22
Mein Atem geht schnell, mein Blick huscht umher. Kurz sehe ich seine blauen Augen an mir vorbeiziehen. Ich will hinterher, ich möchte ihnen folgen, möchte zu ihm. Meine Beine jedoch bewegen sich keinen Millimeter vorwärts.
„Elly", flüstert eine vertraute Stimme. Ich fahre herum und ein breites Grinsen liegt auf seinen Lippen, in seinen Augen liegt ein bedrohliches Funkeln. Ich will weg von ihm, mein Instinkt sagt es mir. Ich muss weg. Aber ich kann nicht. Etwas hält mich gefangen, gefangen zusammen mit ihm. Es fühlt sich falsch an, einfach nur falsch. Ich verabscheue dieses Gefühl.
„Elly", er spricht meinen Namen erneut aus, diesmal lauter, „du kannst nicht weg."
Ich weiß, möchte ich erwidern, nur kein Wort kommt aus meinem Mund hinaus. Und ich spüre, er hat Recht, ich komme hier nicht weg. Niemals. Nicht von ihm. Langsam beginnt sein Bild, die Welt um ihn herum zu verschwimmen, die Farben verlieren sich ineinander, sein Lächeln, seine Augen, sein Körper, alles löst sich auf. Die Farben verschmelzen miteinander, bis ich vollkommen von der Dunkelheit umgeben bin.
Ich will um Hilfe schreien, mit einem Mal jedoch wird der Boden unter meinen Füßen weggerissen und ich stürze in die Tiefe.
Keuchend fahre ich hoch und spüre augenblicklich einen Schmerz in meinem Rücken. Insgesamt tut fast alles an einem Körper weh, wenn auch nicht doll. Was war nochmal passiert?
In Gedanken rechne ich zurück.
Mein Handy hat mich mitten in der Nacht geweckt. Dann das Klopfen an der Tür und- Liam.
Hektisch schaue ich herum, versuche ihn in der Dunkelheit auszumachen. Vergeblich, ich sehe ihn nicht. Auf einmal allerdings höre ich seinen Atem. Er ist nah an meinem Ohr dran, langsam, gleichmäßig. Er schläft noch. Kurz lausche ich seinem Atem, schließe auch meine Augen nochmal und spüre, wie sich mein Körper entspannt.
Den Schmerz am Rücken nehme ich nicht wirklich wahr, ich nehme überhaupt nichts mehr war außer seinen und meinen Atem. Es ist beruhigend, fast fühlt es sich an wie...Zuhause.
Was? Ich reiße meine Augen auf. Was ist nur mit mir los? Es ist Liam, über den ich hier spreche. Liam. Der, der mich hintergangen hat. Derjenige, der mir Lügen und wieder Lügen erzählt.
Der, der nun friedlich wirkt. Zerbrechlich, jung. Er ist auch ein Mensch. Nur ein Junge. Und wer weiß, was er für die Organisation aufgeben musste.
Vorsichtig stehe ich auf und knipse die Lampe an. Ein schummriges licht erhellt den Raum, nun sehe ich auch Liam.
Er liegt zusammengerollt auf dem Boden, sein Arm ist ausgestreckt und liegt nah an dem Platz, wo ich bis eben noch gelegen habe. Seine Fingerspitzen streifen die Teppichfransen, eine Strähne seines Haares ist ihm ins Gesicht gefallen. Als ich die kleine Lampe anschalte, brummelt er leise, schläft aber weiter.
Ich denke nicht nach, sondern hocke mich auf den Boden neben ihn. Seine Gesichtszüge sind entspannt, seine Augen geschlossen. Sein Mund ist leicht geöffnet und was bei anderen dämlich aussähe, lässt ihn sanft aussehen. Ich begreife nicht, was mit mir passiert, als ich meine Hand langsam ausstrecke und sein Gesicht berühre.
Seine Haut ist weich, er wirkt wie ein kleiner Junge, den man in den Körper eines Mannes gesteckt hat. Zerbrechlich, klein.
Vorsichtig bewegen sich meine Finger zu seinen Haare und ich streiche mit einer sachten Bewegung die Strähne aus seinem Gesicht.
Ich würde ihn gerne länger so betrachten, eine Seite von ihm beobachten, die er der Welt nicht zeigt. Mitleid. Ich empfinde Mitleid mit ihm. Es ist ein Reflex, ein Gefühl, dass in mir aufflammt. Es ist falsch, so falsch von mir.
Und als Liam sich beginnt zu bewegen, ein Stöhnen seinen Lippen entweicht, ziehe ich meine Hand schnell zurück.
Verdammt, was tue ich hier bloß. Hastig stehe ich auf, trete einige Schritte von ihm weg und ohne weiter darüber nachzudenken, öffne ich die Tür zu meinem Zimmer und verlasse den Raum.
Ich gehe ins Badezimmer, schließe die Tür und halte inne, als meine Augen die meines Spiegelbildes treffen. Diese Version von mir sieht erschöpft aus, müde. Dennoch liegt etwas an ihr, an der Art, wie sie mich betrachtet. Abschätzend. Abwertend. Und sie hat Recht.
Was ist da gerade passiert? Habe ich wirklich sein Gesicht berührt, seinem Atem gelauscht, seine Haare zurückgestrichen?
Hast du, Elly. Und du bereust es nicht, flüstert diese verräterische, leise Stimme in meinem Kopf.
Ich verfluche sie, auch wenn ich ihr gerne vertrauen würde. Ich würde ihm gerne vertrauen, so wie früher. Doch es geht nicht. Er hat mein Vertrauen zu ihm zerstört, hat es zerrissen, so leicht und unbekümmert wie ein Stück Papier. Nur Fetzen bleiben übrig, kleine Fetzen, die viel zu schnell verloren gehen anstatt man das Blatt wieder zusammenfügen könnte.
Es ist vorbei. Was auch immer wir je hatten, Freundschaft, etwas mehr, es ist vorbei.
Schluss. Aus. Ende.
Ich darf mich nicht immer von meinen Gefühlen überwältigen lassen, nicht in seiner Nähe.
Und dann gibt es auch noch Lucas. Was ist mit ihm? Was bedeutet er mir? Fragen über Fragen, Gefühle, die ich nicht kontrollieren habe. Gefühle, vor denen ich vielleicht auch ein wenig Angst habe. Ich will mich nicht mit ihnen beschäftigen, ich möchte mich nicht entscheiden.
Vermutlich ist es einfacher, sie erstmal auf Seite zu schieben. Es gibt wichtigere Dinge.
Die Geheimnisse der Organisation, Maeva.
Da fällt mir mit einem Schlag etwas ein. Liam war hier, um Maeva zu holen. Liam gilt als die rechte Hand von Theresa Evans. Liam ist in meinem Zimmer, ist zu mir gekommen, als er Hilfe brauchte. Er hat mein Vertrauen missbraucht, wieso schlage ich nicht zurück.
Mit seiner Hilfe kann ich an Maeva herankommen, mit seiner Hilfe kann ich meinen Hunger nach Antworten stillen. Ich muss nur nett sein, mich einschleimen bei ihm. Es könnte funktionieren, es könnte wirklich funktionieren.
Tu das nicht. Du hast ihn gerade gesehen, du hast ihn als zerbrechlich beschrieben. Er hatte Angst heute Nacht, er ist zu dir gekommen, weil er sich sicher fühlt.
Oh, wie ich diese Stimme verfluchen könnte. Dennoch halte ich inne, denke darüber nach.
Es stimmt. Er ist heute zu mir gekommen, als es ihm nicht gut ging, als die Furcht ihm ins Gesicht geschrieben stand. Er vertraut mir. Und genau das könnte ich ausnutzen.
Schließlich hat er das auch getan.
Aber bin ich wirklich so wie er? Kann ich ihn wirklich so benutzen?
...
Er schaut ihr hinterher, als sie den Raum hastig verlässt. Sie hat es nicht bemerkt, wie er durch die Hand an seiner Wange aufgewacht ist. Zum Glück für ihn. Wieder dachte er daran zurück, wie sie ihn gestern Abend angesehen hatte.
Die Haare zerzaust, diesen lächerlichen Schlafanzug an, ihr Blick genervt.
Aber er hat es gesehen, er hat die Sorge um ihn in ihren Augen gesehen in dem Moment, wo ihre Finger seine Wunden berührten. Immer noch spürte er ihre Finger auf seiner Haut, sanft, vorsichtig.
Woher die Kratzer kommen, kann er ihr nicht sagen. Er würde es ihr sagen, sofort, wäre es ihm nur möglich wäre. Alles würde er ihr sagen, jedes Geheimnis, jede Schwäche der Organisation. Doch es geht einfach nicht. Nicht, wenn sie in Sicherheit bleiben soll. Vielleicht hatte er sich nicht retten können, sie aber würde er ihnen unter keinen Umständen überlassen, egal, was von ihm verlangt wurde, egal, wie sehr er ihr Vertrauen missbrauchen würde.
Es ist besser, dass sie ihn hasst, sagt er sich, so bleibt sie jedenfalls von ihm fern. Besser so. Auch wenn es wehtut, den unverkennbaren Hass in ihren Augen zu sehen, sobald ihre Augen auf ihm liegen. Vielleicht hat diese Nacht etwas geändert. Vielleicht hat sie gesehen, was er wirklich war.
Schnell steht er auf, sobald er Geräusche auf dem Flur hört. Nur wenige Augenblicke später öffnet sich die Tür und sie kommt herein. Er ringt sich ein Lächeln ab, versucht, es so echt wie möglich aussehen zu lassen.
Sie verdreht ihre Augen, tritt dann näher an ihn heran, bis sich ihre Körper fast berühren.
Die ungewohnte Nähe macht ihn nervös, er muss schlucken.
„Du kannst dankbar sein Liam", ihre Stimme durchschneidet die Stille.
„Du kannst dankbar sein, dass ich nicht so bin wie du."
Sie dreht sich um und verlässt den Raum, lässt ihn in ihrem Zimmer zurück.
Er steht da, verwirrt, lässt die Worte auf sich wirken.
Was meinte sie damit?
Was haltet ihr von Liam? :)
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