Kapitel 10


„Kommt rein.“, lud uns Melanie ein und betrat die Wohnung; Jo, Sarina und ich folgten ihr. „Philip, bist du zu Hause?“
Es erklang keine Antwort.
„Philip?“, wiederholte sie mit Nachdruck.
„Ja wo sonst, wenn du mich hier eingeschlossen hast?“, wurde es von irgendwo säuerlich zurückgerufen.
„Was soll ich machen, wenn dein Vater bei der Arbeit ist?! Und jetzt komm her und begrüß unsere Gäste! Sie haben Sarina gefunden.“ Sie seufzte und sah uns dann an. „Tut mir leid. Setzt euch schon mal hin, ich gehe kurz in die Küche.“
Sie ging weg und ehe wir uns auch nur in dem kleinen Wohnzimmer umsehen konnten, kam schon ein bekannter Junge aus einer anderen Tür. Er hatte genauso blonde Haare wie seine Schwester und auch die gleiche Augenfarbe. Apropos seine Schwester. Sie ließ unsere Hände los und lief auf Philip zu, umarmte ihn. Er hockte sich vor ihr hin und umarmte sie ebenfalls. Sein Blick wechselte von unzufrieden auf besorgt. „Sarina, geht es dir gut?“
„Ja.“, antwortete diese leise.
Dann musterte der Junge uns kritisch, nickte jedoch. „Danke.“
„Kein Ding.“, erwiderte Jo ebenfalls mit einem Nicken.
„Sari, gehst du in dein Zimmer? Deine Puppen haben mich schon gefragt, wo du bist.“, lenkte der Junge seine Schwester ab.
„Meine Puppen!“, rief das Mädchen auf und lief eilig weg.
Ich musste schmunzeln. Jo lächelte und berührte leicht meine Fingerspitzen mit den Seinen.
„Ihr seid seltsam.“, bemerkte Philip beim Aufstehen.
Irgendwie wusste ich, dass er damit unsere Kräfte meint.
„Nicht seltsamer als du.“, entgegnete ich schulterzuckend.
„Nein, aber genauso seltsam.“
„Das stimmt durchaus.“, pflichtete Jo dem Jungen bei. „Ich bin Jo, das ist Anna. Wir -“
Er wurde vom Geräusch der zufallenden Tür unterbrochen.
„Hallo allesamt!“, erklang eine männliche erschöpfte Stimme. Ihr Besitzer betrat das Wohnzimmer und sah uns überrascht an. Nicht unbedingt erfreut, aber überrascht.
„Hallo Papa. Das sind Jo und Anna und ich zeige ihnen gleich mein Zimmer. Lass dir alles von Melanie erklären.“, sagte Philip schnell. Er bedeutete Jo und mir mit einem Wink, dass wir ihm folgen sollten, und wir taten das.
Philips Zimmer war in einem dunklen Blau gehalten. Er hatte einen ganz gewöhnlichen Tisch, auf dem ein Laptop stand, ein ganz gewöhnliches Bett und auch einen ganz gewöhnlichen Schrank. Aber die Zeichnungen, die überall herumhingen, waren etwas, was man einem 14-jährigen nicht zutrauen würde. Schwarz-weiße und farbige Skizzen von Menschen und Wesen, die nicht existieren konnten. Und sie waren großartig. Wirklich großartig!
Meine Lippen entglitt ein Raunen. Auch Jo staunte.
„Du kannst ja gut zeichnen!“, lobte er Philip.
„Danke.“, meinte dieser. „Also wer seid ihr beiden?“
Ich hatte nicht einmal Zeit, den Mund zu öffnen.
„Wir sind Angehörige einer Organisation, die für Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten gedacht ist.“, ratterte Jo runter, als hätte er diese Worte schon tausendmal aussprechen müssen.
Das wunderte mich, denn wir mussten uns noch nie auf diese Weise vorstellen. Wir hauten immer ab, bevor man uns zu etwas befragen konnte.
„Sie heißt 'Die Auserwählten'.“, fügte ich hinzu.
„Aha. Und was wollt ihr von mir?“, fragte Philip verständnislos und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wir möchten, dass du dich uns anschließt.“, antwortete ich.
Er überlegte kurz. „Was müsst ihr immer so machen? Ich meine, ihr seid doch eine Organisation.“
Jo und ich tauschten die Blicke aus. Genau hier wäre dann mal das Problem.
„Wir trainieren unsere Kräfte.“, fing ich an.
„Und suchen neue Auserwählte.“, fügte er hinzu.
Ich sah ihn entsetzt an. Sollte ICH sagen, dass wir Menschen retteten, wodurch wir unsere eigenen Leben auf's Spiel setzten?
Jo nahm meine Hand. „Und wir retten Menschen.“, schloss er.
Als Dankeschön drückte ich seine Hand.
Es dauerte eine Weile bis Philip verstand, was genau Jo meinte. Und dann hatte er kurz so einen Ausdruck in seinem Gesicht – es war Schock, Angst. Er wollte – wie auch jeder andere – nicht sterben. Doch es verflog alles sehr schnell und eine feste, erwachsene Entschlossenheit zeichnete sich in seinen Zügen ab.
„Ich mach nicht mit.“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber nein. Ich werde meine Familie nicht im Stich lassen.“
„Philip, wir brauchen dich.“, bat ich. Ich hab gewusst, dass seine Antwort so lauten würde.
„Wir mussten alle etwas zurücklassen. Alle haben für ihre Fähigkeiten mit etwas bezahlt.“, meinte Jo.
Ich hörte, wie wenig es ihm danach war, den Jungen überreden zu müssen. Er mochte die ganze Idee genauso wenig wie ich.
„Ich will das aber nicht. Und die Fähigkeiten will ich auch nicht. Ich muss mit meiner Schwester und meinem Vater bleiben. Ich darf nicht weg, Sarina braucht mich! Was soll ich ihnen sagen? 'Tschüss Papa, tschüss Schwester, ich geh dann mal mit diesen unbekannten Leuten hier sterben.' ?!“
Das gab mir einen Stich. Vor allem, da er Recht hatte. Wir verlangten von ihm, seine Familie zu verlassen, um sich in tödliche Gefahr zu begeben. Und vor allem jetzt war unsere Aufgabe sehr gefährlich. Das war nicht fair ihm gegenüber.
„Wenn du dich uns anschließt, wirst du deine Familie besser beschützen können.“, argumentierte Jo, während ich nur dumm vor mich hin starrte und über Philips Worte nachdachte.
„Ich werde nicht mit euch mitgehen. Lasst mich in Ruhe oder ich rufe meinen Vater.“
Mir wurde plötzlich klar, dass alle Auserwählten, die sich uns nach Leo angeschlossen hatten, eigentlich gar nicht freiwillig zu uns gekommen waren. Bell, Ebru und jetzt auch nicht Philip. Obwohl ich ja gar nicht wusste, ob Leo freiwillig zu uns wollte. Und auch ich hatte es zuerst gar nicht gewollt.
„Die Menschen sind gerade in großer Gefahr. Und vor allem die Auserwählten.“, entgegnete ich auf einmal.
Jo zog plötzlich an meiner Hand. Ich durfte nicht sagen, was ich erzählen wollte, ja. Philip würde bestimmt nur noch zurückschrecken. Aber er musste er wissen.
„Es gibt Leute, die solche Menschen wie wir für ihre eigenen Zwecke nutzen wollen. Also wenn du uns schon nicht helfen willst, dann pass zumindest gut auf dich auf.“, beendete ich.
Der Junge schwieg nur. Und ich spürte auch keinen Tropfen des Todes an ihm haften. Das war beruhigend zu wissen.
„Lass uns gehen.“, sagte Jo leise und führte mich aus dem Zimmer.
Nach einem knappen Abschied verließen wir dann die Wohnung.

Jo teleportierte uns nach Hause und wir erschienen im Gemeinschaftsraum. Alle schauten irgendeinen Film, Mat stand noch im Durchgang zum Zimmer. Er war ja wirklich die ganze Zeit oben geblieben.
„Hey.“, sagte Mat und die anderen sahen endlich zu uns rüber.
Eigentlich war der Gruß an Jo und mich gerichtet, aber egal.
„Oh, ihr seid ja wieder da. Erfolg gehabt?“, wollte Ebru wissen.
„Fifty fifty.“, antwortete Jo mürrisch.
„Erzählt.“, forderte Iris uns unverwandt auf.
„Wir haben Philips Schwester auf der Straße gefunden und Jo und Anna ind zu ihr gegangen.“, find Mat an.
„Wir haben sie nach Hause gebracht und durften auch rein. Der Junge war sogar zu Hause. Das war's aber auch mit dem Erfolg.“, berichtete ich weiter.
Ich war ziemlich unzufrieden mit dem, was wir erlangt haben. Aber wie gesagt, ich war auch unglücklich, dass wir Philip in Gefahr bringen würden – genauso wie Bell war er noch ein Kind.
„Er will nicht mitmachen.“, schloss Jo. „Er meinte, er möchte seine Familie nicht verlassen. Und das ist auch nachvollziehbar.“
Apropos Familie. Ich wusste immer noch nicht, wie es bei Ebru und Leo damit aussah. Ich müsste mal irgendwann nachfragen.
„Wir brauchen seine Hilfe.“, entgegnete Bell entschieden.
„Wir können ihn nicht zwingen!“, widersprach Ely.
„Wir nicht, sie -“ Toni sah argwöhnisch zu Bell und Iris rüber. „schon.“
Obwohl Bell nicht genau den gleichen Charakter hatte wie Iris, waren sie sich jedoch ziemlich ähnlich. Und damit gewann Bell an Feinden – zu schade für sie, jetzt ehrlich.
„Toni, fang das nicht schon wieder an, ich bitte dich.“, seufzte Leo.
Ich sah, wie Mat die Augen verdrehte, zum Sofa ging, sich davor niederließ und dem Fernseher zuwandte. Ich hätte das jetzt ebenfalls gern getan.
„Ich bin auch dagegen, dass wir Philip ihm zuwider in diese Sache reinziehen.“, stimmte ich Ely zu. „Es genügt schon, dass unsere eigenen Leben auf dem Spiel stehen. Außerdem ist der Junge noch ein Kind. Iris, du willst Bell doch auch außen vor lassen.“
„Anna, wir brauchen Philip!“, mischte sich Bell wieder ein. „Wir schaffen es nicht ohne ihn.“
„Als ob er mitmachen wird, wenn er nicht will.“, murmelte Mat. Er hörte ja zu.
„Jetzt mal wirklich.“, schnaubte Toni.
Jo hob abwehrend die Hände auf Brusthöhe. „Also ich geh nicht nochmal zu ihm. Ich akzeptiere seine Entscheidung und wenn wir ihn wirklich brauchen, dann bitteschön, Iris, Bell, geht selber hin.“
„Genau meine Worte.“, meinte ich.
„Mich braucht ihr gar nicht erst zu fragen.“, meldete sich Ebru gleich.
„Ich helfe nur beim Suchen. Und zwar nur oben vorm Computer.“, sagte Mat.
„Ich helfe euch.“, erklärte sich Leo nicht besonders enthusiastisch bereit.
Ich wusste, er tat das nur wegen Iris. Der arme Leo.
„Danke.“, nickte Iris ihm zu.
„Zumindest jemand Vernünftiger.“, brummte Bell.
„Und mach endlich den Fernseher aus, Mat!“, herrschte Iris Mat leicht aufgebracht an.
„Aber ich guck doch!“, protestierte dieser.
Mit einem genervten Stöhnen drückte er auf den Ausschaltknopf der Fernbedienung, als Iris ihn kalt ansah. Meistens benutzte er dafür seine Kräfte, also musste sie ihm was gesagt haben – Iris kannte einfach keine Grenzen!
„Was kann der Junge überhaupt? Warum ist er uns so wichtig?“, fragte ich. „Was für überlebenswichtige Fähigkeiten hat er?“
Iris sah stumm zu Bell rüber.
„Er kann die Zukunft zeichnen.“, antwortete das Mädchen.
„Was soll das heißen?“, wollte Jo wissen.
„Genau das soll es heißen.“
„Ist es das Gleiche wie bei Ely mit ihren Visionen, oder wie?“, vergewisserte sich Toni.
„Nein, Ely zeichnet bei ihren Visionen die Zukunft, die kommen wird, falls wir nicht eingreifen. Der Junge verändert jedoch die Zukunft mit seinen Zeichnungen.“, erklärte Bell weiter.
Zum Thema nutzvolle Kräfte... Halt, das bedeutete, dass, wenn wir voraussichtlich verlieren würden, er unsere Zukunft auf den Kopf stellen konnte, damit wir gewinnen. Oh mein Gott. Deshalb kann er auch so gut zeichnen.
„Bell, kannst du das nicht?“, fragte Ebru hoffnungsvoll.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Noch nicht, leider.“
„Nach dem Zeitreisen ist diese Fähigkeit die Seltenste.“, erzählte Iris. „Und dass Bell sie überhaupt hat, ist wirklich ein Wunder.“
Aha, Bell hat die Kraft, beherrscht sie aber nicht. Bell, warum?!
„Ich halt mich trotzdem aus der Sache raus.“, meinte Jo. „Toni, komm mal mit hoch.“
Ich wusste nicht, was sie da besprechen wollten, aber Ely und ich waren jedenfalls nicht eingeladen. Also blickten wir mit den anderen unseren beiden Jungs hinterher und fingen dann unser eigenes Thema an, was so überhaupt nichts mit all dem zusammen hatte. Wir wollten uns beide gern ablenken.

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