Schicksalshafte Begegnung
Schicksalshafte Begegnung
Emma PoV
Obwohl Lizzy mich gefühlte hundert Male gebeten hatte, mir das irrsinnige Vorhaben aus dem Kopf zu schlagen, begab ich mich am nächsten Morgen direkt nach New York City.
Ich hatte den frühesten Zug genommen, um so viel Zeit wie möglich zu haben und während ich im Zug saß, hatte ich ein mulmiges Gefühl. In New York war ich das letzte Mal vor sehr langer Zeit gewesen, denn man hatte mich als Baby an einem Straßenrand dort gefunden. Danach war ich sofort ins Waisenhaus gebracht worden und dort hatte ich die ersten zwei Jahre verbracht, ehe ich zu einer Pflegefamilie nach Brooklyn gekommen war.
New York, Brooklyn, Boston...ich hatte schon sämtliche Städte durch, aber wie gesagtkeiner der Orte kam einem Ort von Heimat gleich. Die meiste Zeit über verdrängte ich die Erinnerungen an meine Vergangenheit, denn sie schmerzten mich und ich fühlte mich mit jedem weiteren Tag der verging, mehr allein und verlassen.
Warum hatten meine Eltern mich denn überhaupt bekommen, wenn sie mich nicht behalten hatten? Ganz offenbar hatten sie mich nicht gewollt und mich deshalb ausgesetzt. Aber sie hatten sich ja nicht einmal die Mühe gemacht, mich wenigstens in ein Krankenhaus oder selbst ins Kinderheim zu bringen.
Einzig und allein ein Zettel mit der Aufschrift Emma hatte man bei mir gefunden, was auf meinen Namen hindeutete. Aber woher ich kam oder wer meine Eltern waren...das wusste niemand, nicht einmal ich.
Und seit 18 Jahren suchte ich nun nach Antworten darauf, was bisher allerdings erfolglos geblieben war. Nirgends hatte ich einen Hinweis auf meine leiblichen Eltern oder ihren Verbleib gefunden. Es war fast so, als wären sie wie vom Erdboden verschluckt. Wer waren sie nur und vor allem WO waren sie?
Die Ankunft in New York holte mich in die Wirklichkeit zurück und ich griff zu meiner Handtasche, ehe ich aufstand und aus dem Zug stieg. Der Bahnhof war voll und ich bemühte mich, schnell einen Weg durch die Massen zu finden. Zum Glück erreichte ich den Ausgang schnell und als ich aus dem Gebäude trat, erblickte ich die gigantische Stadt New York City.
Staunend sah ich mich um, denn ich war damals ja noch ein Baby gewesen und konnte mich kaum an die Zeit hier erinnern. Und heute war ich von dem Anblick der Stadt nahezu überwältigt und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie man sich hier zurechtfinden sollte. Ich konnte nur hoffen, dass ich nachher den Weg zum Bahnhof wiederfinden würde.
Ich zog meinen Stadtplaner aus der Tasche und begann, durch die Straßen zu laufen. Mein erster Anhaltspunkt war das Waisenhaus, in das man mich nach meinem Fund gebracht hatte. Vielleicht hatten die Mitarbeiter dort, ja inzwischen etwas herausgefunden. Auch, wenn es nun schon lange Zeit zurücklag.
Ich ging die Gassen entlang und fand auch schnell jemanden, der mir den Weg zum Waisenhaus weisen konnte. Zum Glück schien der Weg nicht ganz so kompliziert zu sein und ich fand besagtes Haus, als ich um eine Ecke bog. Doch als ich über die Straße gehen wollte, stieß ich mit einer älteren Frau zusammen, der daraufhin ihre Einkaufstüten runterfielen.
,,Oh...das tut mir leid.", sagte ich und kniete mich augenblicklich hin, um ihr beim Aufsammeln zu helfen, doch sie lächelte nur.
,,Ach, halb so wild. Das kann ja jedem Mal passieren."
Schnell hatten wir die Einkäufe wieder beisammen und ich half ihr auf, woraufhin sie mich neugierig musterte. Sie war bestimmt schon 70 Jahre alt und ihre Haare waren allesamt grau. Ihr Gesicht war von Falten gezeichnet, aber es hatte irgendwas an sich, was geheimnisvoll auf mich wirkte. Warum hatte ich das Gefühl, dass ich diese Frau schon einmal gesehen hatte? Es wollte mir nicht einfallen.
,,Es ist schön zu sehen, dass es noch junge Menschen gibt, die einer alten Dame helfen und nicht einfach vorbeigehen. Das sind wahrlich sonderbare Zeiten heutzutage.", meinte sie und ich schmunzelte.
,,Ja...die Jugend von heute!"
Plötzlich verschwand das Lächeln der Frau jedoch, ehe sie sich prüfend umsah und sich zu mir vorbeugte. Eindringlich sah sie mich an und ich glaubte fast, sie würde mit ihren tiefblauen Augen durch mich hindurchsehen.
,,Das Ende ist nah...du musst stark sein und an dich glauben. Nichts ist wie es scheint und die Zeit ist fast gekommen. Vertrau auf dich und deine Fähigkeiten...sei stark, Emma!"
Völlig perplex sah ich sie an und erstarrte innerlich. Woher kannte diese Frau meinen Namen und was hatten ihre merkwürdigen Worte zu bedeuten? Ich verstand gar nichts und sah mich um, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich mich meinte. Doch, als ich mich wieder zu der alten Frau umdrehte, war sie verschwunden und ich sah mich verwirrt um.
Was war das denn gerade gewesen? Ich war wie vor den Kopf gestoßen und fragte mich, ob das eben wirklich passiert war. Wer war diese Frau bitte gewesen? Etwa eine Verrückte, die aus einer Anstalt ausgebrochen war und nun irrwitzige Ansprachen an fremde Menschen hielt?
Ich stand noch für ein paar Minuten völlig perplex da und fragte mich immer noch, ob ich mir das nicht eher eingebildet hatte. Doch dann schüttelte ich fassungslos den Kopf und ging über die Straße, bis ich das Waisenhaus erreicht hatte. Ich eilte die kleine Treppe hoch und öffnete die Tür, woraufhin eine Türglocke erklang und ich betrat das Gebäude.
Es war ein komisches Gefühl wieder hier zu sein, obwohl ich mich an die Zeit in diesem Heim ja so gut wie gar nicht erinnern konnte. Aber es war generell einfach komisch, sich als 18-Jährige in einem Waisenhaus zu befinden. Ich sah mich um und wartete darauf, dass mir etwas bekannt vorkam, doch dieser Fall trat nicht ein.
Als ein Ehepaar mit einem, ich schätzte 3 Jahre alt, Kind an mir vorbeigingen, verspürte ich einen leichten Stich. Ich war nie adoptiert worden und das, obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht hatte, als endlich eine Familie zu haben. Eltern, die sich um mich kümmerten...die mich so liebten wie ich war und auf mich aufpassen würden. Doch so etwas hatte ich nie gehabt und vermutlich würde ich das auch nie.
,,Kann ich Ihnen helfen?", fragte auf einmal die Empfangsdame und ich zuckte zusammen, da sie mich aus meinen Gedanken gerissen hatte.
,,Oh, ähm...ich hoffe es!"
Ich ging auf sie zu und sie schaute mich neugierig an, während ich für einen Moment noch zögerte. Sollte ich es überhaupt tun? In den meisten Fällen hieß es ja, man sollte die Vergangenheit lieber ruhen lassen und einfach nach vorne schauen. Aber konnte ich das? Einfach so weitermachen, ohne zu wissen, wer ich eigentlich wirklich war? Die Frage meiner Herkunft beschäftigte mich schon immer und ich wollte sie endlich klären. Also hatte ich wohl keine andere Wahl.
,,Mein Name ist Emma. Emma Evans und ich bin als Baby hier abgegeben worden. Ich hatte gehofft, dass man vielleicht inzwischen einen Hinweis auf meine leiblichen Eltern gefunden hat.", sagte ich und die Dame wirkte etwas irritiert.
,,Wie lange waren sie hier in diesem Waisenhaus?"
,,Etwa 2 Jahre! Danach wurde ich zu einer Pflegefamilie geschickt.", erklärte ich und die Frau erhob sich von ihrem Stuhl.
Sie ging zu einem Schrank und zog eine Schublade heraus, die voll von Akten war. Während sie suchte, dachte ich darüber nach, wie viele Kinder wohl inzwischen hier untergebracht worden waren. Wie viele Kinder ohne ihre Eltern aufwachsen mussten und das gleiche Schicksal teilten, wie ich.
Es war schrecklich zu wissen, dass es so viele Kinder gab, die ohne Familie aufwuchsen. Das Gefühl, völlig allein zu sein und das Wissen, dass sie niemand wollte...es war das schrecklichste Gefühl, welches es gab. Ich musste es wissen...ich spürte es selbst und das jeden Tag.
,,So, Miss Evans! Ich habe hier eine Akte, die auf sie zutreffen könnte. Allerdings hatten sie damals keinen Nachnamen. Ist das richtig?", fragte die Frau und ich nickte.
,,Ja! Ich habe den Namen angenommen, als ich bei meiner letzten Pflegefamilie war. Danach habe ich ihn einfach behalten."
,,In Ordnung!", setzte sie an und schlug die Akte auf.
Sie sah sich die beinhalteten Dokumente an und wirkte auf mich äußerst konzentriert. Während sie sich einen Überblick über meine Akte verschaffte, stellte ich mir die alltägliche Frage, wie meine Eltern wohl waren.
Die meisten Waisenkinder malten sich in ihrer Fantasie ja die perfekten Eltern aus, die insgeheim irgendein großes Geheimnis hatten und ihre Kinder nur weggegeben hatten, um sie vor irgendeiner großen Bedrohung zu beschützen. Aber ich wusste, dass ich realistisch sein und mit der Wahrheit leben musste. Und die Wahrheit war, dass meine Eltern mich wohl oder übel nicht haben wollten.
,,Tut mir leid, Miss Evans! Ich habe hier zwar ihre Dokumente und sämtliche Aufzeichnungen darüber, wo und wie man Sie damals gefunden hat, aber hier steht nicht ein einziges Detail darüber, wer Ihre Eltern sein könnten. Da kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen.", teilte sie mir mit und das winzige Fünkchen Hoffnung, dass ich bis eben noch gehabt hatte, erlosch mit ihren Worten.
,,Das hatte ich befürchtet.", brachte ich niedergeschlagen hervor, zwang mich aber zu einem höflichen Lächeln. ,,Trotzdem vielen Dank für Ihre Mühe!"
Ich wollte mich zum Gehen wenden, als die Frau auf einmal um den Tresen ging und mich aufmunternd ansah. Oje! Offenbar hatte ich nun ihr Mitgefühl geweckt und das wollte ich ja überhaupt nicht. Dass mir jemand sein Mitgefühl über meine dramatische Vergangenheit aussprach.
,,Ich kann zwar nicht verstehen, wie Sie sich fühlen und wie so ein Leben sein muss...aber seien Sie versichert, Miss Evans: früher oder später findet man immer das, wonach man sucht. Es geschieht nur meistens dann, wenn man gar nicht damit rechnet.", sagte sie und ich musste an mich halten, um nicht die Augen zu verdrehen.
Noch so ein Mensch, der sprach, als würde unser Leben von einer höheren Macht oder dergleichen gelenkt werden. Es war ja schon fast gruselig, wie viele Menschen es von der Sorte gab. Aber sie meinte es ja nur gut und deswegen warf ich ihr einen dankbaren Blick zu.
,,Vielen Dank! Ich werde es beherzigen."
Mit diesen Worten verließ ich das Waisenhaus wieder und als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, verharrte ich für einen Moment. Schon wieder eine Sackgasse! So langsam befürchtete ich, dass Lizzy Recht haben könnte und ich das Geheimnis um meine Herkunft niemals lüften würde. Wozu machte ich mir eigentlich die Mühe? Nur, um jedes Mal wieder ohne Ergebnis da zu stehen und auf ein Neues am Boden zerstört zu sein? Vielleicht sollte ich es wirklich gut sein lassen und einfach nach vorne schauen...war womöglich das Beste.
Ich ging langsam die Treppe herunter und nahm kaum wahr, wie es zu regnen begann. Der Himmel war von dichten Wolken beschattet und der Regen prasselte herunter, was mich jedoch gar nicht interessierte. Das Wetter passte hervorragend zu meiner Stimmung und ich hieß es daher herzlich Willkommen.
Meine Gedanken kreisten einzig und allein um die eine Frage: wer war ich? Warum ließ das Schicksal nicht zu, dass ich eine Antwort auf diese Frage fand und was hatte ich getan, um völlig allein auf dieser großen Welt sein zu müssen? Man dachte ja, mit 18 Jahren wollte man um jeden Preis weit weg von seinen Eltern sein, doch ich wünschte mir nichts sehnlicher, als sie endlich zu finden.
Plötzlich wurde ich von jemandem angerempelt und verlor fast das Gleichgewicht, doch der Verantwortliche packte mich rasch an den Armen und hielt mich davon ab, Richtung Boden zu stürzen.
,,Entschuldigt bitte! Das war keine Absicht.", sagte eine männliche Stimme und ich hob den Kopf, wodurch ich direkt in die Augen des Unbekannten blickte.
Sie waren blau und hatten einen leichten Grauton, was mich auf gewisse Weise faszinierte und ich war mir sicher, solche Augen nie zuvor gesehen zu haben. Er hatte blonde kurze Haare und ich war für einen Moment so gebannt von seinem Anblick, dass ich nichts sagen konnte. Er musterte mich neugierig und begann dann leicht zu scherzen.
,,Sie haben jetzt aber hoffentlich wegen mir keinen Schock, oder? Das könnte ich jetzt wirklich nicht verkraften.", meinte er und ich schüttelte den Kopf, als ich endlich aus meiner Starre erwachte.
,,Was? Nein...hab ich nicht. Mir gehts gut!"
,,Da bin ich ja erleichtert. Es tut mir wirklich leid...ich wollte Sie nicht umrennen. Aber ich bin heute mit den Gedanken ganz woanders und da habe ich wohl keinen Blick für meine Umgebung.", entgegnete er und ich musste leicht grinsen.
,,Das kenne ich nur zu gut. Manchmal ist es, als wäre man in einer anderen Welt. Und wenn auch nur für einen kurzen Moment."
,,Stimmt!"
Er grinste nun ebenfalls und ließ dann langsam seine Hände von meinen Armen sinken. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er mich die ganze Zeit über festgehalten hatte und ich fragte mich, wer dieser junge Mann war. Er schien ungefähr in meinem Alter zu sein und obwohl ich mir absolut sicher war, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte, so hatte ich das eigenartige Gefühl, ihn schon ewig zu kennen.
,,Ich bin übrigens Emma!", stellte ich mich vor und streckte ihm meine rechte Hand entgegen.
Zwar wusste ich nicht, warum ich auf einmal so offen zu jemand völlig Fremden war, denn sonst gab ich nie meinen Namen preis oder ließ mich auf Gespräche mit Fremden ein. Aber dieser Unbekannte hatte etwas an sich, was mich faszinierte und ich wollte aus irgendeinem Grund unbedingt mehr über ihn wissen.
Der junge Mann sah auf meine Hand und lächelte leicht, ehe er auch seine Hand ausstreckte und sie mit meiner verschloss. Dann schenkte er mir einen freundlichen Blick und nickte mir zu.
,,Freut mich Euch kennenzulernen, Emma. Mein Name ist Luke!"
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