15

Als er das riesige, kalte Gebäude betritt, kann er zum ersten Mal Leben in den weiß gestrichenen Fängen ausmachen. Mitglieder der Organisation laufen hektisch herum, manche kleben an ihren Handys. Und in all dem Getümmel ragt sie wie ein Eisblock hervor. Beängstigend, einschüchternd fixiert sie jeden einzelnen mit einem kalten, warnenden Blick. Endlich fällt dieser auf Liam und mit schnellen Schritten kommt sie auf ihn zu. Ohne ein Wort für die Begrüßung zu verschwenden sagt sie: "Du hast lang gebraucht. Wir brauchen dich hier. Das Mädchen ist nicht mehr da, wo es sein sollte." Sie lässt ihm einen kurzen Moment, um diese Nachricht in sich aufzunehmen. Dann spricht sie weiter: "Du suchst sie in der Stadt. Überleg, wo sie sein könnte. Es ist wahrscheinlich, dass wir Verräter unter uns haben. Um die kümmern wir uns später." Zoe. Ihr Name geht im durch den Kopf. Schon von Anfang an traut er ihr nicht. Aber Theresa schon. Schließlich ist Zoe Familie für sie. Auch wen ihr das wohl wenig bedeutet. Ihre fordernde Stimme reißt ihn aus den Gedanken: "Mach schon! Wir haben wenig Zeit! Geh und such sie! Und wage es nicht, ohne sie zurückzukehren!" Der letzte Satz war eine Drohung. Eine Drohung an ihn. Falls er keine Loyalität zeigen würde. Doch das würde er. Sein Mund verzieht sich zu einem Grinsen. Auch über Theresas Lippen fliegt der Anschein eines Lächelns. Dann schenkt sie ihm ein knappes Nicken und verschwindet in dem Getümmel.
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Es sind zwei Tage seit dem Gespräch mit Lucas vergangen. Zwei Tage, in denen wir nicht wirklich miteinander kommuniziert haben. Zwei Tage, an denen Liam nicht in der Schule aufgetaucht war. Zwei Tage, an denen ich verzweifelt versucht habe, zu dem Sitz der Organisation durchzuringen, um mich in Lucas Träume zu schleichen und mehr über ihn herauszufinden. Vergebens. Von Zoe hatte ich erfahren, es gäbe ein "Problem" und anscheinend traut man mir nicht genug, um mich einzuweihen. Oder sie wollen mich schützen, so hat Zoe es jedenfalls ausgedrückt. Gerade befinde ich mich auf dem Weg zu mir nach Hause, immer noch am Grübeln, was dieses Problem sein könnte. Die Überlegungen verfolgen mich Tag und Nacht und es ärgert mich, dass ich nichts weiß. Gar nichts. Wahrscheinlich hat Liams Verschwinden auch damit zu tun.

Schon von Weitem erkenne ich meine Schwester. Sie steht vor der offenen Haustür, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick auf mich gerichtet. Beim Näherkommen kann Ärger in ihren Augen ausmachen. Stirnrunzelnd beschleunige ich meine Schritte, bis ich schließlich bei ihr bin. Ohne Umschweife beginnt sie zu sprechen.

"Kümmere dich bitte um deine Freundin. Sie wartet im Haus. Ich kann sie nicht leiden, sag mir Bescheid, wenn sie weg ist." Mit diesen Worten macht sie auf dem Absatz kehrt uns stolziert davon. Meine Schwester eben. Zickig wie immer. Nur welche Freundin meint sie? Die wenigen, die ich außerhalb der Schule habe, kennt sie alle. Und wegen keiner würde sie das Haus verlassen. Nein, es muss jemand von der Organisation sein. Bestimmt Zoe. Vielleicht kann sie mir endlich sagen, was los ist. Also betrete ich das Haus, ziehe die Tür hinter mir zu und gehe durch den Flur ins Wohnzimmer. "Hallo? Zoe?", rufe ich. Keine Antwort. Ich gehe weiter in die Küche, aber bleibe dann abrupt stehen. Das Mädchen, welches gerade über den Kühlschrank herfällt, ist nicht Zoe. Es ist eine Fremde.

"Wer bist du und was willst du hier?", fahre ich sie mit drohender Stimme an. Sie fährt herum und ich blicke in dunkelblaue Augen. Ihre Haut ist bleich, ihr schwarzes Haar zu einem unordentlichen Zopf gebunden. Sie wirft mir ein Lächeln zu und entblößt dabei eine Reihe nicht ganz so gut gepflegt Zähne. Aber auch das lässt sie nicht weniger hübsch wirken. Auffällig ist vor allem ihre Kleidung: Abgetragen, zu groß. Das liegt an ihrem dürren und ausgemagerten Körper. Ihr Arme sind so dünn, ihre Rippen stechen hindurch. Ich bin mir sicher, ihre Kleidung hat ihr mal gepasst. Bis ihr die Kontrolle über den Körper abhandengekommen ist. Kein Wunder, dass sie den Kühlschrank leermacht.

"Mein Name ist Maeva", stellt sie sich mir vor. Maeva. Vor mir steht Maeva. Ich bin überrascht. Mehr als das. "An deiner Reaktion merke ich, du hast von mir gehört". Ich nicke: "Ich...ich dachte, du wärst tot. Ich dachte, er hätte dich getötet." Belustigt zieht sie eine Augenbraue nach oben: "Ach ja? Tja...Überraschung!" Sie deutet eine kleine Verbeugung an, dann nimmt sie an unserem Tisch in der Küche Platz und weist mit dem Kopf auf den Stuhl gegenüber von ihr. Zögerlich lasse ich mich nieder. "Also...was machst du hier? Und...bist du das Problem von dem Zoe mir erzählt hat?" Sie lehnt sich zurück. Oh Gott, sie ist viel zu dünn. Was auch immer die Organisation mit ihr gemacht hat, es war nicht angenehm.

"Es kann sein, dass sie sagen, ich bin das Problem. In Wirklichkeit aber sind sie es. Sie dringen ein in die Träume, manipulieren Menschen, um sie gefügig zu machen. Ekelhaft." Super. Sie und ich haben die gleichen Ansichten über die Organisation. "Und was ich hier will? Naja, man hat mir gesagt, wo du wohnst. Es gibt welche von ihnen, die rebellieren. Im Verborgenen. So wie ich es gemacht habe, bis...naja, er mich entlarvt hat." Ich weiß, wen sie meint, ehe sie seinen Namen ausspricht. Liam. Die rechte Hand von Theresa Evans. "Über was danach passiert ist, möchte ich nicht reden. Nur ich möchte so etwas nie wieder erleben." Sie schenkt mir ein schiefes Grinsen, welches jedoch nicht ihr Augen erreicht. Was auch immer mit ihr passiert ist, sie wurde gebrochen. Und ich will mich rächen. An denjenigen, die ihr das angetan haben. Die Organisation. Ich muss Maeva weiter zuhören. Vielleicht gibt sie mir wichtige Hinweise.

"Und ja...jetzt bin ich hier. Ich habe gehört, du bist jetzt seine Wächterin, wie ich vorher. Du musst auf der Hut sein. Sprich nicht aus, was du denkst, überall gibt es Ohren, die etwas davon hören könnte. Das endet nicht immer gut." Sie deutet auf sich selbst. "Ich weiß, dass du die Organisation genauso sehr verabscheust wie ich. Du musst Verbündete finden in ihren eigenen Kreisen. Ich kann dir leider keine Namen nennen, falls du dich doch gegen uns entscheidest. Aber bald wirst du es selbst herausfinden. Du musst meinen Platz einnehmenden, denn sie werden mich wieder finden. Und dann kann ich nicht mehr so einfach entkommen. Noch was...Lucas." Schmerz blitzt bei der Erwähnung seines Namens in ihren Augen auf. Eigentlich sollte ich Mitleid für sie empfinden, jedoch durchbohrt mich die Eifersucht. Schnell dränge ich das Gefühl auf Seite. Was ist nur los mit mir?
"Pass auf Lucas auf", fährt Maeva fort, „versuche ihn aus der Sache herauszuhalten. Auch wenn er vermutlich tiefer drinsteckt, als du denkst." Schweigen. Ich muss über ihre Worte nachdenken. Sie fällt über ein Sandwich her. Plötzlich ertönt ein Geräusch. Die Klingel. In unseren Bewegungen erstarrt schauen wir uns in die Augen. In ihren lese ich für einen kurzen Moment Furcht. Doch dann ist da wieder eine spöttische Miene. Mit dem Kopf deutet sie Richtung Flur: "Mach auf. Aber beeil dich. Ich warte hier." Ich nicke ihr zu und erhebe mich langsam.

Auf dem Weg zur Tür entspanne ich mich wieder. Bestimmt nur meine Oma von nebenan, die mir, wie sie so ist, ein Stück Kuchen rüberbringen möchte. Alles gut. Kurz vor der Tür atme ich nochmal tief durch, dann öffne ich sie. Und vor mir steht nicht meine Oma. Nein, ich blicke geradewegs in die haselnussbraunen Augen von ihm. Liam.

In einer vorgetäuschten lässigen Haltung lehnt er am Türrahmen und grinst mir zu. Er weiß es, schießt es mir durch den Kopf. Er weiß, dass Maeva hier ist. Für Warnung an sie ist es zu spät. Mist. Mist, Mist, Mist. Ich muss versuchen, Liam aufzuhalten. Also schließe ich die Tür wieder, bis nur noch ein kleiner Spalt offen ist. In diesen quetsche ich mich hinein. Wenn er rein will, muss er erst an mir vorbei. Anscheinend begreift er das auch, denn er gibt seine scheinbar entspannte Haltung auf und richtet sich in voller Größe vor mir auf. Ich habe ganz vergessen, wie groß er ist. Erst jetzt registriere ich ein paar andere Leute mit etwas Abstand zu uns. Ich bin mir sicher, sie gehören auch der Organisation an und sind hier, um Maeva zu holen. Wahrscheinlich hat Liam sie überzeugt, die Sache mit mir allein zu regeln. Wo wir doch beste Freunde sind und ich ihm so sehr vertraue. Von wegen!

"Lass uns rein. Wir wollen uns nur etwas umsehen, weißt du", beginnt er zu sprechen. Dabei betont er das "umsehen" besonders. Mit gespieltem Bedauern schüttle ich den Kopf: "Tut mir echt leid, aber meine Schwester möchte keine Fremden im Haus haben." Mit dem Kopf deute ich auf deine Leute hinter ihm. "Wie gut, dass ich kein Fremder bin", erwidert er mit falschem Lächeln und ehe ich die Tür zuschlagen kann, stellt er seinen Fuß dazwischen und schiebt sie mit der Hand gerade weit genug auf, sodass er hineinschlüpfen kann. Kurze Zeit später fällt sie krachend ins Schloss. Und ich habe einen Parasiten im Haus.

Ich versuche, mich ihm in den Weg zu stellen, aber er schubst mich einfach auf Seite. Ich renne hinter ihm her Richtung Küche und verfluche mich innerlich. Hätte ich doch diese Tür nicht aufgemacht. Ich komme kurz nach Liam in der Küche an, doch sie stehen sich schon gegenüber. Er wie ein Löwe, sie wie seine Beute. Allerdings sieht sie keinesfalls ängstlich aus. Und dann wird es mir klar. Sie wusste es. Sie wusste, er würde sie hier finden und wieder mitnehmen. Ihre einzige Mission war es, mit mir zu sprechen. Und nun steht er wieder vor ihr. Um sie zu holen. Ich rufe mir ihre Worte ins Gedächtnis: Ich möchte so etwas nie wieder erleben. Ohne darüber nachzudenken, haste ich zu ihr und stelle mich zischen sie und Liam. Es wird nichts bringen, dass weiß ich. Aber so setze ich ihm ein Zeichen. Ich stehe nicht auf seiner Seite, sondern auf der von Maeva. Auch wenn ich dafür bestraft werden könnte.

"Liebes, lass uns gehen. Ich habe nicht vor, mich hier länger aufzuhalten", mit einem hinterlistigen Grinsen auf den Lippen streckt er ihr seine Hand entgegen. "Weißt du, ich habe es geahnt, dass meine Freiheit nur von kurzer Dauer ist", sie zuckt mit den Schultern, "dein Besuch überrascht mich nicht." Auch sie lächelt und steht lässig da, dennoch wirkt sie durch ihre gebrechliche Figur viel schwächer als er. Ich scheine für die zwei nicht mehr zu existieren, sie haben jeweils den anderen fokussiert und warten auf die nächste Bewegung.

"Ich weiß. Du wusstest, ich würde dich hier suchen. Du hättest überall hingehen können und kommst hierher?", Liam lacht kurz auf, "komm schon, ich hätte dich für schlauer gehalten." "Jemand muss der neuen Wächterin ja sagen, dass du ein Arsch bist. Ach stimmt! Sie hat es selber schon gemerkt." Ich kann sehen, wie sehr sie ihn mit diesen Worten trifft. Er knirscht mit den Zähnen und ballt die Fäuste zusammen. Maeva grinst ihm hämisch zu. "Komm. Sofort. Wir gehen", knurrt er ihr zu. "Och komm, gerade wo es anfängt, Spaß zu machen. Aber naja, du warst schon immer ein Spielverderber. " Wäre es nicht schon genug, setzt sie noch ein Sahnehäubchen drauf: "Gut, dass Lucas anders ist. Er verträgt Spaß" Das reicht ihm. Schon steht er neben ihr, packt sie am Arm und zieht sie mit sich. Erschrocken stolpert sie mit. Sie wirft mir einen Blick zu, verängstigt und ich erkenne ihr wahres Gesicht hinter der aufgebauten Fassade. Sie hat Todesangst.

"Stopp!", rufe ich, ohne nachzudenken, "bitte Liam, lass sie gehen." Er dreht sich zu mir herum und ich sehe etwas in seinen Augen abblitzen. Mitgefühl. Trauer. Angst. Und zum ersten Mal erkenne ich ihn wieder. Er hat Angst. Angst vor dem, was passiert, wenn er Maeva nicht findet, er sie nicht zurückbringt. Und ich sehe, wie er aus diesem Grund den Kopf schüttelt und eine stumme Entschuldigung mit seinem Mund formt. Dann geht er, verlässt das Haus, zusammen mit ihr. Ich höre noch ihr gedämpftes Schluchzen, da fällt die Tür ins Schloss. Sie muss zurück. Zurück an den Ort, an den sie nie zurückwollte.

Auf der einen Seite hasse ich ihn, doch auf der anderen habe ich Mitgefühl. Mit Liam. Er kann gut sein. Er möchte gut sein. Letzteres hoffe ich zumindest. Ich habe eine Mission. Ich muss Maeva retten. Und Liam muss mir dabei helfen.

-Ich hoffe, es gefällt euch☆

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