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Einmal waren Liam und ich draußen. Es war schon dämmrig und wir haben ein paar Witze gemacht. Irgendwann habe ich ein Rascheln gehört, es war genau hinter uns. Liam hat bloß gelacht und meinte, es sei nur ein Tier. Ich wurde wieder ruhiger, bis es nach einigen Minuten wieder raschelte. Nun waren wir beide erschrocken. Wir standen auf, wichen ein paar Meter zurück und beobachteten das Gebüsch. Schließlich bekam ich zu viel Panik, wir liefen beide davon. Kurz bevor sich unsere Wege für diesen Abend trennten, griff Liam nach meinem Arm und sah mir in die Augen: „Sei immer vorsichtig! Vertraue niemandem, nicht einmal deinen engsten Freunden." Ich war damals belustigt von seinen Worten und weil sie ohne Kontext daher gesagt waren, hatte ich sie am nächsten Morgen vergessen. Bis heute. Heute haben sie sich bewiesen.
Härte. Sie dringt durch meine Rippen, weckt mich. Zieht mich hoch. Ein Rucken an meinen Händen. Schmerz. Und ich werde zurückgezogen. Zurück auf die harte Metallplatte. Mein Kopf schmerzt. Meine Handgelenke tun weh. Ich sehe in meinen Augenwinkeln warum. Man hat mich angekettet. Angekettet mit Metallringen. Ich hasse Liam. Härte. Sie dringt durch meine Rippen, durch jede Faser meines Körpers. Holt mich. Weckt
Ich weiß nicht, was ich hier mache. Wo ich bin. Ob hier noch jemand ist. Das letzte an was ich mich erinnere ist sein Lachen. Ein dreckiges, ekelhaftes Lachen. Danach ist alles schwarz. Erneut überkommt mich der Hass. Setzt sich in meinem Herzen fest, kontrolliert meine Gedanken. In dem Moment öffnet sich eine Tür. Ich schnelle hoch - und werde wieder zurückgerissen. Verdammte Fesseln. Weiß. Alles in diesem Raum ist weiß. Ich hasse weiß. Es ist leer und der Raum beinhaltet außer mir und der Liege nur noch eine Tür. Eine Tür, durch die nun eine mir bekannte Gestalt tritt. Er.
Schon ist der Hass wieder da und erfüllt mein Herz, meine Seele, lässt sie dunkel werden. "Hi Elly", seine Stimme hat den süffisanten Unterton von unserem letzten, wenn man es Treffen nennen kann, verloren. Stattdessen klingt sie traurig, bedauernd, schmerzerfüllt. Aber ich kann kein Mitleid empfinden. Nicht mit dem Menschen, den ich für meinen besten Freund gehalten hatte, der Mensch, der mir etwas mehr bedeutete als alle anderen. Zu viel hat er mir angetan, mein Vertrauen missbraucht, mich verletzt. Nein, Mitleid, empfinde ich definitiv nicht.
"Verschwinde", ich schreie nicht, ich flüstere leise, ganz leise. Verzweifelt sieht er mich an. "Ich...ich kann nichts dafür", stammelt er. "Ich wurde gezwungen." Genau. Deshalb fand er meine Hilferufe auch so amüsant. Ich kaufe es ihm nicht ab. "Verschwinde und tritt mir nie wieder unter die Augen", meine Stimme ist nun deutlicher, klarer. "Ich glaube nicht, dass unsere Zusammenarbeit in Zukunft vermeidbar wird. Von nun an gehörst du zu uns. SIE sind unsere Erschaffer, unsere Existenz, unsere Zukunft und Vergangenheit. Unsere Gegenwart. Du bist von jetzt an ein Eigentum von ihnen. Genau wie ich schon seit langer Zeit." Moment. Das muss ich aber erstmal verarbeiten. Wer zum Teufel sind sie? Und wieso gehöre ich ihnen? Ich gehöre niemandem. Ich bin ein freier Mensch. Meiner Meinung nach. Doch die scheint ja keinen zu interessieren.
Schließlich bringe ich es über mich und frage Liam:" Wer sind SIE? Erkläre es mir! Ich will wissen, was ich hier mache, wann ich gehen kann und wieso du auch wieder deine Finger mit im Spiel hast. Sag. Es. Mir. Sofort. Und binde mich los." Der letzte rutscht mir raus, als ich wieder den stechenden Schmerz in meinem Handgelenk verspüre. Nein, ich möchte nicht der Besitz von den widerwärtigen Leuten sein, die mich hierhergebracht haben. "Ok." Er seufzt. "Ok, ich erzähle dir alles. Aber halte mich nicht für verrückt." "Warum sollte ich?", murmelte ich sarkastisch. Er übergeht die Bemerkung. Dann beginnt er zu Sprechen.
"Zuerst einmal: Nein. Ich kann dich nicht losmachen. Dazu bin ich nicht befugt. Jedoch bin ich mir sicher, dass du auch so förmlich an meinen Lippen hängen wirst." Ein Hauch von einem Lächeln fliegt über sein Gesicht. Ein Hauch von einem echten Lächeln, doch sofort verschwindet es wieder. "Wie du weißt, haben die meisten Menschen Träume. Auch du. Diese Träume kommen nicht von irgendwoher. Sie kommen aus deinem Unterbewusstsein. So sagt man es jedenfalls und so wird es den Menschen auch eingepflanzt. Aber es gibt eine Organisation auf der Welt. Sie existiert seit dem Beginn der Menschheit. Die Aufgabe dieser Organisation ist es, die Träume der Menschen zu überwachen. Jeder Mensch hat eine Person an seiner Seite, sogenannte Wächter. Sie kennen dich, meistens mehr als dir bewusst ist. Sie leiten Informationen aus deinem Leben an die Erschaffer weiter. Die Erschaffer sind dafür zuständig, deine Träume zu konstruieren. Sie passen sie an und oft nimmt der Wächter eine Gestalt im Traum an, um ihn zu überwachen. Die Wächter sind vertraut mit deinen privatesten Gedanken, sie sind durch ein Serum verbunden mit deinem Unterbewusstsein." Er holt tief Luft, bevor er weiterspricht: "Ich kenne dich Elly. Ich kenne dich mehr als du dich selbst. Ich bin dein Wächter."
Das Lachen sprudelt aus mir heraus. Ich kann nichts dagegen tun. "Wow. Und bei der Geschichte soll ich dich nicht für verrückt halten?" Wäre ich nicht festgebunden, würde ich mich nun auf dem Boden wälzen vor Lachen. Ein wütender Ausdruck tritt in sein Gesicht: "Das ist verdammt noch mal kein Spaß, Elly! Du bist in ernsthafter Gefahr, wenn du nicht mit ihnen zusammenarbeitest. Genau wie die Menschen, die dir etwas bedeuten. Hör auf herumzualbern! Das hier ist kein Traum, es ist die Realität. Kapier das." Ich weiß nicht, ob es an seinen Worten oder an seinem Ausdruck liegt, aber ich verstumme augenblicklich. Was wenn es wirklich stimmt? Wenn nicht ich die Besitzerin meiner Träume bin, sondern jemand anders? Und was ist, wenn Liam wirklich ein sogenannter Wächter ist? Mein Wächter. Es würde bedeuten, dass er mich kennt. Sehr gut. Zu gut. Besser als ich mich selbst. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Rücken aus. Es gibt Dinge, die ich nicht teilen möchte. Schon gar nicht mit Liam. Geheimnisse über mich, über ihn. Eine schreckliche Vorstellung, er wisse alle. Auf einmal komme ich mir hilflos vor, klein, verlassen. Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich wispere: „Ich will nach Hause. Bring mich nach Hause Liam. Bitte!" Eine erste Träne kullert meine Wange hinunter. In seinem Gesicht kann ich Mitleid und Sorge ablesen. Echte Sorge. Er kommt näher, sodass er direkt an meiner Seite steht. Dann streicht er mit seiner rechten Hand mein Haar zur Seite. Ich bin mir sicher, würde es mir besser gehen und wäre ich dazu imstande, meine Hände zu bewegen, würde ich ihm für diese Geste eine klatschen. Aber, auch wenn ich es nicht gerne zugebe, beruhigt seine Anwesenheit, seine Berührung mich. Ich gebe es nicht gerne zu, doch ich brauche ihn. Egal was passiert, ich brauche Liam.
"Ich kann dich nicht nach Hause bringen", flüstert er und irgendwie wusste ich seine Antwort schon. "Du weißt nicht, wie gerne ich es tun würde. Aber ich kann nicht." "Meine Schwester macht sich bestimmt Sorgen", sage ich und drehe meinen Kopf zu ihm hin. Ein verschmitztes Lächeln huscht über sein Gesicht. Aus seiner Hosentasche zieht er ein Handy. Mein Handy. Sie wünscht dir viel Spaß bei der Übernachtungsparty deiner Freundin." Er zwinkert mir zu und lässt das Handy zurück in die Hosentasche gleiten. "Ich hasse dich Liam" Der Satz rutscht mir heraus und ich weiß nicht, ob ich ihn ernst oder nicht ernst meine. Doch er weiß es. "Nein", antwortet er, "du hasst mich nicht."
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