5

Das ganze Wochenende über verbringe ich mit meiner Schwester. Wir gehen shoppen, essen im Restaurant und schauen uns schnulzige Liebesfilme an. Wir beide merken, wie schön es doch ist eine Schwester zu haben. Dennoch kann ich trotz diesem wundervollen Wochenende meinen Traum nicht vergessen. Ich habe Liams kalte Seite erlebt, vielleicht seine echte, verborgene Seite. Ich weiß es nicht. Umso gespannter bin ich auf Montagmorgen. Wie wird er sich mir gegenüber verhalten? Normal, wie vor unserem Streit, abweisend wie letzte Woche oder selbstherrlich, kalt, wie in meinem Traum? Meine Spannung steigt von Minute zu Minute, beim Duschen, beim Frühstück und beim Zähne putzen danach. Zu meiner Überraschung klingelt es um zwanzig vor acht an der Tür. Meine Schwester öffnet sie, als ich gerade die Treppe hinunterkomme. Es ist Liam. Und er klingt...fröhlich. Nur meine Schwester zeigt keinerlei Gefühlsregung in ihrem Gespräch mit ihm. Ich habe ihr von seinem komischen Verhalten erzählt und sie steht auf meiner Seite. Allerdings habe ich bei meiner Erzählung die Träume weggelassen. Irgendwas sagt mir, dass sie besser nichts davon wissen soll. Liams Stimme stockt kurz, als ich an die Tür komme. Doch dann redet er unbeirrt fröhlich weiter. Zu fröhlich. Demonstrativ umarme ich Livia. "ICH gehe dann mal zum Bus." Damit schreite ich nach draußen, ohne Liam auch nur zu beachten. Soll er doch so tun, als hätte die letzte Woche nicht existiert. In meinen Augen gibt es sie immer noch. Ich höre noch unsere Tür ins Schloss fallen, dann Schritte, die immer schneller werden. "Hi." Er ist neben mir aufgetaucht. "Hi", sage ich nach einiger Zeit zu ihm, dennoch, ohne in seine Richtung zu schauen. Ich beschleunige meine Schritte. Er auch. Verdammt. "Es tut mir leid. Wegen letzter Woche. Das ich dich ignoriert habe. Und dir nicht geglaubt habe. Ich kann es dir nun erklären. SIE haben es mir erlaubt." Schon wieder SIE. Wer sind SIE? Liam antwortet, als könne meine Gedanken lesen: "Du willst wissen wer sie sind, ich weiß. Aber ich kann es dir nicht erklären. Nicht hier. Wir treffen uns nach der Schule bei dir, sorg dafür, dass deine Schwester nicht da ist. Die können wir am Wenigsten gebrauchen." Geht's noch? Was bildet er sich ein wer er ist? Nicht nur dass er ein Treffen festlegt, nein, er will auch meine Schwester rausschmeißen. Das geht mir zu weit. "Nein", sage ich mit festem Ton. "Nein?", fragt er verwundert. "Ja, du hast richtig gehört. NEIN! Ich möchte nicht!" "Das ist mir egal! Und ihnen ist es auch egal! Die machen kurzen Prozess mit dir", knurrt er und packt mich am Arm. Ich zucke zusammen. Wie viel Uhr haben wir eigentlich? Und wieso ist hier kein anderer in der Nähe? Den Bus haben wir bestimmt verpasst. Wir müssen in die Schule. Ich hoffe Liam weiß das auch. "Du hast die Wahl. Mit ihnen oder gegen sie. Entscheidest du dich für Ersteres, ist alles gut. Doch entscheidest du dich gegen sie, werden sie nicht Ruhe geben, bis du tot bist." Seine Stimme klingt ernst und vollkommen aufrichtig. "Du weißt zu viel!" Zu viel? Ich weiß gar nichts. Warte, nicht ganz. Diese Träume! Es hat alles mit diesen grässlichen Träumen zu tun. "Bist du gegen sie, ist ihnen egal wie du stirbst, wie viel du leiden musst. Nur mir ist das nicht egal", in seiner Stimme liegt jetzt etwas Zärtliches, "also entscheide dich für sie." In diesem Moment geschieht etwas Verrücktes. Er beugt sich zu mir hinab. Und auf einmal küsst er mich. Liam küsst mich! Ganz vorsichtig, so als hätte er Angst mir wehzutun. Doch dann reiße ich mich los. Und Wut keimt in mir auf. "Was fällt dir ein? Was fällt dir ein mich einfach zu küssen?", meine Stimme wird lauter, hysterischer, ja ich brülle ihn an. "Aber..." Erschrocken von meiner Reaktion steht Liam da. Ich schneide ihm das Wort ab: "Du Idiot! Wieso machst du das? Erst ignorierst du mich komplett und von einem Tag zum anderen willst du wieder mein bester Freund sein? Und küsst mich?!" So laut habe ich in meinem Leben noch nicht geschrien. "Ich denke es ist besser, wenn wir erstmal getrennte Wege gehen", diesen letzten Satz stoße ich noch hervor, doch ich flüstere ihn mehr. Auf dem Absatz drehe ich mich um und mache mich zu Fuß auf den Weg zur Schule. Liams Rufe verbanne ich aus meinem Gehör.

Ich bekomme die nächsten Tage nicht mehr viel von Liam mit. Manchmal, wenn wir uns im Schulflur begegnen, wirft er mir traurige Blicke zu. Geflissentlich ignoriere ich diese. Jetzt weiß er, wie ich mich letzte Woche gefühlt habe. Freitags haben wir eine Stunde weniger Unterricht, ein Lehrer ist krank geworden und nach ein paar Trödeleien verlasse ich den Schulhof. Wie meistens nehme ich eine Abkürzung, ein kleines Stück am Feld entlang, welches mir heute noch einsamer vorkommt als sonst. Es fällt mir schwer, es einzugestehen, aber ich vermisse Liams Lachen, seine ganze Art. Nun ja, im Grunde bin ich selber schuld, aber ich rede mir ein, dass Liam es verdient hat. Auf einer kleinen Bank setze ich mich hin, stelle meinen Rucksack ab und blicke in die Ferne. Was Liam wohl gerade macht? Ich habe keine Ahnung. Entspannt lehne ich mich nach hinten und genieße die Ruhe, die Ruhe vor dem Alltag. Auf einmal ertönt hinter mir aus dem Busch ein Knacken. Das Brechen eines Zweiges. Unwillkürlich fahre ich herum und blicke in das Gesicht einer Gestalt. Vor Schreck springe ich einige Schritte zurück und sofort ist die Person bei mir. Ich möchte schreien, aber eine Hand legt sich auf meinen Mund. Mein Traum. Alles wie in meinem Traum. Ich strampele und trete mit Füßen und Händen um mich, jedoch hat die Person mich fest gepackt. Mir gelingt es nur noch, die Maske vom Gesicht zu reißen, dann packt er meine Hände und dreht sie hinten auf meinen Rücken. Dadurch wird mein Mund wieder frei und ich beginne zu schreien. Vor Angst und vor Schmerz. Die Gestalt lacht. Ein hässliches Lachen, dass ich nur mit Mühe zuordnen kann, weil es bei ihm noch nie gehört habe. Liam. Wie in meinem Traum. Langsam habe ich echt genug. Wieso immer er? Wieso immer er, der mich enttäuscht? Wieso nicht jemand Anderes? "Ich habe dir vertraut", schreie ich. Ich sehe sein Gesicht nicht, da er mich auf den Boden drückt und meine Hände bei meinen Worten noch mehr verdreht. Mit Mühe unterdrücke ich einen Schrei. Nicht vor Liam. Ich werde mich nicht wie ein Verlierer vor meinem ehemaligen besten Freund aufgeben. Einzig und allein eine Träne kullert lautlos meine Wange hinunter. Dennoch bemerkt Liam sie und fängt sie mit seinem Finger auf. Er beugt sich zu mir hinab: "Na Prinzessin, ich habe dir gesagt du sollst dich für SIE entscheiden. Jetzt hast du die Konsequenzen. " Ich kann mir vorstellen, wie er grinst und ich schaudere. "Es reicht Liam", eine mir unbekannte Frauenstimme meldet sich zu Wort. Sie muss gerade erst gekommen sein, denn ich kann erst jetzt ihren Atem hören. Ich wimmere. Liam lässt mich aufsetzen, hält aber weiterhin meine Hände fest. Nun sehe ich die Frau. Sie ist etwas älter als Liam und ich, hat ihren langen, blonden Haare zu einem Dutt hochgesteckt. Ihre Augen sind in einem Grauton und ich schätze sie auf 1, 75 Meter. "Elly, wir müssen dich mitnehmen. Ergibst du dich freiwillig?" In ihrer Stimme liegen keine Emotionen, sie hat einen sachlichen Ton angenommen. Wäre ich allein mit dieser Frau, würde ich ja sagen. Ich würde mich ergeben. Soll sie mich doch hinbringen, wo sie will. Jedoch angesichts der Tatsache, dass Liam da ist, habe ich nicht die geringste Lust mich zu ergeben und damit ihn kampflos gewinnen zu lassen. „Niemals" zische ich daher. "Wie du willst. Wir haben unsere Wege und Möglichkeiten", erwidert die Blondine, immer noch in einem sachlichen Tonfall. Sie wendet sich ab und greift in eine kleine Tasche, die etwas weiter von uns entfernt steht. Heraus holt sie eine kleine, weiße Spritze. "Du weißt was zu tun ist", sagt sie an Liam gewandt. In meinen Augenwinkeln sehe ich wie er nickt und auf einmal drückt er mit einer Hand meinen Kopf auf Seite und entblößt meinen Hals. Schnurstracks kommt die Frau auf uns zugelaufen, die Spritze gezückt. Moment. Sie hat vor mir etwas in den Körper zu spritzen? Vielleicht Gift, Betäubungsmittel oder irgendwas Anderes? Nein. Nein, das lasse ich mir nicht gefallen. Ruckartig fahre ich hoch und ramme mit meinem Kopf den von Liam. Das hat er nicht kommen sehen und für eine Sekunde ist er überrascht. Diese Sekunde nutze ich aus. Ich reiße meine Hände los und will mit meinem Fuß zwischen seine Beine treten, aber zu meinem Pech rutsche ich weg und falle auf den Boden. Hastig rappele ich mich auf, doch da ist er schon wieder bei mir, packt meine Beine und bringt mich zum Fall. Jetzt schreie ich. So laut wie es gut. Zu dumm nur, dass mich hier niemand hören kann. Verfluchte Abkürzung. Während ich mich weiter wehre, erhaschen ich einen Blick auf die Blondine. Sie steht gelassen da, ganz als wüsste sie, dass ich eh keine Chance habe. Habe ich auch nicht. Nach wenigen Augenblicken drückt Liam meinen Körper mit seinem Gewicht nach unten. Mit seiner Hand drückt er meinen Kopf auf den Boden und zum wiederholten Mal wird mein Hals entblößt. Ich bin geliefert. Livia. Ich möchte zu Livia. Erfolglos möchte ich ein Aufschluchzen unterdrücken. Und plötzlich, ohne dass ich etwas tun kann, fährt der Schmerz durch meinen Hals. Ich schreie. Die Spritze. Die Flüssigkeit fließt nun durch meine Adern. Benommen nehme ich noch Liams leises Lachen wahr, er lässt meinen Kopf los und beugt sich zu meinem Ohr. "Schlaf gut Prinzessin", flüstert er. Die Welt verschwimmt immer mehr vor meinen Augen, aber für diese Worte habe ich noch genug Kraft: "Ich hasse dich Liam. Du bist der schlimmste Mensch, dem ich je begegnet bin." Ich spreche leise, da die Flüssigkeit mich benebelt, mich aus der Gegenwart reißen will. Nach diesen Worten fallen mir die Augen zu und ich höre nur noch, wie Liams Lachen nach meinen Worten verstummt.

Ich mag Liam nicht.

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