Ich schaue mich auf dem Dach um. Und da sehe ich ihn auch schon. Es sieht echt imponierend aus, wie er da so auf der Kante des Daches steht, die Arme vor der Brust verschränkt. Er hat sich sehr verändert und strahlt nun viel Autorität aus.
Wir sehen uns wirklich nicht sehr ähnlich. Er hat dunkle glatte Haare, während meine strahlend blond sind und mir in Locken bis über die Brust reichen. Wir haben zwar beide blaue Augen, doch meine haben einen warmen himmelblauen Farbton wohin gegen seine eher eisblau aussehen. Selbst unsere Gesichtszüge weisen wenig Gemeinsamkeiten auf. Sein Gesicht ist etwas kantig und sehr markant, was ihn für die Frauen aber nicht unattraktiv macht. Ich habe allerdings weiche und geschmeidige Gesichtskonturen.
Es gibt auch einen deutlichen Größenunterschied zwischen uns, da er mich bestimmt um 1 1/2 Köpfe überragt. Seitdem er bei den Ferox ist, hat er auch beachtlich an Muskelmasse zugelegt, obwohl er bereits schon immer kräftiger gebaut war als ich. Also, wenn man es nicht weiß, würde man bestimmt nicht vermuten, dass wir beide Geschwister sind.
Mittlerweile bin ich einige Schritte auf ihn zu gegangen, wie auch viele der anderen Initianten. In diesem Moment fängt er an zu sprechen.
"Alle herkommen und zuhören!" Er beginnt uns alle mit einem eiskalten Blick zu mustern. Doch ich kenne ihn besser. Ich weiß, dass das nur eine Fassade ist. Inzwischen spricht er weiter.
"Ich bin Eric, einer der Anführer der Ferox und euer Ausbilder während der Initiation." Jetzt ist sein Blick bei mir hängen geblieben. Zuerst sehe ich Überraschung in seinem Gesicht. Er hat anscheinend wirklich nicht damit gerechnet mich hier zu sehen. Doch dieser Ausdruck ändert sich bereits nach einem kleinen Moment und weicht einem Blick, den ich bei Eric noch nie gesehen habe.
Andere würden diesen Ausdruck nur als finster und wütend beschreiben. Doch ich kann auch eine Spur von Sorge, Freude und Liebe darin erkennen, obwohl der verärgerte Aspekt eindeutig überwiegt. Unwillkürlich muss ich an unsere letzte Begegnung denken. Das ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr her.
==================Rückblende (vor ungefähr 6 Monaten)==================
Ich bin heute ein bisschen früher als normal von der Schule nach Hause gekommen und habe ausnahmsweise mal keine Hausaufgaben auf. Deswegen beschließe ich für meine Mum und mich was Leckeres zu kochen. Sie muss in der letzten Zeit wieder viel arbeiten und ist häufig angespannt. Da will ich sie gern ein bisschen verwöhnen.
Mit guter Laune mache ich mich an die Arbeit und bereite ihr Lieblingsessen zu. Zwischendurch flitze ich schnell in den Keller, um eine Flasche Wein zu holen, denn zu gutem Essen bevorzugt sie ein Gläschen Wein. Ich habe nicht so viel Ahnung von Wein, also nehme ich einfach die Flasche, die am besten aussieht.
Sie kommt pünktlich nach Hause und nachdem ich sie begrüßt habe, bitte ich sie sich an den Tisch zu setzen, ich bediene sie heute und bringe ihr auch gleich das Essen und den Wein. Später sitzen wir zusammen am Tisch und endlich ist sie mal wieder gut drauf. Ihr schmeckt es sichtlich und sie lobt mich. Wir unterhalten uns seit langer Zeit wirklich gut und lachen sogar zusammen.
Auch der Wein scheint ihr sehr zu schmecken und sie fragt mich, was das für ein toller Wein ist. Glücklich darüber, dass meine Überraschung so prima geklappt hat, springe ich auf und hol die Flasche aus der Küche. Doch als sie die Flasche in meiner Hand sieht, ist die gute Stimmung augenblicklich verschwunden.
"Kind, was hast du jetzt wieder gemacht? Warum kannst du nie etwas richtig machen.", schreit sie mich an.
Mit diesen Worten steht sie auf, reißt mir die Flasche aus der Hand und geht in ihr Zimmer. Ihr Essen und das Glas lässt sie einfach stehen. Ich bleibe alleine verwirrt im Raum zurück. Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht? Im nächsten Moment renne ich los, raus aus der Wohnung, raus aus der Straße, raus aus dem Ken Gebiet. Dabei laufen mir die Tränen in Bächen über die Wangen.
Das es schon anfängt zu dämmern, ist mir dabei egal. Ich bewege mich zielstrebig auf ein halbeingefallenes leerstehendes Gebäude im Bezirk der Fraktionslosen zu. Durch das baufällige Treppenhaus gelange ich auf das Dach und setze mich an den Rand, so dass meine Beine nach unten baumeln können. Früher war ich immer mit Eric hier. Das war unser Spielplatz.
Jetzt komme ich nur noch her, wenn es mir schlecht geht, ich meine Ruhe brauche oder nachdenken möchte. Nun lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Ich versuche heraus zu finden, was ich diesmal falsch gemacht habe, doch ich bin mir keiner Schuld bewusst. Inzwischen sitze ich bereits ziemlich lange an dieser Stelle. Meine Tränen sind getrocknet und es ist auch schon dunkel. Da diese Gegend nachts nicht besonders sicher ist, beschließe ich nach Hause zu gehen.
Im Treppenhaus ist es stockfinster, sodass ich die morschen Stellen nicht sehen kann. Ich muss vorsichtig sein. Aber auf der Hälfte der Treppe verlässt mich mein Glück. Ich breche mit einem Bein durch das Holz. Genau in diesem Moment werde ich am Arm festgehalten und an eine feste Brust gedrückt. Ich will gerade um mich schlagen und los schreien, als mir ein vertrauter Geruch in die Nase steigt.
Sofort erwidere ich die Umarmung und drücke mich noch enger an meinen Retter. Obwohl er uns verlassen hat, ist er immer noch für mich da. Jedes Mal, wenn ich in Schwierigkeiten stecke, taucht er wie aus dem Nichts auf und rettet mich. Ich frage mich wirklich, wie er das macht. Wie schafft er es immer im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein.
Viel zu schnell löst er die Umarmung, dann schaut mir in die Augen und streicht mir liebevoll durch die Haare.
"Du solltest dich im Dunklen wirklich nicht hier herumtreiben." Ich habe ihn natürlich sehr vermisst, aber ich kann es nicht leiden, wenn er mir Vorschriften machen möchte.
"Das gleiche trifft auf dich zu, Eric.", werfe ich ihn an den Kopf.
Nun schaut er mich spöttisch an
"Ich bitte dich, Georgie, ich bin ein Ferox. Ich kann mich sehr gut selber verteidigen." Auch wenn ich weiß, dass es nicht stimmt, sage ich sofort.
"Das kann ich auch!"
"Achso, und wie soll das gehen? Willst du deinen Angreifer mit einem kleinen Liedchen besänftigen oder ihn dadurch abschrecken, dass du ihm ein paar hübsche Zöpfchen flechtest?"
"Ich bin doch gar nicht so, wie du mich immer hinstellst. Ich kann auch wütend werden."
"Na, das will ich erst mal sehen. Komm, ich bring dich nach Hause und in der Zeit erzählst du mir, was los ist.", meint er und geht vor.
"Warum soll was los sein?", frage ich ihn.
"Ich weiß, dass du nur hierherkommst, wenn dich etwas bedrückt. Also, erzähl. Hat es wieder mit Mum zu tun?" Woher will er jetzt eigentlich wissen, wann ich hier bin und warum ich herkomme. Manchmal ist es fast schon unheimlich, dass mich Eric so gut kennt. Das war schon immer so.
Auf dem Heimweg erzähle ich ihm alles. Irgendwann fragt er nach der Flasche Wein und ich beschreibe ihm, wie sie aussah. Jetzt weiß er auch sofort, was das Problem war. Er erklärt mir, dass Dad ihr diese Flasche zum ersten Hochzeitstag geschenkt hat und sie deswegen eine besondere Bedeutung für sie hat. Aber das wusste ich doch gar nicht. Eric nimmt mich nochmal in den Arm und redet mir tröstend zu. Das tut wirklich gut.
Wir sind jetzt fast wieder zu Hause. Das letzte Stück werde ich alleine gehen. Ich drücke ihn ein letztes Mal zum Abschied und flüstere.
"Ich vermisse dich total!"
"Ich dich auch, meine Kleine!" Dabei streichelt er mir beruhigend über den Rücken.
"Nur noch ein halbes Jahr, dann komme ich auch zu den Ferox.", sage ich mehr zu mir selbst.
Sofort drückt er mich ein Stück von sich weg, sodass er mir in die Augen schauen kann, wobei er mich weiter an den Schultern festhält.
"Du willst doch nicht wirklich zu den Ferox wechseln?", fragt er eindringlich.
"Doch, das werde ich!", davon bin ich fest überzeugt.
"Nein, daran kannst du doch nicht im Ernst denken?!"
"Eric, ich möchte dich wieder in meinem Leben haben." Warum versteht er das nicht?
"Das geht nicht. Bei den Ferox ist es zu gefährlich für dich.", seine Stimme nimmt einen harten Ton an.
"OK, ich verstehe schon, du willst deine kleine nervige Schwester nicht bei dir haben." Jetzt bin ich echt verzweifelt. Und dabei hatte ich so sehr gehofft, dass es wieder so wird, wie früher.
"Darum geht es nicht. Du gehörst nicht zu den Ferox. Dafür bist du zu schwach. Schließlich kannst du noch nicht mal einer Fliege ein Haar kümmern, aber bei den Ferox muss man kämpfen können."
"Alles klar. Ich bin schwach und muss beschützt werden. Das wird sich ab heute ändern! Ich brauche keinen Beschützer mehr, ich brauche DICH nicht mehr.", schreie ich ihn an und renne nach Hause. Jetzt hat er es wirklich geschafft. Ich bin wütend. Und mich wütend zu machen, ist wirklich sehr schwer, da hat er Recht.
Wahrscheinlich hat er auch Recht damit, dass ich zu schwach bin. Aber das werde ich ändern. Ich werde es ihm zeigen. Jetzt hat er meinen Ehrgeiz geweckt. Ab sofort werde ich trainieren und in einem halben Jahr werde ich ihm beweisen, dass ich nicht schwach bin. Dann kann er endlich aufhören, den Beschützer für mich zu spielen.
========================Ende der Rückblende=========================
Ich wusste genau, was dieser Blick mir sagen soll, dass ich seiner Meinung nach nicht hier sein sollte. Dass er mir nicht zutraut, dass ich die Initiation schaffen werde. Doch der soll noch sein blaues Wunder erleben. Inzwischen brauche ich wirklich keinen Beschützer mehr, auch wenn ich noch so aussehe. Aber das soll mir recht sein. Sollen die anderen mich alle unterschätzen.
Nun spricht er weiter, während er mich immer noch im Blick behält.
"Wenn ihr zu den Ferox wollt, gibt es nur einen Weg und der führt hier herunter.", er zeigt hinter sich in den Abgrund. Ich höre das Gemurmel der anderen. Irgendwas von "Wir sind doch gerade erst gesprungen", oder so was Ähnliches. Eric lässt sein Blick über alle schweifen und fragt: "Wer will als erster?"
Ich antworte sofort mit fester Stimme.
"Ich!" Jetzt sind alle Augen auf mich gerichtet. Ein ziemlich hässlicher Candor mit schiefer Nase kann seine Meinung nicht für sich behalten.
"Ich glaube das kleine Goldlöckchen hat sich verlaufen. Du wolltest doch bestimmt zu den Amite." Alle lachen, doch das stört mich nicht. Ich wende mich an den Typen.
"Du solltest mich lieber nicht unterschätzen, Hakennase."
Dann drehe ich mich Richtung Dachkante, renne los, springe über die Brüstung und falle in die Tiefe. Im Flug drehe ich mich noch, sodass ich jetzt nach oben schaue. Dort sehe ich Eric stehen, der mir mit einem überraschten und vielleicht sogar ein bisschen beeindruckten Blick hinter herschaut. Im nächsten Moment werde ich auch schon von einem Netz aufgefangen.
Nachdem mir ein Ferox aus dem Netz geholfen hat, fragt er nach meinem Namen. Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Georgie klingt nicht nach einer Ferox. Mein Vater hat mich früher immer 'kleiner Sonnenschein' genannt, aber das hilft mir auch nicht weiter. Oder doch?
"Sunny. Mein Name ist Sunny.", sage ich und es fühlt sich gut an.
Er verkündet laut meinen Namen und alle klatschen, als ich im nächsten Moment bereits in eine stürmische Umarmung gezogen werde.
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