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"Hi" Ich fahre herum und blicke in seine blauen Augen. "Ähm...hi", erwidere ich und versuche, mich an ihm vorbeizudrängeln. Die Erinnerungen von meinem, nein, seinem Traum kommen wieder in mir hoch. Maeva, seine Großmutter, verschwunden oder tot. Mit den Erinnerungen kommt auch der Hass zurück. Ich begrüße ihn wie einen alten Freund. Nur er kann mich verstehen, mir helfen, sie zu zerstören. Doch vorerst muss ich mitspielen. Ich muss alle im Glauben lassen, ich hätte mich meinem Schicksal gefügt. Also schiebe ich den Hass auf Seite, in die hinterste Ecke meines Geistes. Bald, bald darf er hinauskommen und sich diesen Monstern stellen. Aber noch nicht heute. Oh Gott, bin ich theatralisch. Ich möchte Lucas noch ein Lächeln zuwerfen und an ihm vorbeigehen, jedoch hält er mich auf. "Wir waren heute Morgen verabredet." Mist. Mist, Mist, Mist. Wie konnte ich das vergessen? Wahrscheinlich liegt es an meiner theatralischen Stimmung wegen gestern Nacht. Mühsam unterdrücke ich ein Gähnen. Warum ist Lucas so spät ins Bett gegangen? "Oh nein, ich habe es vergessen. Tut mir echt leid! Ich hatte nur...andere Dinge im Kopf", versuche ich m ich rauszureden. Gehe ich von seiner Miene aus, glaubt er mir nicht wirklich. Dennoch macht er mir den Weg frei, nickt mir knapp zu und verschwindet dann in der Menge. Seufzend lehne ich mich an einen Spind. Was soll ich bloß tun? Ich möchte auf keinen Fall, dass Lucas schlecht von mir denkt, aber wie kann ich mich glaubhaft entschuldigen? Ich beschließe, mir später darüber den Kopf zu zerbrechen und begebe mich auf den Weg zum Klassenraum.

"Lucas! Warte kurz!", rufe ich ihm zu, als er den Schulhof verlassen will. Erleichtert beobachte ich, wie er auf meine Worte reagiert, stehen bleibt und sich zu mir umdreht. Ein Stein fällt mir vom Herzen, wenn er mir ein leichtes Lächeln zuwirft. Hastig renne ich über den Schulhof auf ihn zu. Keuchend komme ich bei ihm an und sein Lachen signalisiert mir etwas, was ich eigentlich wissen müsste. Er ist nicht sauer auf mich. Jedenfalls nicht mehr. Lachend stoße ich ihm mit dem Ellbogen weg von mir. Lucas lacht nur noch mehr. Man könnte vergessen, dass wir uns noch überhaupt nicht lange kennen. Um ehrlich zu sein will ich es auch vergessen. Ich möchte dieses Gefühl behalten, ihn schon eine lange Zeit zu kennen. Gemeinsam verlassen wir lachend den Schulhof, ich möchte die Gedanken an die Organisation verdrängen. Für einen kurzen Moment. Doch auch diesen kleinen Moment gestattet er mir nicht. In der hinteren Ecke des Schulhofes steht er, angelehnt an einen Baum-unseren Baum-, einen Apfel in der Hand. Lucas bemerkt ihn nicht. Wieso auch? Schließlich durchbohrt er nur mich mit seinem Blick. Mein Lachen bleibt mir im Hals stecken, eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper zu. Seine Mundwinkel ziehen sich nach oben zu einem grässlichen Lächeln, bei welchem ich vor ein paar Wochen noch dahingeschmolzen wäre. Auf einmal kriege ich schreckliche Angst. Was ist, wenn er mich gehört hat? Gehört hat, wie ich diese Drohung an die Organisation vor mich hin geflüstert habe. Nein, Das kann nicht sein, Ich habe zu leise gesprochen. Keiner war in der Nähe und selbst wenn, hätte derjenige mich nicht verstehen können. Mit diesem Gedanken straffe ich die Schultern und wende ihm den Rücken zu. Dann verlassen Lucas und ich endgültig den Schulhof. Dennoch spüre ich seinen kalten Blick noch im Nacken.

"Was war das gerade?" Ich bin verwirrt. Was meint er? Anscheinend merkt man mir meine Ahnungslosigkeit an, denn er hakt weiter nach: "Dieser Junge...Liam.... er hat dich angestarrt. Und als du ihn gesehen hast, bist du nervös geworden." Er hat es also doch bemerkt. Jetzt muss ich mich irgendwie da rausreden. Ich möchte Lucas nicht anlügen, deswegen beschließe ich, ihm die Wahrheit zu sagen. Teilweise jedenfalls. "Liam und ich waren mal befreundet. sehr gut sogar. Eines Tages habe ich etwas über ihn herausgefunden, was unsere Freundschaft verändert und für mich letztendlich zerstört hat. Wie er das sieht, weiß ich nicht." Na also. Hört sich doch ganz gut an. Lucas wirkt betreten: "Tut mir echt leid. Ich weiß, wie es ist, einen Freund zu verlieren, auch wenn es bei mir anders war." Maeva. Immer noch muss ich herausfinden, warum die Organisation es für nötig gefunden hat, sie zu beseitigen, auf was auch immer für eine Weise. Ich setze diesen Punkt auf Platz eins meiner "Ich will die Organisation vernichten und brauche mehr Informationen dafür" Liste. Plötzlich fällt mir noch etwas ein. Der Name. "Woher weißt du Liams Name?", fahre ich Lucas etwas stürmischer als beabsichtigt an. Dieser zuckt zusammen und sieht mich verblüfft an: "Den hast du mir doch gesagt." Nein. Habe ich nicht. Das weiß ich ganz genau. Trotzdem schenke ich ihm ein Lächeln und murmle etwas, was sich für ihn hoffentlich wie: "Stimmt ja" anhört. Aber ich kann mir nicht erklären, wieso er seinen Namen weiß. Meine paranoide Stimme flüstert mir ein, dass Lucas mir etwas verbirgt. Schnell blende ich sie aus. Bestimmt hat er Liams Namen auf dem Schulflur aufgeschnappt, als jemand nach ihm gerufen hat. Ja, so wird es sein. Ich entspanne mich wieder. Fragend sieht er mich an: "Musst du schon nach Hause? Oder sollen wir noch wo hin gehen?" Ich ignoriere die Schmetterlinge, die sich bei seinem Vorschlag in meinem Bauch ansammeln und antworte: "Mich vermisst niemand." Er lacht. Und lässt damit den Schwarm Schmetterlinge los. "Mich auch nicht. Zeigst du mir etwas von der Stadt?" Ohne die Zeit mit einer Antwort zu verschwenden, nehme ich seinen Arm und ziehe in mit mir. Heute ist ein schöner Tag.

Wir lassen uns auf einer Bank nieder, welche ein wenig abseitssteht. Alles erinnert mich verdächtig an den Traum. Hoffentlich spielt sich nicht alles genauso ab. Bestimmt nicht, versuche ich mich zu beruhigen. Alles wird gut. Schweigend sehen wir uns in die Augen. Gott, seine Augen. Ich könnte stundenlang in diese wunderschönen Augen blicken. "Du siehst hübsch aus" "Was?", frage ich verdattert. Was hat er da gesagt? Ich spüre, wie ich rot anlaufe. Schon wieder! Wie peinlich. "Du siehst hübsch aus", wiederholt er geduldig und mir einem Schmunzeln auf den Lippen. "Danke", gerade noch kann ich mich stoppen, ein "Du auch" zu erwidern. Irgendwie wäre es mir unangenehm. So schweige ich. Schließlich unterbricht er meine Gedanken erneut: "Du bist geheimnisvoll, Elly. Ich glaube, du verbirgst etwas." Nein. Nein, nein, nein. Wieso sagt er so etwas? Wieso denkt er, ich verberge etwas? Natürlich stimmt es. Ich verstecke eine Menge vor ihm. Doch davon sollte er eigentlich nichts wissen. "Was meinst du?", frage ich deshalb zögerlich. Die Arme vor der Brust verschränkt lehnt er sich zurück: "Naja, ich kenne dich noch nicht lange, aber ein Gefühl sagt mir, du versteckst etwas, womit du selbst nicht klarkommst. Womit du versuchst umzugehen, was jedoch zu viel für dich ist. Ich habe so etwas schonmal erlebt. Lass mich dir helfen. Sag mir, was los ist und lass mich dir helfen." Ist es nur eine Vermutung von ihm oder hat er mich durchschaut? Ich hoffe auf ersteres. Dennoch, wenn es zweiteres sein sollte, muss ich ihn ablenken. Von mir auf ihn. "Ich weiß nicht, was du meinst", antworte ich ihm deshalb, "aber hast du ein Geheimnis? Du wirkst genauso verschlossen." Skeptisch mustert er mich: "Jeder Mensch hat Geheimnisse. Genau wie wir zwei. Ich biete es dir an. Erzähle mir davon und ich helfe dir." Es klingt so verlockend. Ein Teil von mir möchte ihm von allem erzählen, sich bei ihn ausheulen und sich ihn anvertrauen. Aber ich widerstehe diesem Teil. Es wäre falsch. Also schüttle ich nur den Kopf: "Ich kann nicht. Tut mir leid." Er nickt, wenn auch leicht verärgert.

Wir stehen auf, verabschieden uns voneinander und gehen in unterschiedliche Richtungen davon. A er da ist noch etwas. Unsicher sehe ich mich um. Lucas wirkte so, als wüsste er etwas. Ich weiß nicht genau, was oder wie viel, doch kenne einen Weg, um dies herauszufinden.

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Als er sie gemeinsam vom Schulhof gehen sieht, steigt blanke Wut in ihm hoch. Auf sie, aber vor allem auf ihn. Wie er sich in ihr Leben schleicht und nicht mehr los lassen will...widerlich. Im Grunde genommen ist es seine Schuld. Er hat sie mit hineingezogen, er hat das Blut von dieser Großmutter an den Fingern kleben. Es ist ihre Aufgabe. Ihre Bestimmung, sagt er sich. Früher oder später wäre es eh dazu gekommen. Dann besser früher. Je früher, desto einfacher. Also hatte er alles richtig gemacht. Wie immer. Plötzlich vibriert sein Handy. Hastig holt er es aus der Tasche und schaut auf das Display: "Theresa Evans". Fluchend hebt er ab und ihre kalte Stimme dringt in sein Ohr: "Komm her. Wir haben ein Problem."

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