16
Als ich am nächsten Tag wieder in die Schule gehe, fällt es mir jeder Schritt schwer. Jedes gelangweilte Gesicht erinnert mich an ihr verängstigtes Gesicht, jede Stimme an ihre. Es passt mir nicht, wieder in die Normalität zurückzukehren. So als wäre gestern nichts weiter geschehen. Nein, ich kann und werde es auch nicht. Entschlossen blicke ich den Schulflur entlang und wie auf ein Zeichen biegt er um die Ecke. Zusammen mit ein paar Freunden kommt er lässig auf mich zu. Von Nahem jedoch erkenne ich die tiefen Ringe unter seinen leblosen Augen und sein gezwungenes Lächeln. Wirklich, ich weiß nicht, ob ich diesen Typen hassen oder Mitleid mit ihm haben soll.
Wir nicken uns kurz zu, beide die Szene von gestern im Hinterkopf. Ich beobachte, wie er weitergeht und ein kleines Lächeln erscheint auf meinem Gesicht. Ich werde es hinkriegen. Ich werde ihn dazu bringen, mich zu Maeva zu führen.
Immer noch auf ihn fokussiert, merke ich nicht, wie er von hinten kommt. Erst als ich seine Stimme an meinem Ohr wahrnehme, fahre ich erschrocken herum-und könnte mich wieder stundenlang in seinen wunderschönen Augen verlieren. Doch noch rechtzeitig bevor er es bemerkt, zwinge ich mich selber wegzuschauen. "Lang nicht gesehen. Alles gut?", fragt er mich. Seine Augen glänzen, er strahlt die Fröhlichkeit aus, die mir heute fehlt. Vielleicht kann ich mich ja von ihm anstecken lassen. Ich ringe mir ein Lächeln ab, was mir in seiner Gegenwart noch schwerer fällt. Schließlich habe ich gestern seine angeblich verschwunde beste Freundin Maeva kennengelernt und hatte nicht nur Mitleid für sie übrig. Zu genau kann ich mich an die stechende Eifersucht erinnern, die bei der Erwähnung seines Namens aus ihrem Mund mein Herz zu zersplittern schien.
"Ja", lüge ich, "alles gut. Und bei dir?" Er schenkt mir ein schiefes Lächeln und ich schmelze dahin wie ein Schneemann in der Sonne. Ernsthaft, in seiner Gegenwart begreife ich nicht, was in meinem Körper vorgeht. Vielleicht ist es auch besser so.
"Ja, alles gut. Hast du heute Nachmittag Zeit?" Schon traurig, wie ich bei diesem Satz meine Sorgen vergesse. Als wäre mit dieser einfachen, kurzen Frage die Welt wieder in Ordnung. Vielleicht ist sie das auch, jedenfalls für diesen kurzen Moment. Also lasse ich mich darauf ein und antworte: "Ja, ich habe noch nichts vor." "Cool. Dann nach der Schule bei dir." Sein Lächeln wird breiter. Ohne auf meine ohnehin eindeutige Antwort zu warten, zwinkert er mir zu und verschwindet in der Schülermasse. Eins ist klar. Heute Nachmittag werde ich nicht an Maeva oder Liam denken. Davor jedoch kommt habe ich Schule. Und muss versuchen, alles Mögliche aus Liam raus zu quetschen.
Der Wind spielt mit meinen Haaren, als ich das Schulgebäude in der Pause verlasse und auf den Hof komme. Meine Augen fliegen über den Schulhof, aber ich kann ihn nicht sehen. Deshalb umrunde ich das Gebäude zur Hälfte, in der Hoffnung, ihn mit seinen Freunden hinter der Schule zu treffen. Und ich habe Glück. Dort steht er und ich höre sein schallendes Lachen. Ohne mir Zeit zum Zweifeln zu geben, mache ich mich auf den Weg zu ihm. Mit einem Mal flüstert sein Freund ihm etwas zu und er dreht den Kopf ruckartig zu mir herum. Seine Augen verdunkeln sich, er nickt dem hochgewachsenen Jungen neben ihm zu, dann kommt er in einem lässigen Gang auf mich zu. Ich bleibe stehen und verschränke die Arme vor der Brust. Sobald er bei mir ist, beugt er sich zu mir herab.
"Was willst du, Elly?", fragt er mich mit leiser Stimme. "Ich will deine Hilfe", antworte ich und muss nicht weitersprechen. Er weiß genau, was ich meine und schüttelt entschlossen den Kopf: "Glaubst du, ich mache es zum Spaß? Glaubst du, ich hole dieses Mädchen zurück, weil ich gerade Lust darauf habe? Nein, Elly, ich habe eine Pflicht. Eine Pflicht gegenüber der Organisation, die ich erfüllen muss. Ich tue so Sachen nicht gerne, ich hasse es. Aber ich glaube an die Ziele der Organisation. Auch wenn ich ihre Vorgehensweise oft verabscheue. Doch: Man muss Opfer bringen, um zu gewinnen." Da ist noch etwas. Ich kann es spüren. Es liegt auf seinen Lippen, ihm fehlt jedoch der Mut es auszusprechen. Vielleicht vertue ich mich auch. Wer weiß. Aber ich kann seinen Blick, seine Augen gestern nicht vergessen. Es lag Trauer, Abschaum gegenüber der Organisation in ihnen. Er versteckt etwas vor mir. Ein Geheimnis, welches Leben retten könnte. Also rede ich weiter auf ihn ein:
"Es muss niemand wissen. Du könntest mir sagen, wo sie ist oder es herausfinden und mit mir zusammen befreien! Wir könnten sie verstecken, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Du könntest ihr Leben retten!" Er lacht kurz auf, ein sarkastisches Lachen: "Kapier es endlich, Elly. Du kriegst kein Happy End, nur weil du es willst. Das ist kein Märchen oder eine Geschichte, dass ist die Realität. Ich könnte dir sagen, wo sie ist, aber was dann? Ich würde nicht mit dir gehen und Maeva befreien. Das Risiko ist zu hoch. Du kennst Maeva nicht. Was ist, wenn nicht die Organisation, sondern sie die Böse ist. Denk doch mal nach!" Es stimmt, was er sagt. Ich kenne dieses Mädchen nicht. Ich war oder bin eifersüchtig auf sie. Dennoch, sie war eine Freundin von Lucas, eine Freundin von Zoe. Ich vertraue den zweien. Mehr als der Organisation. Viel mehr. So vertraue ich auch Maeva. Und wenn ich an die Angst in ihren dunkelblauen Augen denke, habe ich das Verlangen, sie zu retten und ihr zu helfen.
So als könne Liam meine Gedanken lesen, runzelt er die Stirn und flüstert mit bedrohlich leiser Stimme: "Ich kann und werde dir nicht helfen. Tut mir leid. Aber ich warne dich. Pass auf, was du sagst. Vertraue nicht jedem. Die abwertenden Sachen, die man über die Organisation sagt, sind schneller als man denkt bei ihr. " Sprachlos stehe ich da, während er mir nur zu zwinkert und wieder zurück zu seinen Freunden geht. Wie erstarrt bleibe ich zurück. Hat er mir gerade etwa gedroht? Oder hat er mich gewarnt? Womöglich vor sich? Eins ist klar: Ab jetzt muss ich vorsichtiger mit meinen Worten umgehen.
Lucas steht schon am Schultor, als ich am Nachmittag das Gebäude verlasse. Immer noch ein wenig durch den Wind von meinem Gespräch mit Liam, laufe ich auf ihn zu. Zur Begrüßung schenkt er mir ein umwerfendes Lächeln und schnell schiebe ich die Geschehnisse von gestern und heute Vormittag in den Hintergrund. Gemeinsam fahren wir mit dem Bus zu mir nach Hause, dabei herrscht eine angenehme Stille, gegen die ich nichts einzuwenden habe. Bei mir Zuhause angekommen, öffnet Livia uns die Tür. Bei dem Anblick von Lucas sieht sie mich fragend an und zieht eine Augenbraue hoch. Dann lächelt sie mir verschwörerisch zu und tritt zur Seite, um uns hereinzulassen. In meinem Zimmer angekommen, schließe ich die Tür und Lucas beginnt zu sprechen:
"Deine Schwester denkt, wir wären ein Paar" Also hat er ihren Blick bemerkt. Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt und wette, ich mache jeder Tomate Konkurrenz. Ein peinlich berührtes "Oh" ist das Einzige, was aus meinem Mund kommt. Er grinst mich an: "Wäre es denn so schlimm?" Nein. Wäre es nicht. Doch anstatt das zu sagen, erwidere ich nur: "Wir kennen uns noch nicht lange." "Oh. Kann sein" Bilde ich es mir ein und huscht da ein Anflug der Enttäuschung über sein Gesicht? Ehe ich jedoch sicher sein kann, ist da wieder nur dieses Lächeln und wir beide schauen uns eine Weile peinlich berührt an. Er ganz normal, während ich damit kämpfe, nicht in seinen blauen Augen, die dem Ozean so ähneln, zu versinken. Endlich unterbricht er erneut das Schweigen.
"Wo sind eigentlich deine Eltern?", fragt er mich. Ich verlasse das Wasser und rette mich zurück ans Ufer, gerade noch rechtzeitig. "Meine Eltern..." Gute Frage. Ich bemerke, ich weiß selbst nicht genau, wo sie gerade sind. Meine Mutter hatte von einem Problem in Bezug auf meinen Vater gesprochen. Anscheinend zieht es sich doch länger. "Meine Eltern sind auf einer...Geschäftsreise", erkläre ich ihm daher lächelnd. Er nickt kurz. Ich setze mich auf den Boden und bedeute ihm mit meinem Kopf, dass gleiche zu tun. Wir sitzen da, an die Wand gelehnt, näher als sonst nebeneinander und schließlich fordere ich ihn auf: "Erzähl mir etwas von dir. " Belustigt sieht er mich an, fängt jedoch an zu sprechen:
"Als ich jünger war, waren Maeva und ich oft draußen. Wir haben damals ländlicher gelebt und in der Nähe von meinem Haus war ein kleines Waldstück, indem wir die Sommertage verbracht haben. Von morgens bis abends waren wir dort, doch ich erinnere mich besonders an einen dieser Tage. Wir machten uns gerade auf den Weg nach Hause, als Maeva ein Rascheln hörte. Es dämmerte schon und wir waren schon zu spät dran, dennoch blieben wir stehen. Als es nochmal raschelte, diesmal lauter, versteckten wir uns hinter einem Busch. Auf einmal trat eine Frau zwischen den Bäumen hervor. Sie war groß, ihr Haar blond, wenn auch mit grauen Strähnen durchzogen. Suchend hatte sie sich umgeschaut, ihre Gesichtszüge waren wie gemeißelt. Ich denke nicht, dass sie schonmal gelacht hat. Ich kannte diese Frau nicht, aber ich spürte, wie sich Maeva neben mir anspannte. Sie erkannte diese Frau und ich konnte die Furcht in ihren Augen sehen. Nach einer Weile verschwand die Frau wieder, Maeva aber war völlig aufgelöst und schnell rannten wir nach Hause. Ich hätte diese Begegnung vergessen, wenn nicht Maeva die nächsten paar Tage nicht gekommen wäre. Als sie dann jedoch wiederkam, war sie wie ausgewechselt. Ein völlig neuer Mensch. Zwar noch meine beste Freundin, doch viel verschlossener. Noch heute überlege, wer diese seltsame Frau war und ob sie etwas mit Maevas Veränderung zu tun gehabt hat", beendet er die Erzählung.
Ohne es zu merken, habe ich meine Hände um seinen Arm geschlungen. Denn ich weiß, um wen es sich bei der Frau gehandelt hat. Theresa Evans. Sie war dort, weil sie Maeva mitnehmen wollte. Zur Organisation. Sie in ihre Aufgabe einführen wollte. Und irgendwoher hatte Maeva von dieser Aufgabe gewusst und sich gefürchtet. Nur woher wusste sie davon? Es gibt eine Menge ungeklärte Fragen, die Lucas Geschichte aufwerfen. Und ich kenne nur einen Weg, sie zu beantworten. Wie auf ein Stichwort klingelt da mein Handy. Ich lasse seinen Arm los und gehe ran. "Hallo Zoe", sind die ersten Worte, die ich sage.
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