Kapitel 8

„Habt ihr Iris auch angerufen?“, fragte ich am nächsten Tag beim Frühstück.
„Angerufen...? Ahhh! Wieso sind wir nicht früher auf diese Idee gekommen?“, antwortete Mat sarkastisch.
Ich sah ihn böse an. „Werd nicht gleich frech!“
„Natürlich haben wir sie angerufen. Tausend Mal! Das war das Erste, was wir überhaupt getan hatten.“
„Okay!“, unterbrach ich ihn.
Man wurde leiser. „Übrigens hab ich heute Nacht nach ihr gesucht, oben.“
„Gut gemacht, aber... die Nacht ist für's Schlafen da.“, entgegnete Leo.
„Mann, was lehrt ihr mich alle?!“
Mat stand schon auf, doch Toni legte eine Hand auf seine Schulter und drückte ihn runter.
„Mensch, reg dich ab.“
Mat sah ihn sauer an, setzte sich aber wieder hin.
„Ich wollte nur, dass wir schneller vorankommen.“, erklärte er. „Ihr wisst, wir brauchen Iris. Sie selber hat gesagt, wir müssen zusammenhalten. Vor allem jetzt. Es ist doch jedem klar.“
Kurzes Schweigen.
„Mat?“, meinte Bell und zog dabei das „a“ in die Länge.
Der Genannte blickte sie fragend an.
„Wer, denkst du, sind die anderen?“
Ich verstand den Sinn ihrer Worte nicht. Aber Mat.
Er hob verwundert die Augenbrauen. „Was? Willst du mich jetzt auch belehren? Ausgerechnet du?“
Offensichtlich meinte Bell, dass wir auch selbst darauf kommen konnten, dass wir zusammenhalten müssen. Sie lächelte.
„Mat, das ist unser Müssen.“, widersprach Ely.
Mat hob die Hand. Das hieß, Ely sollte schweigen.
„A-a-a... Ich will ihre Antwort hören.“
„Du musst eine Sache bedenken. Ich“ Bell machte eine kurze Pause. „bin klüger als ihr. Also, theoretisch genommen, auch älter.“
Dann schürzte sie die Lippen. Mat öffnete und schloss den Mund. Ich wüsste auch nicht, was ich darauf antworten sollte.
Bell hob beschwichtigend die Hände.„Tut mir leid. Wollte wirklich nicht fies sein.“
„Ja, ja.“, murmelte Mat.
Die letzten Tage hatten uns ernsthaft zugesetzt. So viele Streite...
„Der Tag fängt schon mal gut an.“, seufzte Jo.
„Was du nicht sagst.“, stimmte Toni zu.

Später waren wir noch kurz Fernsehen. Wir mussten Nachrichten gucken. Es ist ja viel los. Ely war irgendwelche Sachen holen gegangen und ist etwas entsetzt zurückgekommen. Sie zeigte uns ein mit Bleistift gezeichnetes Bild.
„Ich weiß jetzt, wo wir Iris finden.“
Sie zeigte uns das Bild näher. Eine Bahn von innen. Sehr viele Menschen, üblich für diese Woche. In allen Gesichtern Schrecken, Angst, Schock, Panik. Manche Leute sah man Schreien. Und da, ganz hinten, fanden wir Iris.
„Was passiert denn da?“, fragte Jo und musterte die Zeichnung.
„Weiß ich nicht. Aber alle sind in Panik. Auf einem Bildschirm habe ich das heutige Datum gesehen. Und die Station wurde angekündigt.“
„Und die Uhrzeit?“, wollte Toni wissen.
Ely schüttelte den Kopf. Ich legte die Fingerspitzen auf das Blatt.
„16:24. Wenn wir nicht da sind, wird Iris verletzt. Ich glaube, die Bahn fährt von den Gleisen.“
„Wie nur?“, überlegte Leo.
„Vielleicht dank unserem neuen Freund.“, meinte Mat.
„Bingo.“, sagte Bell leise.

***

Vier Uhr. Wir standen an der von Ely gesagten Station und warteten. Schon seit zehn Minuten. Was ich am meisten hasse, ist das Warten. Das ist einfach nicht mein Ding. Immer wieder fuhren Bahne an uns vorbei, Menschen stiegen aus und ein. Und, mir schien es so, die Bahnhofarbeiter fingen an, uns nicht mehr aus den Augen zu lassen.
16:22. Zwei Minuten bis zum Einfahren unserer Bahn. Doch das würde nicht geschehen. Wir hörten lautes Krachen und... Quietschen? So ähnlich. Hauptsache, das Geräusch war richtig laut. Wir eilten zum Rand des Bahnsteigs und spähten in die Einfahrtrichtung. Die Bahn lag in der Nähe der Gleise, kopfüber. Menschen sammelten sich vor uns, wir wurden nicht beachtet. Genau das Richtige für uns. Jo teleportierte uns zur Bahn. Wir teilten uns auf die einzelnen Waggons auf, jetzt konnten wir uns nur durch Zeichensprache verständigen. Toni hielt den Arm hoch – jetzt konnten wir anfangen. Toni und Bell sprengten die Fensterscheiben und Jo und Mat sollten verhindern, dass jemand deswegen verletzt wird. Ganz schafften sie es nicht, aber das Geschaffene war schon in Ordnung. Nun halfen wir den Fahrgästen – wie das meistens gesagt wird – herauszukrabbeln. Mir wurde ein Kind rübergereicht, ich setzte es auf das Gras zu den anderen Menschen. Es hatte einen gebrochenen Arm und weinte heftig. Weitere fünf Minuten und... ich fand Iris! Kurz lächelte sie mich gespielt an. Während sie mir mit den Menschen half, redeten wir mithilfe ihrer Telepathie-Fähigkeiten.
„Ely hatte eine Vision?“
„Ja. Abzuhauen war rücksichtslos von dir.“
„Ich weiß. Aber so bin ich manchmal.“
„Andere erwarten eine Entschuldigung.“
„Als ob ich das nicht schon selber weiß. Ich fang mal jetzt schon an. Tut mir leid. Ich weiß, die Ohnmacht war nicht deine Schuld.“
„Entschuldigung akzeptiert. Wie geht das, dass Mat und Leo dich nicht gefunden haben?“
„Ich kann mich gut verstecken.“
„Toll. Wir wurden von einem Auserwählten angegriffen.“
„Ihr wurdet was? Von wem?!“
„Werden wir dir noch erzählen.“
In einer halben Stunde waren alle Menschen draußen auf dem Gras. Manche verletzt, aber wer hätte das nicht gedacht? Nun standen wir, Auserwählte, etwas abseits der Menge. Iris entschuldigte sich. Erst jetzt sahen wir die Polizei und den Arzt und die Feuerwehr kommen. Die haben ja lange gebraucht! Wir fassten uns schnell alle beim Arm und wurden von Jo nach Hause teleportiert.
„Ey, was war jetzt mit diesem Auserwählten, der euch angegriffen hatte?“, fragte Iris gleich.
Ely hielt ihr die Hand entgegen.
„Willst du's sehen?“
Ich wusste nicht, was Ely vorhatte. Ich wusste, Ely konnte in die Vergangenheit blicken und Iris müsste eine ähnliche Fähigkeit haben, die sie aber nie benutzt hatte.
„Ich hatte zwar schon längst keine Übung mehr, aber ja.“, antwortete Iris.
Bei dem Ja legte sie ihre Hand mit einem Klatsch auf die Hand von Ely. Dann schlossen beide die Augen. Wir warteten geduldig bis die jungen Frauen die Augen wieder öffneten und die Hände wegnahmen.
„Das gefällt mir gar nicht.“ 
Toni verdrehte die Augen, behielt aber seine Kommentare zum Glück für sich.
„Vielleicht irgendwas, was wir noch nicht wissen...?“, meinte Leo vorsichtig.
„Was soll ich denn noch sagen, außer dass ihr blöd seid?“
Wir starrten Iris verständnislos an.
„Was was sind wir?“, fragte Mat nach.
„Ihr seid blöd. Ihr habt gar nichts gespürt, obwohl ich es spüre, wenn ich nicht mal da war!“
„Soll das eine Frage sein?“, vergewisserte sich Bell.
„Nein, soll es nicht! Bell, zumindest du solltest etwas bemerken. Ich weiß gar nicht, wie ihr den Mann besiegen wolltet, zu viert.“
„Ich und Bell waren auch da.“, entgegnete ich beleidigt.
Doch Iris schenkte meinen Worten keine Beachtung. „Was habt ihr euch dabei nur gedacht?!“
„Du fühlst dich für uns verantwortlich?“, fragte Ely überrascht.
„Natürlich!“
„Das musst du nicht. Wir sind alt genug.“, meinte Jo.
„Andy hat es mir aufgetragen.“
Iris' Augen füllten sich mit Traurigkeit. Sie machte einen bebenden Atemzug und schüttelte den Kopf.
„Obwohl ich älter bin...“, brummte Leo in diesem Augenblick.
Iris sah ihn bestürzt an. „Leo, dein Ernst? Leute, hört mal -“
„Er kann doch nicht stärker sein als Bell.“, unterbrach Toni.
Bell beugte sich seitlich zu ihm und pikste ihn ein Mal mit dem Zeigefinger in den Bauch. So etwas habe ich von ihr noch nie gesehen. Sie wirkte immer älter als sie wirklich war. Außer in diesem einen Moment.
„Doch, kann er.“, widersprach sie und sah die Frau ruhig an. „Iris, ich habe seine Kraft gespürt.“
Jo warf mir einen fragenden Blick zu und ich zuckte die Schultern. Ich wusste auch nicht, was diese Geste ausgelöst haben konnte.
„Wir sind immerhin mehr als die einzige Bell.“, munterte uns Mat auf.
Netter Versuch. Leider bei allen durchgefallen.
„Wir sind acht. Das ist was!“, versuchte er es noch einmal.
Zweimal durchgefallen.
„Du vergisst, dass ich, Anna und Leo in diesem Fall nichts mit unseren Fähigkeiten unternehmen können.“, erinnerte ihn Ely unglücklich.
Iris schnipselte. „Da hast du's.“
Diese Diskussion gab mir einen leichten Stich ins Herz. Und nach einem Augenblick verstand ich auch, warum. Weil ansonsten Andy gekommen wäre und uns zur Vernunft gebracht hätte. Ich musste schnell blinzeln und das zog Jos Aufmerksamkeit an. Er nahm meine Hand und führte mich in den Flur hinaus, während die anderen in dem Gemeinschaftsraum blieben und über unser Vorgehen sprachen.
„Anna, was ist los?“
Er nahm auch meine zweite Hand in seine andere und sah mich erwartungsvoll und besorgt an.
„Ach, weißt du, nichts Bestimmtes.“
„Du weinst fast.“
„Ich weiß. Ich- Das ist wegen Andy. Wenn er da wäre, wäre es Schluss mit den Diskussionen.“
Jo ließ meine Hände los und drückte mich an sich. Ich bedankte mich leise und legte meine Arme um ihn. So standen wir eine Weile, bis wir Mats Stimme hörten.
„Gibt's was?“, fragte er in der Tür stehend.
Wir blickten ihn an, lösten uns voneinander und Jo antwortete:
„Nein. Bei dir?“
„Yep. Iris meint, ich soll euch holen. Und dass, wenn ich nach euch rufe, ihr mich nicht hören würdet.“
„Das stimmt.“, nickte ich.
Dann gingen wir drei zurück zu den anderen.

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