Die Ausnahme
Dieser OS ist für Vikkilitschis diesjährigen Adventskalender entstanden. Wenn du noch mehr Kpop-Kurzgeschichten von verschiedensten Autoren lesen möchtest, schau gerne auf ihrem Account vorbei.
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DIE AUSNAHME
b e s t ä t i g t d i e r e g e l
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Ausnahmen bestätigen die Regel. Das hat Jungkooks Vater immer gesagt. Denn wenn alle im Strom schwimmen, braucht es jemand, der sich den anderen in den Weg stellt und den Mittelfinger hochhält. Ohne diese Leute funktioniert das System nicht. Denn das System basiert auf Regeln und die Regeln werden von Menschen gemacht, die anderen den Mittelfinger zeigen.
Dass dieser Jemand in Jungkooks Fall eine Weihnachselfe mit fleischigen Oberschenkeln in hellgrünen Strümpfen ist, hätte bei Gott, Buddah und der Naturwissenschaft alle Alarmglocken anwerfen sollen. Dummerweise tut Jungkooks Gehirn nichts dergleichen.
Er sitzt bei Seokjin – einem Mittelschichts-Architekten, mit dem Jungkook vor zehn Jahren im Studium einen Marketing-Kurs belegt hat – zu Hause auf dem Sofa. Um ihn herum faseln angetrunkene Männer in Anzügen über Frauen, die sie angeblich mal flachgelegt haben und im Hintergrund läuft Musik, die so austauschbar ist, wie schwarze Socken in Größe 39. Ein drückender Marihuana-Gestank hängt in der Luft und irgendwo in einem anderen Zimmer stöhnt jemand nicht ganz so subtil den Namen Jimin. Wären die Leute hier zehn Jahre jünger und der Alkohol, der fließt, ein Zehntel so teuer, wäre es eine gut gelungene Studenten-Party. So ist es nur ein misslungener Freitagabend. Oder zumindest einer, der schlecht angefangen hat. Denn gerade als sich Jungkook dem Jucken in seinen Händen hingibt und sich eine Zigarette anzündet, taucht etwas äußerst Abstraktes, Grünes in seinem Sichtfeld auf.
Es ist ein junger Mann. Vielleicht Mitte zwanzig. Seine Haare sind silber gefärbt, seine Augen mit goldener Farbe und Glitzersteinchen geschminkt und sein Körper in einem Elfen-Kostüm verkleidet. Es wirkt lächerlich und faszinierend zugleich. Sein Oberkörper steckt in einem hellgrünen Leinenhemd, das an der Taille von einem breiten Ledergürtel gefasst wird. Dazu trägt er dunkelgrüne Shorts, an dessen Saum Sterne aufgestickt sind und den Blick auf massive Oberschenkel in hellgrünen Strumpfhosen freigeben.
Jungkook muss sich enorm viel Mühe geben, um das Augenmerk davon zu lösen. Als sich ihre Blicke treffen, grinst die Weihnachtselfe und lässt sich unzeremoniell zu nah neben ihn auf das Sofa fallen. Ihre Seiten pressen sich aneinander.
„Hi“, sagt die Elfe und greift nach der Zigarette zwischen Jungkooks eingefrorenen Fingern „Fürchterliche Party, findest du nicht auch?“ Die Elfe nimmt einen tiefen Zug und löst den Blick zu keinem Zeitpunkt von Jungkook.
Aus dieser Nähe kann Jungkook aufgemalte Glitzer-Sommersprossen auf den Wangen und aufgesprühten Kunstschnee in den Haaren erkennen. Die Elfe sieht wirklich, wirklich, lächerlich aus, aber Jungkook bleibt dennoch der Atem weg. Es ist, als wisse sein Nervensystem bereits vor ihm, dass eine Ausnahme vor ihm sitzt.
„Kennen wir uns?“, fragt er.
Die Elfe reicht ihm die Zigarette zurück und pustet ihm den Rauch ins Gesicht.
„Jetzt schon.“
Jungkook schnaubt irritiert. Er würde gerne behaupten, dass er die Gesellschaft nicht mag, aber das wäre eine Lüge – was die Elfe zu wissen scheint. Der Mann wirkt überlegen. Als könnte er Gedanken lesen. Vielleicht liegt es daran, dass Jungkook noch nie jemanden so selbstbewusst in so lächerlichen Kleidern hat rumlaufen sehen.
„Ich mag Jin nicht“, sagt die Elfe nach einer Pause. „Der Typ ist ein Hochstapler, der denkt, er sei lustig - aber mein Tag war lange und hier gibt es gratis Alkohol. Was ist deine Ausrede hier zu sein…“
„…Jungkook“, beendet Jungkook.
„Kookie“, bestätigt die Elfe, als würden sie sich seit Jahren kennen. Jungkook mag es nicht Kookie genannt zu werden, aber er versäumt es, die Elfe zu korrigieren.
„Ich hatte nichts besseres zu tun“, sagt er nonchalant und die Elfe lacht.
„Dein Leben muss wahrlich erbärmlich sein.“
Autsch. Jungkook verspannt den Kiefer. Er nimmt einen Zug seiner Zigarette und sagt: „Sagt der, der ein Elfenkostüm trägt.“
Aber die Elfe lässt sich nicht so einfach beleidigen. Im Gegenteil. Demonstrativ rückt er seine Shorts zurecht und schlägt die Beine übereinander. Nun ist nicht nur der untere, sondern auch der obere Teil seiner Oberschenkel sichtbar. Jungkooks Blick hängt daran fest, wie eine Fliege im Spinnennetz. Als sich ihre Blicke treffen, zwinkert ihm die Elfe zu.
„Wir sind uns also einig, dass nicht ich der bin, der hier der Verlierer ist.“
„Muss es denn immer einen Verlierer und einen Gewinner geben?“
„Ich bitte dich“, sagt die Elfe und lässt ihren Blick zu Jungkooks Handgelenk gleiten. Genau wie jeden Tag trägt er eine Rolex. Jungkook hält nicht viel davon, aber sein Vater hat ihm beigebracht, dass es sich gehört, das Haus niemals ohne Statussymbol zu verlassen. Also hat er sie an.
„Menschen sind dazu verdammt in einem ewigen Wettkampf zu stehen. Sowas wie unentschieden gibt es nicht“, sagt die Elfe. Er lehnt sich vor und umfasst mit sanften Fingern Jungkooks Handgelenk, sodass sich die Rolex im schummrigen Licht von Seokjins schlecht beleuchtetem Wohnzimmer spiegelt.
„Auf einer Skala von eins bis zehn“, sagt die Elfe, „wie reich bist du?“
Jungkook schluckt schwer. Er hat nichts zu verbergen, aber die Worte lassen ihm mulmig werden. Kann man Weihnachtselfen vertrauen? Sie arbeiten für den großzügigsten Mann auf Erden und sind dafür zuständig, Geschenke zu verteilen – zumindest wenn man an Märchen glaubt. Realistischer Weise ist das hier ein Student, der für schlechtes Geld in irgendeinem Kaufhaus kleinen Kindern vorgaukelt, dass Magie real ist.
„Wenn null Insolvenz ist“, erklärt die Elfe, „und zehn Donald Trump.“
„Zwölf.“
Die Elfe lacht überrascht. „Du bluffst.“
„Niemand zwingt dich, mir zu glauben.“
„Tatsache.“ Die Elfe lehnt sich näher. „Ich finde, du solltest mich einladen. Ganz hier in der Nähe gibt es einen bezaubernden Club, den ich schon lange mal besuchen wollte. Er ist verdammt exklusiv und hat wunderschöne Männer und Frauen im Angebot. Was meinst du?“
Jungkook sieht dem Mann in die gold geschminkten Augen. Er kann keine Zweifel erkennen, aber auch kein Motiv. Entweder der Typ ist die Personifizierung der Willkürlichkeit oder er ist ein verdammt guter Schauspieler.
„Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.“
„Lee Minho“, sagt die Elfe. „Aber ob du mich Sweetheart, Schlampe oder Daddy nennst, ist mir eigentlich egal, solange du bezahlst.“
Jungkook schnaubt und wendet den Blick ab. Einer von Seokjins Freunden ext gerade ein Bier. Es läuft ihm wie bei einem sabbernden Hund links und rechts die Wange runter und tropft auf sein Hemd.
„Nenne mir einen guten Grund, warum ich das tun sollte“, fordert Jungkook und rümpft die Nase, als der Typ das Bier absetzt und lauthals rülpst.
Minhos Hand löst sich von Jungkooks Handgelenk. „Weil ich einen scheiß Tag hatte“, sagt er. „Und eine scheiß Woche. Und wenn man es genau nimmt, auch ein scheiß Jahr. Vor allem aber, weil…“ Minho rückt näher und schiebt beiläufig seinen Oberschenkel über Jungkooks. Er nimmt ihm die Zigarette ab und drückt sie im Aschenbecher aus, bevor er Jungkooks Hand zu seinem grünen Oberschenkel führt und darauf platziert.
Der Oberschenkel ist überraschend robust. Der Stoff der Strumpfhose ist zwar nicht mehr neu und rau vom Brauchen, aber der Muskel darunter ist warm und lebendig.
Jungkook hebt den Blick. Minho lächelt. Ein siegessicher Ausdruck im Gesicht.
Jungkook geht nicht mit fremden Elfen in exklusive Bars, die einem das Geld aus der Tasche ziehen. Aber die Ausnahme macht die Regel, nicht?
„Lass uns gehen“, sagt Jungkook auf Autopilot und Minho wirkt zufrieden.
„Lass uns gehen.“
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Der Türsteher des Abendrots teilt Jungkook in sachlicher Tonlage mit, dass das Ambiente von Minhos Wünschen einen Tag vor Weihnachten – natürlich – ausgebucht ist und Minho und Jungkook draußen bleiben müssen. Er beäugt Minho dabei mit einem abwertenden Blick, der Ungutes in Jungkooks Magen auslöst und ihn instinktiv dazu bringt, seine Brieftasche zu zücken und dem Klotz von Mann ein paar hunderttausend Won zuzustecken.
Der Türsteher hebt überrascht die Augenbrauen und Minho zieht scharf Luft in die Lungen – und drei Minuten später sitzen sie mit Drinks auf einem üppigen Ledersofa in der ersten Reihe des Clubs. Es ist keiner dieser billigen Strip-Läden mit verzweifelten Studenten, die auf der Bühne für noch verzweifeltere Midlife-Crisis-Ehebetrüger tanzen. Alle Gäste – mit Ausnahme von Minho – tragen hier eine Rolex oder Diamant-Ketten und die Tänzer sind ausgebildete Profis. Sie bewegen sich wie bunte Blüten im Wind und räkeln sich wie scharfe Dornen an Stangen.
Der Raum ist gedimmt beleuchtet und riecht überraschend frisch. Es gibt keine Fenster und alle Wände sind mit roten Samt-Tapeten bezogen. Die Kellner tragen teure Anzüge, die mehr Kosten als der Durchschnittsbürger in Seoul im Monat verdient und der Alkohol, der fließt, brennt kein bisschen im Rachen.
Minho sticht so fürchterlich offensichtlich aus der Kulisse hervor, dass es in den Augen weh tun sollte. Aber zu Jungkooks Überraschen sitzt Minho da, als würde ihm der Laden gehören. Als wären alle anderen die Idioten, die den Dresscode verpatzt haben.
„Was hast du vor?“, fragt Jungkook ihn.
Minho nimmt einen Schluck von seinem Martini. „Ist das nicht offensichtlich?“
Jungkook hebt eine fragende Augenbraue.
„Ich möchte den Abend genießen.“
„Mhm.“
Jungkook sieht zur Bühne. Gerade tanzt eine große Schönheit mit langem schwarzem Haar und goldener Unterwäsche über die Fläche. Sie kreist ihre Hüften und bewegt sich sinnlich auf allen vieren, während die Gäste ihr gebannt zusehen.
Und Jungkook kann den Reiz dahinter durchaus erkennen. Er versteht bloß nicht, wieso man dafür so viel Geld ausgibt und sich daran ergötzt. Was ironisch ist, wenn bedenkt wird, wie viel Geld er bezahlt hat, um in das Abendrot hineinzukommen und Minho seinen Wunsch zu erfüllen.
Jungkook nimmt einen Schluck von seinem Single Malt Whiskey und dreht sich zu Minho – der die Frau interessiert beobachtet.
„Du wirkst nicht wie jemand, der Geld für schöne Menschen ausgibt“, kommentiert er.
„Wie wirke ich dann?“, fragt Minho zurück und Jungkook hat keine Antwort. Auf der einen Seite wirkt Minho wie jemand, der dringend Geld braucht und Dinge tut (und anzieht), die er freiwillig nicht tun würde. Auf der anderen Seite wirkt er wie jemand, der sich nichts sagen lässt und lieber seine eigene Pisse trinkt, als sich jemandem zu biegen. Wo sich die beiden Eindrücke vereinen lassen, weiß Jungkook nicht.
Minho lacht und holt ihn aus den Gedanken zurück. „Denkt nicht zu viel darüber nach“, sagt er. „Ich brauche deine verbleibenden fünf Gehirnzellen noch, um mir Drinks zu bestellen.“
Die Musik wechselt und die Frau in goldener Unterwäsche wird von zwei Männern in roten Lederhosen abgelöst. Jungkook verspannt den Kiefer und fragt sich, was er hier eigentlich tut. Es gibt eine Menge Menschen mit schönen Oberschenkeln. Er muss sich Minhos Beleidigungen nicht anhören, um welche abzubekommen. Und trotzdem sitzt er hier.
Wieso eigentlich?
„Du hast kein Rückgrat“, merkt Minho beiläufig an und rückt näher, sodass sich ihre Seiten aneinanderpressen. Er legt den Arm auf die Sofalehne hinter Jungkook und beginnt mit federleichten Berührungen mit Jungkooks Haaren zu spielen. „Wieso lässt du dich einfach so beleidigen?“
„Weil ich weiß, dass ich etwas Besseres bin und diese Beleidigungen nichts als heiße Luft sind.“
„Tust du das?“, fordert Minho heraus und Jungkook weiß wieder keine Antwort. Sein Vater hat immer gesagt, dass er das perfekte Bild eines Mannes ist. Er ist groß, gut trainiert, trägt adrette Kleidung und hält stets das Kinn hoch. Er hat ein Konto, das ihm erlaubt, überall hinein zu spazieren, wo er hinein spazieren will – und er gibt sich auch so. Wenn man ihn ansieht, weiß man, mit wem man es zu tun hat.
Aber was steckt hinter all dem? Jungkook weiß es nicht. Woher auch? Was bleibt übrig, wenn der Anzug fällt, die Brieftasche verräumt und das Kinn gesenkt wird? Wer ist Jungkook ohne das Jeon seines Vaters?
Er schüttelt den Gedanken ab. Es spielt keine Rolle. Solange alle anderen an den Mann mit der Rolex glauben, ist Jungkook der Sohn seines Vaters. Mehr braucht er nicht zu sein.
„Ich glaube, du hast keine Ahnung, wer du bist“, sagt Minho.
Die Ausnahme macht die Regel.
„Wieso nicht?“, fragt Jungkook.
„Tust du es?“
„Tust du’s?“, gibt Jungkook die Frage zurück.
Minho kneift die Augen zusammen. „Was? Ob ich weiß, wer du bist oder ob ich weiß, wer ich bin?“
Jungkook öffnet den Mund, aber Minho spricht weiter.
„Ich bin Lee Minho. 24. Waisenkind und in einem Heim voller Ausländer und Unterschicht-Kindern aufgewachsen. Ich habe kein einziges Kleidungsstück in meinem Kleiderschrank, das nicht jemand anderes bereits vor mir getragen hat und ich wohne in einer Wohnung mit sieben Männern. Ich arbeite jeden Tag in der Woche und protestiere in meiner Freizeit gegen die Arschlöcher, die aussehen wie du. Die Arschlöcher, die es in Ordnung finden, unsere Siedlungen abzureißen, um teure Neubauwohnungen zu bauen."
„Mein Leben ist objektiv betrachtet erbärmlich, aber es ist mir egal. Ich weigere mich, mich scheiße zu fühlen. Wieso sollte ich auch?"
„Ich mag Sex und schöne Menschen. Ich flirte gerne und schleiche mich in Clubs, um zu tanzen, weil wir bei uns im Viertel keine Tanzschule haben. Wann immer ich Zeit habe, gehe ich ins Tierheim und spiele dort mit den Hunden und den Katzen. Eine der Katzen, sie heißt Doongi und ist schon seit zehn Jahren dort, würde ich am liebsten adoptieren, aber ich habe weder Zeit noch Platz, um mich um sie zu kümmern.“
Jungkook schluckt schwer. Die Nähe zwischen ihnen fühlt sich plötzlich zu nahe an. Ihm wird kläglich bewusst, dass sein Vater und er zu den Arschlöchern gehören, die die billigen Siedlungen am Stadtrand aufkaufen, um teure Neubauwohnungen zu bauen und das Viertel zu gentrifizieren. Ihm wird bewusst, dass seine Mutter ein überzüchtetes Schoßhündchen aus den Staaten importiert und ihr altes ins Tierheim abgeschoben hat, weil es zerbrechlich war und überall hingekotzt hat und sie ein neues, besseres wollte.
Und als wäre das nicht genug, wird ihm auch bewusst, dass er keine Ahnung hat, was er eigentlich will. Mag er Sex? Sicher. Aber könnte er das so selbstbestimmt sagen, wie Minho es tut? Kann er dahinterstehen, wenn er sich nicht einmal sicher ist, ob seine letzten paar Hook Ups ihre Orgasmen vorgetäuscht haben oder nicht?
„Du bist Jungkook“, fährt Minho fort. „Schätzungsweise knapp 30. Eine 12 von 10, wenn es ums Gehalt geht. Wahrscheinlich hast du es nicht selbst verdient. Hast du einen reichen Daddy?“
Sie sehen sich einen Moment lang schweigend an, bevor Minho nickt, als hätte Jungkook geantwortet.
„Du hast einen sehr reichen Daddy“, schlussfolgert er. „Ich nehme an, so zirka 90 Prozent deiner Persönlichkeit stammen von ihm. Die anderen 10 stammen entweder aus Pornos oder schlechten Actionfilmen. Ich wette hundert Millionen, dass du keine Ahnung hast, wer Wes Anderson ist und nicht weißt, wo sich die Klitoris befindet.“
Jungkook leckt sich über die Lippen und Minho lacht siegessicher.
„Hab ich’s mir doch gedacht.“
„Wieso bist du hier?“
„Um Spaß zu…“
„Du findest es lustig, andere zu quälen?“
„Ja“, bestätigt Minho hemmungslos. „Wenn es die richtigen trifft, schon.“
Jungkook seufzt und legt eine Hand auf Minhos Oberschenkel. Er ist sich sicher, dass sein Vater ihm jetzt raten würde zu gehen, aber Jungkook möchte nicht. Vielleicht ist er ein Masochist. Vielleicht tut es aber auch einfach gut, einmal keine Erwartungen erfüllen zu müssen. Denn Minho sieht absolut gar nichts in ihm.
„Ich bin hier, weil mir langweilig ist und du das Interessanteste bist, was mir seit Monaten untergekommen ist“, gibt Jungkook zu und es fühlt sich erstmals wie die Wahrheit an.
„Seit Monaten?“, fragt Minho verblüfft. „Bitte, Honey, das müssen mindestens Jahre gewesen sein.“
„Vielleicht.“ Wahrscheinlich. Jungkooks Vergangenheit verschwimmt in einem Brei aus immer gleichen Sitzungen mit immer gleichen Anzugträgern und immer gleichen Zielen. Mehr Geld, mehr Macht, mehr Ansehen.
„Ich bin wegen dem blonden Schönling hier“, gibt Minho dann zu.
„Dem blonden Schönling?“
Minho nickt und zeigt auf die Bühne. Die Typen mit den roten Lederhosen verschwinden gerade hinter dem Vorhang und machen Platz für einen neuen Mann – und Jungkook muss ihn nur ein einziges Mal ansehen, um zu verstehen, wieso Minho seinetwegen hier ist. Er ist groß und schlank und hat langes, blondes Haar. Sein Gesicht wirkt wie aus Marmor gemeißelt, perfekt symmetrisch und makellos. Seine Aura ist atemberaubend. Er steht nur da und scheint bereits allein mit seinem Blick den ganzen Raum im Bann zu halten.
Jungkook bleibt der Atem weg.
Der Schönling trägt ein rotes Seidenhemd, dessen Knöpfe bis zum Bauch offen stehen und den Blick auf funkelnde Goldketten und milchige Haut freilegen. Er ist barfuß und trägt weite, schwarze Stoffhosen. Die Aufmachung hat etwas Elfenhaftes, Luftiges. So als würde der Schönling jeden Moment davonfliegen und sie mit Glück segnen.
„Wer ist er?“, fragt Jungkook, ohne den Blick abzuwenden. Ein lethargischer R’n’B Song setzt ein und der Schönling beginnt sich zu bewegen. Obwohl seine Arme und Beine drahtig und lang sind, manövriert er sie so präzise und geschmeidig, dass es Jungkook heiß den Rücken hinunterläuft.
„Keine Ahnung. Ich habe ihn Mal beim Verlassen des Clubs zufällig entdeckt und mir geschworen, eines Tages für ihn herzukommen.“
„Du bist wahnsinnig.“
„Ich weiß. Liegt in den Genen.“
Jungkook will weiter darauf eingehen, aber der Schönling bewegt sich genau in dem Moment auf sie zu und die Worte ersticken ihm im Hals. Das Seidenhemd und die weite Stoffhose flattern an seinem Körper wie ein rauschender Wasserfall und betonen seine fließenden Bewegungen. Er geht auf die Knie und fährt sich dabei über seine nackte Brust – und Jungkook ist unglaublich dankbar, dass er den Türsteher dazu bestochen hat, ihnen Plätze in der ersten Reihe zu geben.
„Ich glaube, ich bin verliebt“, murmelt Jungkook.
„Touché“, sagt Minho. „Du hast sicher nichts dagegen, mir einen Lapdance zu kaufen – oder?“
„Vielleicht will ich den selbst.“
„Bitte“, entgegnet Minho und drückt, ohne den Blick vom Schönling abzuwenden, seinen Oberschenkel näher zu Jungkook. Jungkook weiß nicht, wie Minho so einfach herausgefunden hat, dass er eine enorme Schwäche für Schenkel hat, aber er verflucht ihn innerlich dafür. „Es ist objektiv betrachtet die bessere Option, wenn du den Lapdance mir kaufst. Dann kannst du aus nächster Nähe beobachten, wie der schönste Mann der Welt den Zweitschönsten besteigt. Solche Privilegien sind rar.“
Jungkook schnaubt und obwohl der Schönling sich gerade sein Seidenhemd auszieht, wendet er den Blick ab und sieht stattdessen Minho an. Minho ist schön, keine Frage, aber das liegt nicht an dem goldenen Elfen-Make Up oder den aufgemalten Glitzer-Sommersprossen, die ihn weihnachtlich wirken lassen. Es liegt an der Körperhaltung. Dem Selbstbewusstsein. Der Tatsache, dass er Jungkooks Blick so furchtlos begegnet, als hätte er nichts zu verlieren.
Und vielleicht hat Jungkook ja auch nichts zu verlieren.
„Deal“, sagt er und Minho grinst, als hätte er im Lotto gewonnen.
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Die Zimmer für die Privataufführungen sind noch luxuriöser als der Showraum. Auch hier sind die Wände mit rotem Samt überzogen, aber die Sessel und Sofas wirken teurer. Sie sind schwarz und mit Gold verziert, von dem Jungkook schwören könnte, dass es echt ist. Seidige Vorhänge trennen den Raum in verschiedene Abteile und lassen ihn wie eine Traumlandschaft wirken. Man weiß nicht so recht, wo er anfängt und wo er aufhört. Das Licht ist gedimmt, aber hell genug, dass Jungkook Minho deutlich erkennen kann. Er sitzt etwa einen Meter von Jungkooks Sofa entfernt auf einem pompösen Sessel und wartet, wie ein König auf sein Mahl. Etwas in Jungkooks Finger juckt danach, ihn zu berühren, aber Jungkook widersteht dem Drang und nimmt einen Schluck Whiskey.
Plötzlich wechselt die Musik. Der R’n’B Mix verstummt und wird von einem Jazz-Stück abgelöst. Jungkook sieht sich neugierig um und sucht zwischen den roten Seidenvorhängen nach den Umrissen eines Mannes, aber Minho bleibt gelassen sitzen. Wieso sollte er sich auch umsehen? Der Schönling wird so oder so zu ihm kommen.
Faszinierend. Jungkook nimmt nochmals einen Schluck. Ab sofort kostet jede Minute 20.000 Won, aber das könnte Jungkook ehrlich nicht unwichtiger sein. Es kocht eine Spannung in ihm, die er nicht kennt. Jungkook ist nie nervös und selten neugierig. Er lebt und tut, wie es ihm beigebracht wurde und kann sich nicht erinnern, jemals wirklich begeistert gewesen zu sein.
Begeistert Minho ihn? Vielleicht. Auf jeden Fall würde Jungkook um nichts in der Welt seinen Platz hier auf dem Sofa im Abendrot aufgeben.
Als der Schönling sich endlich blicken lässt, ist er bereits halb nackt. Er trägt dasselbe Outfit wie auf der Bühne, aber die luftige Stoffhose sitzt tiefer und das rote Seidenhemd hängt ihm bloß halbherzig an den Schultern. Er hat ein selbstsicheres Grinsen auf den Lippen und kommt in lethargischen Schritten auf sie zu.
„Hi“, grüßt er. Er sieht zwischen Jungkook und Minho hin und her, bevor er sich fraglos auf Minho fixiert, so als wisse er ganz genau, dass Jungkook nichts zu sagen hat.
„Hi“, grüßt Minho zurück und spreizt auffordernd die Beine. Der Schönling setzt sich hemmungslos seitlich auf einen der Schenkel und legt Minho einen Arm um die Schulter.
„Wie heißt du?“, fragt Minho. „Darf ich dich berühren?“ Seine Hand schwebt hinter dem Rücken des Schönlings und Jungkook rückt unbewusst auf dem Sofa vor, um die beiden besser sehen zu können.
„Nein, darfst du nicht“, antwortet der Schönling und Minho senkt seine Hand. „Du kannst mich Hyune nennen.“
„Hyune?“, fragt Minho das, was sich Jungkook denkt. „Was ist das für ein Name?“
„Ein schöner?“
Minho lacht perplex und Hyune streichelt ihm über die Schultern. „Hast du irgendwelche Präferenzen?“
„Überrasche mich. Ich langweile mich nicht gerne.“
„Trägst du deswegen solche lächerlichen Kleider?“
Minho grinst. „Ich kann sie ausziehen, wenn du willst.“
Hyune verdreht die Augen und steht auf. Er schiebt Minhos Beine zusammen und setzt sich so darauf, dass seine Knie links und rechts von Minhos Schenkeln auf dem Sessel aufkommen. Als hätte er noch nie etwas anderes getan, beginnt er sinnlich seinen Körper in Wellen zur Musik zu bewegen. Sein langes Haar fällt ihm über die Schultern und das rote Seidenhemd flattert an ihm herab.
Wie in Trance sieht Jungkook zu. Ihm ist heiß und er spürt langsam die Auswirkungen des Whiskeys. Sein Körper surrt angenehm und er verspürt eine Leichtigkeit. So als wolle ihm die Last des Alltags von den Schultern schweben und ihn zum Tanzen bringen.
Jungkook tanzt normalerweise nicht.
„Ist der schüchterne Anzugtyp dein Hündchen oder nur deine Geldbörse?“, fragt Hyune Minho und legt ihm die Hände auf die Schultern. Das Seidenhemd rutsch dabei seinen Körper hinab und legt Hyunes Schultern frei – welche überraschend gut trainiert sind, dafür, dass er in Kleidern so schlank wirkt.
„Er ist das Hündchen, das die Geldbörse trägt.“
Hyune lacht. Er rollt seine Hüften gegen Minhos und sieht ihm tief in die Augen. Es ist, als wäre Jungkook gar nicht da.
„Ich mag Hunde“, sagt er.
„Ich auch“, antwortet Minho.
Jungkook nimmt einen großen Schluck Whiskey und Hyune beugt sich vor. Er flüstert Minho etwas ins Ohr und Minho lacht beglückt, als hätte ihm Hyune einen unglaublich guten Witz erzählt. Jungkook hat das Bedürfnis aufzustehen, Hyune von Minhos Schoß zu heben und ihn zu zwingen, ihm den Witz ebenfalls zu erzählen. Stattdessen sitzt er wie erstarrt da und tut nichts.
Sein Blick trifft auf Minhos und Minho zwinkert ihm zu – und Jungkook will etwas sagen, aber gerade als er den Mund öffnet, schlingt Minho die Arme um Hyunes Taille und zieht ihn näher. Etwas in Jungkooks Gehirn schließt sich kurz. Das ist nicht erlaubt. Wieso tut er das? Ich will mehr.
Hyune vergräbt die Hände in Minhos Haaren und türmt sich über ihm auf. Die Goldketten tanzen über seinen Körper und die lockere Stoffhose spannt sich durch die Bewegung.
„Sag deinem Hündchen, er soll den Mund schließen.“
Minhos Blick wandert zu Jungkook und Jungkooks Mund klappt zu, bevor Minho etwas sagen kann.
Minho grinst zufrieden. „Guter Junge“, sagt er und fährt mit den Händen über Hyunes Hüften.
Jungkooks Wangen glühen und irgendwo, weit hinten in seinem Kopf, hört er seinen Vater schimpfen, aber die Worte werden von dem rauschenden Blut in seinen Ohren übertönt. Er leckt sich über die Lippen und hält den Blickkontakt stand, während Hyune sich auf Minhos Schoß windet und bewegt.
Morgen ist Weihnachten und Jungkook sollte bald nach Hause gehen und sich für die Fete der Firma seines Vaters ausruhen – aber das hat er die letzten 28 Jahre seines Lebens immer getan, also wird es bestimmt nicht schaden, wenn er einmal länger bleibt.
Oder?
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Minhos Haare sind zerzaust und ein paar der Glitzer-Sommersprossen verschmiert, aber er sieht immer noch gut aus. Er lehnt entspannt an die rote Samt-Wand ihrer Booth, ganz hinten im Showraum und schlürft an einem Daiquiri. Vorne auf der Bühne tanzt eine Frau im Pfauenkostüm, aber das ist von hier kaum erkennbar.
Jungkook trinkt sein drittes – oder viertes? – Glas Whiskey und summt zufrieden. Hyune hat ihn kein einziges Mal angefasst und dennoch kann er Phantomberührungen des Tänzers auf sich spüren. Als wäre er Teil des Erlebnisses gewesen. Der Gedanke lässt ihn schaudern.
„Lass uns 20 Fragen spielen“, schlägt Minho plötzlich vor. „Wenn man nicht antworten will, trinkt man.“
„Wie alt sind wir?“, fragt Jungkook irritiert.
„Alt genug, um zu wissen, was Spaß macht?“, entgegnet Minho. „Was ist deine größte Angst im Leben?“
Jungkook schnaubt. Sofort schnellen ihm Bilder durch den Kopf. Er, in einem Raum voller Leute, aber niemand sieht ihn. Ein zweites Kind, das plötzlich auftaucht und ein besserer Sohn ist. Eine Frau, die ihn küsst, aber gedanklich so abwesend ist, wie seine Mutter. Ein Konto, das so voll ist, dass Jungkook vergisst, was das Wort „danke“ bedeutet.
„Geht dich gar nichts an“, sagt er gepresst.
„Dann musst du trinken“, antwortet Minho.
Jungkook verspannt den Kiefer, aber tut, wie ihm gesagt. Sein Vater hat immer behauptet, er sei der geborene Anführer, aber seit Jungkook denken kann, tut er, was sein Vater von ihm verlangt. Sich gegen Befehle aufzulehnen, ist ihm so fremd wie einer Taube die Tiefsee.
„Was ist deine größte Angst“, fragt er zurück. Er will Minho damit eins auswischen, aber Minho wirkt untangiert.
„Zu etwas zu werden, hinter dem ich nicht stehen kann“, sagt er als wäre es offensichtlich. Und irgendetwas in Jungkook hasst ihn dafür.
„Es ist unmöglich, zu hundert Prozent authentisch zu sein.“
„Ist es nicht.“
„Also bist du gerne eine lächerliche Weihnachtselfe?“
Minho lächelt. „Du sieht es als Kostüm, ich sehe es als Job, der mir hilft, meine Familie am Leben zu halten.“
„Du hast keine Familie.“
„Falsch. Ich habe keine Blutsverwandten. Mein Haus ist voller Menschen, für die ich durchs Feuer gehen würde.“ Minho sieht in die Ferne, bevor er hinzufügt: „Und deins? Ist dein Haus voller Menschen, für die du durchs Feuer gehen würdest?“
Ihre Blicke treffen sich und Jungkook kriegt keine Antwort raus. Das „nein“ ist dennoch laut und deutlich zu hören. Jungkook gibt sich geschlagen und nimmt einen Schluck Whiskey.
„Macht es dich geil, andere fertig zu machen“, fragt er im Gegenzug.
„Ein bisschen“, gesteht Minho. „Ich mag es, Leute mit Dingen zu konfrontieren, die sie nicht hören wollen. Es gibt zu viele Heuchler auf dieser Welt.“
„Du denkst, ich bin ein Heuchler?“
„Bist du es nicht?“
Doch, bin ich, aber das geht dich nichts an, antwortet Jungkook in Gedanken. Statt es auszusprechen, lenkt er das Thema in eine andere Richtung. „Also ist dein Bedürfnis Menschen zu quälen nichts Sexuelles, sondern rein politisch?“
Minho lächelt. „Oh, keine Sorge, wenn du lieb fragst, schlage ich dich auch auf die sexuelle Art und Weise grün und blau.“
Jungkook lacht. Vielleicht weil er irritiert ist, vielleicht weil er es lustig findet. Er ist sich nicht sicher.
„Danke, ich passe.“
„Sicher?“
„Ja.“ Jungkook macht eine Pause. Er ist sich nicht sicher, ob er Minho mögen oder fürchten sollte, aber er fühlt sich bei ihm auf eine merkwürdige Art und Weise wohl. Minho würde ihn nicht anlügen. Er würde ihm nicht ins Gesicht sehen und ihn für Dinge loben, für die er nichts getan hat.
Wie es sich wohl anfühlt, von jemandem wie ihm ein Kompliment zu bekommen?
„Was erfüllt dich mit am meisten Freude auf dieser Welt?“, fragt Jungkook als nächstes. Er ist sich nicht sicher, ob er an der Reihe ist. Aber wenn man mit 29 noch 20-Fragen spielt, spielt die Reihenfolge wohl keine so große Rolle.
„Mhm. Ich glaube nicht, dass ich das auf eine Sache herunterbrechen kann. Wahrscheinlich die Community. Meine Freunde und Nachbarn. Die Leute, mit denen ich tagtäglich für eine bessere Welt kämpfe.“
„Ihr kämpft?“
„Im übertragenen Sinne. Wir demonstrieren, protestieren… wir leiten gerade eine Kampagne gegen die Massentierhaltung in die Wege und sind sonst hauptsächlich damit beschäftigt, gegen die Arschlöcher von Jeon Industries zu hetzen, weil die unseren ganzen Block niederreißen wollen.“ Minho schnaubt und Jungkooks Herz sinkt. „Wir waren eigentlich dabei eine Obdachlosen-Unterkunft aufzubauen, allerdings mussten wir das vorerst stoppen, weil der Block in einem Jahr vielleicht nicht mehr steht.“
„Mh-mh“, stimmt Jungkook nichtssagend zu. Minho kann keine Gedanken lesen und Jungkook ist sich absolut sicher, dass er keine Ahnung hat, wie Jungkook zum Nachnamen heißt. Aber der Gedanke daran, was Minho ihm alles an den Kopf werfen würde, wenn er wüsste, dass er in ein paar Jahre Jeon Industries erbt, lässt ihm schlecht werden.
Minho schmunzelt. „Lass mich raten, du warst noch nie im Leben auf einer Demo.“
„Falsch.“
„Falsch?“, fragt Minho überrascht.
„Ich hab‘ mich mit 15 rausgeschlichen und bin zur Pride gegangen.“
„Nein.“
„Doch. Ein Freund von mir hat mich überredet und weil ich hoffnungslos in ihn verschossen war, bin ich mitgegangen.“
„Faszinierend.“ Minhos Augen funkeln. Er wirkt, als hätte er den Jackpot geknackt. „Das hätte ich dir nicht gegeben.“
„Würde es dich beruhigen, wenn ich dir sage, dass ich ihm meine Liebe gestanden habe, er mich abserviert hat, ich um 18:00 Uhr nach Hause gegangen bin und seither nie wieder eine Pride Flagge angefasst habe?“
Jungkook hat noch nie zuvor über diesen Tag in seinem Leben gesprochen – und das Mitleid in Minhos Augen lässt es ihn beinahe bereuen. Aber nur beinahe.
Ausnahmen machen die Regeln.
„Wir haben ne Menge Pride-Flaggen bei uns zu Hause.“
In dem zu Hause, das ich in ein paar Monaten abreißen werde. „Schon okay. Ich habe gelernt Männer zu küssen, ohne ihnen zu sagen, dass ich sie liebe und in der Öffentlichkeit nur mit Frauen gesehen zu werden.“
„Das ist traurig.“
Jungkook zuckt mit den Schultern. „Ich bin bisexuell. Es geht schon in Ordnung.“
Minho schweigt. Jungkook kennt ihn erst seit ein paar Stunden, aber es wirkt untypisch und irritierend – und er will, dass es aufhört, also fragt er: „Und du? Was ist deine Sexualität?“
„Ich bin Pan. Oder Bi – je nachdem wie du es definierst.“
Jungkook nickt. Minho seufzt. Er nimmt einen großen Schluck von seinem Daiquiri und lehnt sich nach hinten.
„Was füllt denn dich mit am meisten Freude auf der Welt?“, fragt er Jungkooks Frage zurück – und Jungkook kennt die Antwort nicht.
Es freut ihn, wenn sein Vater ihn vor seinen Angestellten lobt. Wenn eine seiner Ideen umgesetzt wird und er etwas schafft. Wenn ihm einer seiner Sexualpartner sagt, dass er gut ist. Wenn sein Name in der Zeitung angepriesen wird.
Aber sobald die Türen sich schließen, die Vorhänge zugehen und die Anzüge in die Wäscherei gefahren werden, bleibt nichts davon übrig. Dann liegt Jungkook allein im Bett, starrt die Decke an und fragt sich: wer bin ich? Wieso bin ich hier? Und wieso hasse ich mich mehr, als mein Vater es je könnte?
„Jungkook?“, fragt Minho und holt ihn aus seinen Gedanken zurück. Jungkook weicht seinem Blick aus und nimmt einen Schluck. Dann noch einen. Er könnte ehrlich sein und sagen, dass er die Antwort nicht kennt, aber was bringt das schon?
„Du weiß, dass es niemals zu spät ist, neue Hobbys anzufangen. Richtig?“
Jungkook schnaubt. „Ich bezweifle, dass Tischtennis oder ein Bastelkurs mir wahres Glück bescheren kann.“
„Unterschätze niemals die Macht des Bastelns.“
Jungkook hebt eine Augenbraue.
„Was?“
„Nichts.“
Minho macht eine Pause. Dann: „Du könntest dich uns anschließen“, schlägt er nonchalant vor. „Wir brauchen noch Investoren.“
„Ah.“
„Was, ah?“
„Du versuchst mich mit Sex zu bestechen.“
„Wir hatten noch keinen Sex.“
„Noch?“
Minho zwinkert ihm zu und Jungkook muss sich ein Schmunzeln verkneifen. Verdammt. Minho weiß, wie man Spielchen spielt. Und Jungkook ist ein schwacher Gegener. Er hat bereits Unmengen an Geld für Minho liegen lassen und irgendetwas in ihm flüstert ihm bereits zu, dass es eine gute Idee sei, Minhos Proteste gegen seine eigene Firma zu unterstützen. Absurd. Das ist einfach nur absurd.
„Ich glaube nicht, dass das finanziell möglich ist“, sagt Jungkook schließlich.
„Ach, bist du doch keine 12 von 10 reich? Oder hast du Angst davor, dass ich dich abserviere, sobald du mich geküsst hast?“
Ich habe Angst zu tun, was ich will und im Prozess dabei alles zu verlieren, was ich je gekannt habe.
Jungkook gibt keine Antwort und nimmt einen Schluck und Minho sieht ihn traurig, aber nicht hoffnungslos an. „Es gibt auch andere Hobbies. Du könntest das Tierheim unterstützen, in dem Doongi lebt. Mal abgesehen davon, dass viel zu wenig Leute Tiere adoptieren und es immer voller wird, sind sie echt knapp bei Kasse. Wenn es so weitergeht, können sie sich bald das Essen für die Tiere nicht mehr leisten.“
„Solltest du mir nicht erst eine Kostprobe der Bezahlung geben, bevor du versuchst, mich so offenkundig zu bestechen?“, entgegnet Jungkook.
„Wohl wahr“, antwortet Minho. Er rutscht geschmeidig von seiner Bank und geht um den Tisch herum zu Jungkooks Seite. Und Jungkook kann gar nicht registrieren, was passiert, bevor Minho dicht neben ihm sitzt, ihm einen zarten Kuss auf den Mundwinkel haucht und die Hand in seinen Haaren vergräbt.
Fuck. Alles an dieser Situation ist falsch. Minho sollte ihn nicht küssen. Schon gar nicht so liebevoll und vorsichtig. Er sollte sich jemanden wie Hyune suchen, der mit ihm mithalten kann und keinen scheiß Haufen Elend ist. Jemand, der nicht nur so tut, als wäre er gut, sondern es auch ist.
„Entspann dich“, flüstert Minho ihm gegen die Lippen. Im Hintergrund läuft immer noch die Bühnenshow, aber alles, was Jungkook wahrnimmt, ist Minho.
„Ich würde dich nicht küssen, wenn ich nicht wollte.“
„Aber du würdest nicht wollen, wenn ich kein Geld hätte.“
„Woher willst du das wissen? Bist du nur dein Geld? Gibt es nichts Anderes an dir, was begehrenswert ist?“
Sie sehen sich in die Augen und Jungkook muss nicht ja sagen. Minho weiß auch so, dass er es denkt.
Minho presst ihre Stirnen zusammen und hält Jungkook fest. „Ich werde es dir beweisen“, flüstert Minho. „Hörst du? Ich werde dir beweisen, dass es da draußen mehr als Geld gibt. Du musst es nur zulassen.“
Jungkook hat einen Kloß im Hals und kriegt keine Antwort hervor, aber es ist okay. Normalerweise muss er mit seinen Worten seine Angestellten mitreißen und führen, aber vielleicht darf er auch einmal geführt werden.
Die Ausnahme bestimmt die Regel.
Aber wer macht eigentlich die Regeln?
⭒✧✰✧⭒
Die Fahrstuhltür ist noch nicht einmal zu, als Minho Jungkook um den Hals fällt. Er vergräbt die Hände in Jungkooks Nacken und presst ihn gegen die polierte Spiegelwand, als hinge sein Leben davon ab. Er ist einen halben Kopf kleiner als Jungkook, aber es fühlt sich dennoch an, als wäre er größer. Mächtiger. Selbstsicherer.
Jungkook küsst ihn zurück. Minhos Lippen schmecken nach Alkohol und Limette und sein Körper ist heiß. Der Penthaus-Fahrstuhl ist riesig, aber er ist zu klein, um all die Lust zu fassen.
Als sich die Tür mit einem leisen „Ding“ öffnet, zieht Minho Jungkook an seinem Jackett mit sich. Jungkook folgt ihm wie ein Hund. Er schaltet das Licht ein, um den großzügigen Eingangsbereich zu beleuchten und lässt sich weiter küssen.
„Ich bin überrascht, wie gut du küsst“, murmelt Minho gegen seine Lippen.
„Was hast du erwartet?“, gibt Jungkook zurück.
„Zurückhaltung und Verklemmtheit.“
Jungkook schnaubt und küsst ihn fester. Ja, er ist verklemmt, aber er ist nicht unfähig. Er erledigt seine Aufgaben gewissenhaft und arbeitet gründlich. Immerhin ist seine Leistung ausschlaggebend für seine Entlohnung. Wenn er nicht liefert, ist er weg vom Fenster.
„Wo ist dein Bad?“, fragt Minho zwischen Küssen.
„Den Gang runter, dritte Tür links.“
„Mhm.“
Jungkook zieht Minhos grünes Elfenhemd aus seiner Shorts und fährt mit den Händen unter den Stoff. Minhos Haut ist überraschend weich und elastisch und Jungkook massiert sie zufrieden. Minhos Muskeln regen sich unter der Berührung und Jungkook kann sich bereits bildlich vorstellen, wie Minho sich im Schlafzimmer über ihn türmt. Ob er sich so gut wie Hyune bewegen kann? Der Gedanke lässt Jungkook schaudern.
Minho löst sich von ihm und Jungkook beginnt ihn am Hals zu küssen. Minho trägt ein leichtes Parfüm, das vage nach Wald riecht und von vielen Stunden Alltagsschweiß und Körpergeruch überdeckt wird.
„Lass mich kurz ins Bad gehen, um mich für dich frisch zu machen.“
„Mh-mh“, murmelt Jungkook gegen Minhos Hals.
„Wartest du im Schlafzimmer auf mich?“
Jungkook nickt. „Das Schlafzimmer ist direkt neben dem Bad. Vierte Tür links.“
„Gut“, bestätigt Minho und zieht Jungkook den Gang entlang. Er presst ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, bevor er im Bad verschwindet und Jungkook allein zurücklässt. Jungkooks ganzer Körper kribbelt. Er muss sich kurz sammeln, bevor er die Kraft hat, sich ins Schlafzimmer zu begeben.
Es sieht alles genau wie immer aus. Aufgeräumt, sauber und charakterlos. Jungkooks Bett ist grau bezogen, an seiner Wand hängen Portraits von seinem Großvater und Vater, sowie ein Diplom seines Masterabschlusses. Bücher, die er noch nie angefasst hat, liegen auf seinem Nachttisch und das raumhohe Fenster gibt den Blick auf ganz Seoul frei. Von hier oben wirkt die Millionen Stadt winzig. Nichtig. Wie ein Spielplatz.
Jungkook legt sein Jackett ab und öffnet seinen Krawattenknopf. Normalerweise schließt er die Vorhänge, aber heute hat er Lust, der ganzen Welt zu zeigen, was für einen schönen Mann er in seinem Bett hat – auch wenn das Penthaus so weit oben ist, dass es niemand wirklich sehen kann.
Er dimmt die Lichter und verbindet sein Handy mit der Stereoanlage. Im Gedanken an Hyune wählt er eine Jazzplaylist aus, die den Raum leise beschallt. Er wünschte, Hyune wäre auch hier. Minho und er haben zusammen atemberaubend ausgesehen. Vielleicht kann Jungkook das Abendrot anfragen und um eine Privataufführung bei sich im Penthaus bitten. Wenn er beginnt, für Minhos Tierheim zu spenden und es richtig darstellt, kriegt er bestimmt auch Minho ein zweites Mal her.
Der Gedanke ist widerlich. Hat er nicht beweisen wollen, dass Jungkook mehr als nur Geld ist?
Aber ist er das? Jungkook denkt nicht. Aber es ist okay – Minho hat gesagt, er könne ihm auch so beweisen, dass er…
Die Tür schnellt auf und ein furioser Minho steht plötzlich im Rahmen. „Jeon Jungkook?“, fragt er giftig. Er hat eine Visitenkarte in der Hand und hält sie anklagend hoch. Neben Jungkooks Namen ist in goldener Schrift das Jeon Industries Logo aufgedruckt.
„Wo hast du das her?“
„Wo ich das her hab?“, entgegnet Minho entrüstet und kommt einen Schritt auf Jungkook zu. „Das ist deine größte Sorge?“
„Ich…“
„Du bist echt der letzte Dreck. Hast du eine Ahnung, wie sehr jeder einzelne meiner Freunde leidet, weil du scheiß Wichser das Gefühl hast, Gott spielen zu müssen? Dein Projekt zerstört duzende Leben.“
„Es ist das Projekt meines Vaters!“
„Aww, da bin ich ja beruhigt. Wenn Daddy schuld ist, macht es das gleich viel besser, dass meine ganze Kindheit in Grund und Boden gestampft wird.“
Jungkook ist wütend und traurig zugleich. Er will protestieren und weinen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Minho etwas in ihm losgetreten hat. Eine Hoffnung. Darauf, dass er mehr als Jeon Jungkook, der CEO-Sohn sein kann. Jungkook ist sich gewohnt, allein dazustehen und für sich selbst zu sorgen, aber wenn man erstmals Hoffnung gewittert hat, tut es umso mehr weh, wenn sie einem wieder entrissen wird.
„Was hast du erwartet?“, fragt Jungkook Minho verzweifelt. „Dass ich so reich bin, weil ich armen Kindern in Not helfe? Du hast genau gewusst, auf was du dich einlässt.“
„Es gibt einen Unterschied zwischen reichem Unternehmer und Typ, der mein Leben zerstört. Ich habe buchstäblich erwähnt, dass Jeon Industries meinen Block zerstört.“
„Ach. Würde ich also einen anderen Block abreißen, wäre es okay, dass ich dir Lapdances kaufe und dich mit zu mir nach Hause nehme? Hauptsache der Schwanz, den du dir in den Rachen steckst, schadet dir selbst nicht?!“
Jungkook kann förmlich sehen, wie die Wut in Minho überkocht. All seine Muskeln sind angespannt. Sein Nacken ist gerötet und sein Blick so stechend, dass Jungkook das Gefühl hat, ihn spüren zu können. Minho braucht nicht mehr zu sagen. Er braucht ihn nicht zu schlagen oder herumzuschleudern. Der Dolch kommt auch so an. Er rammt sich in Jungkooks Herz und ersticht das letzte bisschen Hoffnung, das er noch in sich getragen hat.
Minho zerknüllt die Visitenkarte und wirft sie Jungkook vor die Füße.
„Du wirst niemals wissen, was Liebe ist. Ich hoffe du und dein Geld werdet glücklich, denn du wirst einsam sterben, Jeon.“
Mit den Worten wendet er sich ab und verlässt das Schlafzimmer. Jungkook bleibt wie angewurzelt stehen. In der Ferne hört er das „Ding“ des Fahrstuhls, aber er nimmt es nicht bewusst wahr. Er fühlt sich taub. Seine Ohren rauschen und sein Blickfeld ist verschwommen. Er möchte weinen, aber es kommen keine Tränen.
Ausnahmen bestätigen Regeln. Im Endeffekt ist und bleibt Jungkook einsam und verlassen. Egal was passiert. Gewisse Dinge lassen sich nicht ändern.
(Oder?)
Jungkook legt sich ins Bett. Er hat keine Kraft sich das Hemd oder die Anzugshose auszuziehen. Ist doch egal, wenn die Kleider danach ruiniert sind. Jungkook könnte sich eine ganze Schneiderei kaufen und noch Profit damit machen. Hat man erstmal Geld, vermehrt es sich wie Feldmäuse in der Paarungszeit.
Ob sich Feldmäuse auch hin und wieder allein fühlen? Sie haben so viele andere Mäuse um sich herum, aber nehmen sie sich wirklich gegenseitig wahr? Sympathisieren sie miteinander? Oder tun sie es wie Jungkooks Familie und sehen hin, ohne je wirklich hinzusehen?
Die Uhr zeigt die Ziffern 02:56 Uhr. Es ist Weihnachten; das Fest der Liebe. Jungkook wird sich bald zurecht machen müssen, um mit der Firma, der Presse und Geschäftspartnern zu feiern. Und zum ersten Mal seit 29 Jahren hat er keine Ahnung, wie er das überstehen soll.
⭒✧✰✧⭒
„Du siehst scheiße aus“, sagt Hyunjin.
Minho wirft ihm einen bösen Blick zu. Klar, er fühlt sich scheiße, aber das gibt Hyunjin nicht das Recht, es ihm so offenkundig vorzuwerfen.
Minho nimmt eine Schüssel aus ihrem Küchenschrank und füllt sie mit Cornflakes, nur um festzustellen, dass sie keine Milch mehr haben.
„Wo ist die Milch?“, schnauzt er Hyunjin, der am Tisch sitzt und auf einem Brötchen herum kaut, an.
„Der Teufel hat sie geholt.“
„Seungmin war da?“
Hyunjin schnaubt belustigt. „Keine Ahnung, Min. Wahrscheinlich hat sie jemand fertig gemacht und vergessen, neue zu kaufen. Wieso bist du so schlecht drauf? Soll ich dir einen blasen?“
„Lass mal“, winkt Minho ab und setzt sich mit der Schüssel milchloser Cornflakes zu Hyunjin an den Tisch. Er hat schon Schlimmeres gegessen.
Hyunjin hebt eine Augenbraue. Der Junge ist nicht besonders intelligent. Außer wie ein Halbgott tanzen, kann er nicht viel. Allerdings ist er sehr gut darin, Emotionen zu lesen und Händchen zu halten. Seit er im Abendrot arbeitet, könnte er es sich leisten, hier wegzuziehen. Aber er bleibt. Wegen Chan und Minho und den anderen Jungs. Wegen dem Tierheim und ihren Projekten. Weil man Familie nicht im Stich lässt.
„Der Typ vom Kaufhaus will mir mein Geld nicht überweisen”, sagt Minho schließlich. „Er hat gesagt, meine Performance als Weihnachtselfe wäre zu obszön gewesen und ich hätte die Kinder verscheucht.“
„Klingt ganz nach dem Minho, den ich kenne.“
Minho wirft ihm einen bösen Blick zu.
„Sorry. Ich kann dir Geld leihen, wenn du magst.“
„Lass mal“, sagt Minho und stopft sich einen Löffel voll trockene Cornflakes in den Mund. „Ich werde an Silvester morgen bei einem Bankett servieren und direkt bezahlt. Wird schon noch hinhauen.“
„Oh nee“, jammert Hyunjin. „Wieso bist du jedes Mal an Silvester weg? Lix und ich wollten dieses Jahr mit allen Plätzchen backen und Champagner trinken. Außerdem schuldest du Changbin einen Neujahrskuss.“
Minho rümpft die Nase. Changbin hat ihn überlistet. Minho hat eine Wette gegen ihn verloren und der kleine Muskelprotz hat das direkt ausgenutzt und ihn dazu erpresst, seinen ersten Kuss des Jahres zu ergattern. Im Grunde genommen hat Minho nichts dagegen – er küsst all seine Freunde gerne –, er mag es bloß nicht ausgetrickst zu werden.
„Tja, das muss warten, das Bankett zählt auf mich.“
Hyunjin grunzt. „Das Bankett scheißt auf dich, Hyung.“
„Und ich scheiße auf Changbin“, wettert Minho zurück. Er macht eine Pause. „Wir werden hier im Sommer rausgekickt. Jedes Geld, das wir gerade verdienen können, ist notwendiges Geld.“
„Wir werden schon was finden. Wir haben es bis jetzt immer geschafft, wieder auf die Beine zu kommen. Weißt du noch, als Jisung fast aus dem Heim geflogen ist und wir einen Massenstreik angezettelt haben, um die Betreuer zu bestechen?“
Minho lächelt. Er erinnert sich noch genau. Sie waren alle noch Teenager – Chan 16 und Jeongin 12. Jeden Tag haben sie Regeln gebrochen und das Waisenheim auf den Kopf gestellt. Eines Sommers haben die Leiter dann Jisung und Changbin auf frischer Tat ertappt. Sie haben sie in der Küche beim Cola stehlen erwischt. Changbin konnte entwischen, aber Jisung war zu langsam. Sofort ist er ins Aufsichtsbüro verfrachtet worden. Wie ein gefundenes Fressen hat sich der Heimleiter auf Jisungs Versagen gestürzt und ihm mit dem Rauswurf gedroht.
Chan und Minho haben währenddessen das ganze Heim mobilisiert. Alle Kinder haben sich ihnen angeschlossen und sich zum Protest in die Gänge gesetzt. Selbst die Kleinen, die kaum laufen konnten und schon lange hätten schlafen müssen, sind mit ihnen draußen geblieben. Sie haben so lange gewartet, bis der Heimleiter Jisung entlassen und sie zurück auf ihre Zimmer gescheucht hat.
Die Erinnerung ist schön. Auch wenn Minhos Kindheit alles andere als unschuldig gewesen ist, vermisst er die Zeit, in der alles noch leichter gewirkt hat. Als Kind ist einem die Schwere der Welt nicht bewusst. Man weiß nicht, was für grauenvolle Monster da draußen lauern. Der Klimawandel ist bloß eine Geschichte und der Kapitalismus ein großes Wort, das man nicht wirklich versteht.
„Ich weiß, dass wir es immer geschafft haben“, sagt Minho. „Ich mache mir auch keine Sorgen um uns. Wir packen das schon.“
Hyunjin lächelt.
„Aber was ist mit dem alten Choi? Mit der verwitweten Jung? Was wird Chaeyoung-Noona tun, wenn sie keine bezahlbare Wohnung mehr findet und ihre Kinder weggeben muss?“ Minho macht eine Pause. „Es gibt ne Menge reiche Säcke, aber ich kann sie nicht alle dazu verleiten, dir ihr Geld im Abendrot vor die Füße zu werfen.“
„Du kannst es probieren?“ Versucht Hyunjin die Stimmung aufzulockern.
Minho lächelt schwach. „Ja, ich kann es probieren.“
Das Versprechen ist ein kleiner Trost. Aber für mehr reicht Minhos Euphorie langsam aber sicher nicht mehr aus.
⭒✧✰✧⭒
Es ist bitterkalt. 2023 ist gerade mal seit fünf Stunden da – und Minho hat jetzt schon keine Lust mehr. Er hat seine Jacke eng um sich geschlungen und die Hände in die Taschen gesteckt. Seine Muskeln sind vom Kellnern erschöpft und seine einzige Motivation, weiterzugehen, ist Changbin, der zu Hause mit den anderen wartet und seinen Wettgewinn einlösen will.
Ein paar übermütige Kinder rennen mit Feuerwerksresten durch die Gegend und taumelnde Gestalten schleppen sich kotzend von Hauswand zu Hauswand. In den meisten Wohnungen sind die Lichter aus. Nur noch ein paar einzelne, übermütige feiern weiter. So als wäre dieses Jahr tatsächlich besser als das letzte.
Minho schnaubt. Schwachsinn. Absoluter, hirnloser Schwachsinn. Eine Ziffer auf einem Stück Papier ist so nichtssagend über Glück wie ein Lächeln auf einem gestellten Foto.
Minho biegt in die Straße seines Blocks ein und kramt den Schlüssel hervor, als er eine einsame Gestalt entdeckt. Sie spielt weder mit Feuerwerkskörpern, noch ist sie betrunken. Sie sitzt nur da und wartet auf einer Mauer vor Minhos Block. Als Minho auf sie zu tritt, hebt sie den Kopf.
„Jeon Jungkook“, sagt Minho.
„Lee Minho“, sagt Jungkook.
Er sieht fürchterlich aus. Wie ein geschlagener Hund, den man im Wald ausgesetzt und zum Sterben zurückgelassen hat. Seine Augen sind dunkel unterlaufen, seine Haare platt und seine Kleider zerknittert. Selbst seine Haltung ist erbärmlich. Jungkook ist kein selbstsicherer Mann, aber er ist auch nicht armselig. Zumindest war er das nicht.
„Willst du dir einen Eindruck darüber verschaffen, was du alles zerstören wirst?“, fragt Minho forsch. Jungkook wirkt nicht, als wäre er auf Streit aus, aber Minho ist zu müde, um höflich mit Arschlöchern umzugehen.
Jungkook senkt den Blick. Er hat einen Briefumschlag in der Hand, der an den Ecken zerknittert ist. So als hätte er ihn Stunden lang in den Händen gehalten und damit gespielt. Jisung hat einen ähnlichen Tick. Wenn er nervös ist, kann er nicht ruhig sitzen und muss so lange mit dem Saum seines Shirts herumfummeln, bis man ihn davon abhält.
„Es tut mir leid“, flüstert Jungkook.
Minho schnaubt. Na bravo. Dem Arschloch tut es leid. Jetzt fühlt es sich doch direkt wieder gut an, dass einem alles genommen wird.
„Schönen Abend noch“, sagt Minho und wendet sich von Jungkook ab.
„Halt warte.“ Jungkook steht panisch auf und hält Minho am Arm fest. Aber sobald Minho ihn ansieht, kriegt er wieder keine Worte raus.
„Was?“
„Hier.“ Jungkook streckt Minho den Briefumschlag hin. Als Minho ihn nicht gleich nimmt, fügt er hinzu: „Du musst nur noch unterschreiben, dann gehört alles dir.“
Minho runzelt die Stirn. „Alles?“
Jungkook nickt und Minho öffnet zögernd den Umschlag. Eine Menge Papierkram befindet sich darin. Grundbuchauszüge und Mieterlisten der Parzelle und Liegenschaft. Als Besitzer ist Jeon Jungkook eingetragen, aber es liegt ein Brief bei, der den ganzen Block auf Lee Minho übertragen will.
Minho bleibt die Sprache weg. Er wendet die Dokumente ein paar Mal und überfliegt sie wieder und wieder, aber er kann keine Makel erkennen. Sie sind echt. Vom Stempel von Jeon Industries bis zur Adresse des Seouler Hochbauamtes. Wenn er sie unterschreibt, gehört der Block ihm.
Minho sieht Jungkook verwirrt an, aber er kann in seinem Blick keine Hinterlistigkeit erkennen. Bloß Verunsicherung und Erschöpfung. Ein geschlagener Hund, der mit eingezogenem Schwanz vor einem Sitz und um Vergebung bettelt.
„Wir müssen zusammen auf’s Amt gehen, um es rechtskräftig zu machen”, flüstert Jungkook. „Aber wenn wir…“
„Komm mit“, unterbricht Minho. Seine Gedanken schwimmen. Er hat in den letzten 12 Stunden über 200 Champagnerflaschen geköpft und serviert und so viele Lachsbrötchen durch die Gegend getragen, dass ihm die Arme weh tun. Er hat seit 48 Stunden nicht mehr geschlafen und seine Finger frieren jeden Moment fest. Alles in ihm schreit, dass das hier ein schlechter Traum ist und er weglaufen soll. Aber sein Körper tut, was er will, ohne Minho um Erlaubnis zu beten.
Er scheucht Jungkook die Treppe hoch und bringt ihn zu seiner Wohnung. Das Licht brennt noch und jemand – der verdächtig nach Changbin klingt – singt fünf Tonlagen daneben „Last Christmas“, als wäre das Lied nicht den ganzen Dezember lang 500 Mal am Tag auf jeder Radiostation gespielt und gehasst worden.
„Zieh die Schuhe aus“, befiehlt Minho Jungkook und deutet ihm dann, ihm in die Küche zu folgen.
Ausnahmsweise sind heute alle sieben Mitbewohner von Minho anwesend.
„Minnie, da bist du ja endlich!“, ruft Changbin, als er Minho im Türrahmen entdeckt. Er kommt auf ihn zu und küsst ihn, als gäbe es kein Morgen. Jeongin macht ein angewidertes Geräusch und Jungkook verspannt sich hinter Minho – aber Minho blendet es aus. Für einen kurzen Moment genießt er es nicht an Lachsbrötchen und Abbrucharbeiten denken zu müssen und sich nur auf Changbins weiche Lippen konzentrieren zu können.
„Wir haben noch ein bisschen Jackie-Cola übrig“, sagt Changbin, als er sich von Minho löst.
„Dein Freund darf auch was haben“, stimmt Felix zu.
„Dein Freund?“, fragt Changbin und alle Blicke richten sich auf Jungkook.
„Oh“, sagt Hyunjin, der Jungkook als einzigen erkennt.
Jungkooks Mund klappt auf. Hyunjin sieht ohne Make Up und aufreizende Kleidung sehr viel jünger und bubenhafter aus, aber sein blondes Haar und seine makellosen Gesichtszüge sind unverkennbar. Aber Jungkook entscheidet sich dagegen, etwas zu sagen. Er wendet den Blick ab und macht sich klein.
Erbärmlich.
„Nicht mein Freund“, korrigiert Minho. „Jeon Jungkook.“ Er betont das Jeon extra stark, sodass selbst Jisung begreift, was Sache ist. „Könnt ihr uns bitte allein lassen. Wir haben etwas zu besprechen.“
„Sicher, dass ihr das jetzt tun wollt?“, fragt Chan, fürsorglich wie immer.
Minho nickt.
„Okay“, stimmt Chan zu. „Ihr habt ihn gehört, ab ins Bett.“
„Yes Daddy“, scherzt ein übermüdeter Felix. Seungmin verdreht die Augen und hilft ihm aufzustehen. Sie verlassen nach und nach die Küche. Hyunjin weicht Jungkooks Blick mit roten Wangen aus und Chan drückt Minho aufmunternd die Hand. Dann sind Minho und Jungkook allein.
„Tee?“, fragt Minho.
Jungkook nickt und setzt sich auf einen der unzähligen Stühle. Minho räumt ein paar leere Chips-Schüsseln und Alkoholflaschen weg und legt dann den Umschlag und zwei Tassen Tee auf den Tisch.
Er gibt Jungkook einen Moment, um sich zu sammeln, bevor er fragt: „Wieso?“
Jungkook zuckt mit den Schultern. „Wieso nicht?“
„Wenn ich dir das beantworte, sind wir 2024 noch hier.“
Jungkook lacht trocken. Er wirkt so verunsichert, dass ein beschützender Instinkt tief in Minho ihn in den Arm nehmen will. Minho schüttelt den Gedanken ab.
„Was sagt dein Vater dazu?“
„Ich weiß es nicht.“
Minho hebt eine Augenbraue. „Du hast es ihm nicht erzählt?“
Jungkook starrt verspannt auf den Umschlag zwischen ihnen auf den Tisch. „Ich habe mir meine Firmenanteile auszahlen lassen und mit dem Geld das Grundstück und die Liegenschaft gekauft.“
„Aber du hast nicht erwähnt, dass du vorhast, sie mir zu schenken.“
„Hättest du’s ihm gesagt?“
„Ja. Arschlöcher gehören vor den Kopf gestoßen.“
Jungkook lacht und starrt in seine Teetasse. „Hyune ist ein wirklich schöner Mann“, flüstert er ausweichend, sich offensichtlich bewusst, dass er mit Minhos Aussage genauso gemeint ist, wie sein Vater.
„Hyunjin ist ein Geschenk“, stimmt Minho zu.
Jungkook nickt. Sie schweigen einen Moment lang. Minhos Finger werden langsam wieder warm und sein Körper entspannt sich von der Anstrengung des Tages. Jungkook wirkt immer noch verloren. Aber nicht mehr ganz so niedergeschlagen. Die Tatsache, dass Minho ihn nicht vor der Tür stehen gelassen hat, scheint ihn zu beruhigen.
Minho hat es ernst gemeint, als er ihm angeboten hat, ihm zu helfen. Klar, er hätte dafür eine Gegenleistung erwartet, aber Minho glaubt fest daran, dass man Menschen helfen kann. Nicht allen. Manche haben schon zu viel Grauen angerichtet und den Hang zur Realität komplett verloren. Aber Jungkook ist noch kein ausgewachsenes Arschloch. Wenn er sich bessern will, kann Minho ihm eine bessere Welt zeigen.
„Was hast du vor?“, fragt er Jungkook neugierig.
Jungkook zuckt ahnungslos mit den Schultern.
„Okay, lass es mich anders formulieren: wieso hast du das getan?“ Er zeigt auf den Brief. „Wenn dein Vater davon erfährt, wirst du alles verlieren.“
„Das hatten wir doch schon“, murmelt Jungkook. „Es gibt in meinem Leben nichts, außer Geld.“
„Und du willst das Geld aufgeben?“
„Was habe ich zu verlieren?“
Minho lacht irritiert. „Nur jemand, der noch nie Cornflakes ohne Milch gegessen hat, würde so etwas sagen.“
Jungkook runzelt die Stirn. So als würde er versuchen, es sich vorstellen, aber es nicht schaffen. Muss schön sein.
„Du hast einen hübschen Freund“, wechselt Jungkook das Thema.
„Changbin?“
„Klein und muskulös?“
„Ja. Und nein, er ist nicht mein Freund.“
Jungkook sieht ihn verwirrt an. Minho seufzt. „Wir sind Freunde. Beste Freunde. Manchmal auch mehr. Verspürst du nicht auch hin und wieder die Lust, mit deinen Freunden zu schlafen?“
„Ich habe keine.“
„Touché.“
Minho trinkt seinen Tee aus und stellt die leere Tasse zur Seite. „Du kannst hier schlafen, wenn du willst. Wir haben vier Betten, irgendwo findest du bestimmt Platz. Ich bin schon zu lange wach, um jetzt gleich mit dir zum Amt zu fahren, aber wir können morgen Mittag gehen. Ich gehe davon aus, dass du dank deiner Rebellionsphase keine Verpflichtungen mehr bei deinem Daddy hast?“
Jungkook nickt.
„Gut. Das Bad ist die erste Tür rechts.“
Jungkook nickt wieder und Minho nimmt das als Zeichen, dass alles geklärt ist. Er lässt den Umschlag liegen und verschwindet in seinem Zimmer. Ursprünglich hat er es sich mit Seungmin geteilt, aber Seungmin ist eine Plage, also teilt Minho es sich nun mit Hyunjin. Heute liegt jedoch Chan darin. Minho muss lächeln. Er zieht sich die Arbeitskleider aus und streift sich ein altes Shirt und eine frische Boxershorts über. Er sollte duschen gehen, aber er ist zu erschöpft.
Gerade als er sich zu Chan ins Bett legt, geht die Tür wieder auf. Jungkook tritt vorsichtig herein. Er sieht sich kurz um, atmet einmal tief durch und kommt dann zu ihnen.
„Ist hier noch Platz?“, flüstert er.
Minho verdreht innerlich die Augen. „Lösch das Licht und leg dich hin.“
Jungkook tut, wie ihm gesagt. Er legt sich mit dem Gesicht zu Minho gedreht auf die Seite, lässt aber eine Lücke zwischen ihnen bestehen. Und obwohl es dunkel ist und Minho gerade einmal ein paar Umrisse erkennen kann, ist es immer noch offensichtlich, dass Jungkook absolut verloren ist.
Minho streckt die Hand nach ihm aus und verschränkt ihre Finger miteinander. „Es tut mir leid, dass ich dich beleidigt habe.“
„Du hast mich nicht beleidigt, du hast bloß die Wahrheit gesagt.“
„Ich weiß. Und ich würde es auch wieder tun. Aber es tut mir trotzdem leid.“
Jungkook streichelt ihm über den Handrücken, so als würde er Minho Komfort schenken und nicht umgekehrt.
„Ich habe dir versprochen, dass ich dir eine Welt zeigen werde, in der Geld nicht alles ist“, sagt Minho. „Vorausgesetzt, du lässt es zu. Erinnerst du dich?“
„Ja.“
„Ich weiß nicht, was dich hierher getrieben hat, aber das Versprechen gilt noch.“ Minho macht eine Pause. „Wenn du es wirklich ernst meinst und etwas ändern willst, werde ich da sein – werden wir alle da sein. Das Gute an einer gewählten Familie ist, dass jeder ein Teil davon sein kann. Uns bindet kein Blut, sondern Freundschaft und Vertrauen.“
„Du vertraust mir?“
Minho lacht. „Kein Stück. Aber was noch nicht ist, kann noch werden.“
„Okay“, sagt Jungkook.
„Okay“, bestätigt Minho.
Minho braucht keine fünf Minuten, um einzuschlafen, aber Jungkook bleibt noch wach. Der Gedanke aufzustehen, den Brief zu nehmen und wieder abzuhauen, schwirrt ihm ein paar Mal durch den Kopf, aber Jungkook bleibt liegen. Er sieht sein Leben brennen. Seinen Vater fluchen. Seine Mutter schreien. Alles, wofür er je gestanden hat, verliert sich im Nichts. Die Anzüge. Die Autos. Die Visitenkarten. Das Jeon seines Namens wird immer kleiner, bis nur noch das Jungkook übrig bleibt.
Wer ist dieser Jungkook?
Jungkook weiß es nicht. Aber Ausnahmen bestätigen Regeln und Minho bricht sie alle - also wieso sollte man sich nach Regeln richten?
Jungkook ist Jungkook. Minho ist Minho. Die Welt ist selten schön, aber nie verloren. Manchmal muss man sich bloß trauen, einen neuen Blickwinkel einzunehmen.
Mach deine eigenen Regeln.
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