Kapitel 7

Am nächsten Tag, Vormittag, hatte ich wieder mein Handy angeschaltet. Bevor ich meine Nachrichten checken konnte, wurde ich von meiner Mutter angerufen.
„Anna, wo bist du?“, drang ihre unruhige Stimme zu mir durch.
„Bei Cris.“, antwortete ich ruhig und verständnislos. “Warum?“
„Dein Freund Jo war vorbeigekommen.“
Ich verschluckte mich an meiner Cola, die ich gerade trank. Cris stand auf, doch ich winkte ab und er setzte sich zurück auf das Sofa.
„Alles okay bei dir?“, fragte meine Mutter.
„Ja, ja, hab mich nur verschluckt. Was wollte Jo?“
„Wissen, wo du bist. Er meinte, du antwortest nicht, aber es sei wichtig. Tja, wir wussten sowieso nicht, wo du bist. Warum bist du eigentlich bei deinem Bruder?“
Sie fragte nicht, ob Jo und ich einen Streit haben. Und ehrlich gesagt wunderte es mich.
„Weil ich dazu Lust hab.“
„Aha, schlechte Laune. Darf ich kurz mit Cris reden?“
Ich drückte mein Handy an mich, sodass meine Mutter nichts Weiteres hören konnte. „Cris, Mama will dich sprechen.“
Zwar gefiel ihm die Idee nicht, aber er nickte und nahm das Handy entgegen. Das Gespräch bekam ich nicht mit, denn mein Bruder war ins Schlafzimmer gegangen. Aber er kam aufgewühlt wieder.
„Stress?“, fragte ich und Cris nickte.
Er gab mir das Handy zurück. Zehn Anrufe, unendlich viele Nachrichten und am Ende eine Audionachricht.
<<Anna, ich bin jetzt ganz gestresst. Ich hoffe, du schaltest das Handy noch heute Morgen an. Das ist jetzt die letzte Nachricht. Kurze Zusammenfassung: Iris ist weg. Leo sucht sie. Ely ist noch auf Toni sauer, geht aber bei den beiden. Mat hatte nachgeforscht. Du stellst dir gar nicht vor, was alles passiert war! Bell sagt, wir müssen zusammenhalten. Eigentlich ist sie die Einzige, die noch klar denkt. Sonst – out. Ely hatte eine neue Vision. Wir gehen heute raus. Ich hoffe, du kommst. Du wirst schon wissen, wohin. Übrigens, ich war bei dir zu Hause. Wo bist du?! Keiner ist böse auf dich. Wirklich! Hör mal, ich mach mir Sorgen um dich. Du musst es doch verstehen. Ich... muss los. Wenn es dir hilft: Ich liebe dich.>>
Cris hatte zugehört und sah mich erwartungsvoll an. „Na, was sagst du dazu?“
„Du willst, dass ich losgehe?“, wunderte ich mich.
„Ja. Du musst doch der Menschheit helfen, nicht?“, entgegnete er mit leichter Ironie.
„Die Auserwählten schaffen es ohne mich.“
„Meinst du?“ Er wartete mein Schweigen ab. „Jetzt geh schon! Ich merke doch, dass du nicht stillsitzen kannst. Und du hast es gehört, dein Jo macht sich Sorgen um dich.“
„Ich dachte, du kannst ihn nicht leiden.“, zog ich ihn auf.
„Also das stimmt gar nicht.“, lächelte Cris.
Ich stand auf und ging eilig in den Flur. „Gut zu wissen.“
Ich machte mich auf den Weg. Tatsächlich wusste ich, wo die Auserwählten sein werden. Das
Gefü-ü-ühl.

Die Bahn war übermäßig voll. Schlimmer als den Tag zuvor. Ich scannte die Menge durch. 2/3 der Menschen waren bedroht. Das heißt, sie konnten überfallen und verletzt werden oder irgendwo stecken bleiben. Was auch immer. Davon würde 1/3 sterben. Von denen konnte man die Hälfte noch retten. Ob das wirklich geschehen wird, wusste ich genauso gut wie den Grund, was diesen Wahnsinn ausgelöst haben konnte. Ich fragte mich, wohin so viele Menschen fuhren, wenn's in der Stadt so gefährlich war. Oder nahmen sie es gar nicht wahr?

Ich kam später an, als ich eigentlich sollte. Das gab mir zu fürchten, denn ich wollte meine Freunde nicht im Stich lassen, nicht nochmal. Ich durfte einfach nicht zu spät kommen. Die Tatsache war, dass ich wusste, wir waren in Gefahr. Wie immer... Ja, es gibt Dinge, die wir nicht schaffen können. Außerdem hatten wir schon lange kein Training mehr.
Ich rannte schneller.
Oh Mann, das Gebäude der Firma war riesengroß. Im welchen Stockwerk waren die anderen? Ich hatte noch kurz Zeit, um nachzudenken. Ich betrat die Eingangshalle. Die Rezeption-Frau schüttelte den Kopf mit Panik im Gesicht, sagte aber nichts. Sie war zum Schweigen verpflichtet. Ich ging zum Fahrstuhl, schloss die Augen und drückte auf irgendeinen Knopf. 21 leuchtete. Halbe Minute und ich war oben, die Türen öffneten sich. Ich bekam einen langen Flur zu sehen. Bei dem Vorbeigehen an der fünften Tür wurde ich in den Raum hineingezogen. Bell?!
„Pssst! Jo meinte, ich soll dich abfangen.“, sagte sie leise.
„Wo sind die anderen?“, fragte ich genauso leise.
„Weiter vorne. Wir gehen gleich. Müssen nur kurz die richtige Zeit abwarten. Leo sucht noch Iris, also sind beide nicht da. Wir können los.“
Sie öffnete die Tür, winkte mir zu und ging. Ich folgte ihr. Den Flur entlang, dann nach rechts. Etwas schlug dumpf gegen die hintere Tür, dann flog diese auf und Ely fiel mit dem Rücken auf den Boden. Sie richtete sich leicht auf den Ellbogen auf, rieb sich den Kopf und erhob sich wieder, ehe wir bei ihr ankamen. Sie stürmte rein und wir taten es ihr gleich. Es war ein Büro, wo wir drin standen. In der Mitte ein Mann, eigentlich ganz gewöhnlich gekleidet. Mat, Jo und Toni hatten ihn umkreist, Ely stellte sich dazu, dann auch Bell und ich. Die früher Genannten atmeten schwer. Jo nickte kaum merklich zur Begrüßung, ich ebenfalls.
Der Mann in der Mitte grinste. „Ah, zwei neue Herausforderungen. Schön, mal gucken, was ihr so drauf habt.“
Die Stimme war mir nicht bekannt. Der Mann war völlig fremd.
Plötzlich rannte er auf mich zu. Ich begriff das schlecht, weil... Einfach nur losrennen? Lächerlich. Aus Ungewohnheit reagierte ich nicht. Jo teleportierte sich, zog mich weg. Der Mann blieb abrupt stehen und lief in Bells Richtung. Kurz vorm Zusammenstoß trat sie einfach zwei Schritte zur Seite.
„Er testet uns.“, berichtete Jo.
„Und er hat Fähigkeiten.“, fügte Toni hinzu, der zu uns getreten war.
„Gegen ihn hilft nichts.“, meinte Ely.
Toni sah sich schnell um. Dann flogen Ordner auf den Mann zu. Bücher, Locher, Becher, was auch immer. Aber ehe die Sachen diesen Unbekannten erreichten, wurden sie zurückgeworfen und wir bekamen was ab.
„Ihr seid langweilig.“, sagte der Mann.
Bell starrte ihn ohne Blinzeln an.
„Du gehst zu Boden.“, befiel sie.
Zwingkraft, wie ich das nenne. Die hatte uns Bell nicht gezeigt. Aber ihr Vorhaben ging auch nicht in Erfüllung.
„Ne, ne, Mädchen, das klappt bei mir nicht. Du bist zu schwach.“, meinte der Mann.
„Bin ich nicht!“, rief sie.
Mat ging an ihre Seite. „Bell, lass das. Du musst niemandem was beweisen.“
„Ja, Bell, du musst niemandem was beweisen.“, äffte der Mann ihn nach. „Noch. Wir sehen uns.“ Er winkte uns lächelnd zu und verschwand.
„Wir reden zu Hause darüber, oder?“, vergewisserte sich Toni, wir nickten und Jo teleportierte uns weg.

***

Wir saßen im ersten Stockwerk im Gemeinschaftsraum. Okay, wir saßen nicht, wir waren da erst angekommen.
Jo umarmte mich. „Wir hatten noch keine Zeit für eine richtige Begrüßung. Ich bin wirklich froh, dich zu sehen.“
Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich dich auch.“
„Du hattest genug Zeit, um alles zu verdauen?“
„Ja...“, sagte ich zögernd.
„Gut.“, nickte er. “Wo warst du?“
„Bei Cris.“
Ich sah Verwunderung auf seinem Gesicht. „An ihn hab ich ja gar nicht gedacht!“
„Tja. Du weißt auch nicht, wo er wohnt.“, lächelte ich.
Mat trat an unsere Seite. „Ich will euch zwar nicht unterbrechen -“
„Mat, Lügen haben kurze Beine.“, meinte Jo und alle lachten.
Mat verdrehte die Augen. “Meinetwegen. Dann eben, mir macht es Spaß, euch zu unterbrechen. Was ich sagen wollte, ist, dass wir was zu besprechen haben.“
„Endlich wirst du auch mal erwachsen.“, sagte ich und tätschelte ihm die Haare.
Er war übrigens schon so groß wie ich. Wenn ich tat, was ich gerade getan hab, regte er sich ganz schön auf. Alle mochten, ihn manchmal zu ärgern. Er machte sich zum Glück nichts draus.
„Anna, lass das, ich bin nicht 5!“
Jo klopfte ihm beim Vorbeigehen paarmal auf die Schulter und wir setzten uns auf das Sofa. Mat verdrehte erneut die Augen, nahm Platz auf der Couch uns gegenüber, neben Bell. Toni, der auf dem Sessel saß, klopfte sich erwartungsvoll auf die Oberschenkel und blickte dabei Ely an, die sich umsah und sich doch noch auf sein Schoß setzte. Also nicht mehr sauer. Gut.
„Wer war das?“, fing ich an, alle zuckten die Schultern. „Wie heißt er? Er musste sich doch vorgestellt haben.“
„Das denkst du. Ich finde, es ist gar nicht wichtig. Hauptsache: Er ist ein Auserwählter und unser Feind.“, antwortete Toni.
Also hat er sich doch nicht vorgestellt.
„Besser, die beiden Worte „Auserwählter“ und „Feind“ stünden nicht nebeneinander.“, seufzte Ely.
Da war ich ganz ihrer Meinung.
„Jo, du meintest, er hat uns getestet...“, erinnerte ich mich.
„Ja. Er hat uns nicht wirklich angegriffen.“
„Nur herausgefordert. Er wollte sehen, ob wir gut genug für ihn sind.“, schlussfolgerte Mat nicht ganz sicher.
Das tun sie also die ganze Zeit beim Spielen – sie trainieren. Prüfen die Wahrscheinlichkeit des Spielgeschehens in realer Welt.
«Du hast ja lange gebraucht, um das herauszufinden.», hörte ich Iris Stimme in meinem Kopf und musste mich schnell im Raum umsehen.
„Ist was?“, fragte Ely, die mich schon die ganze Zeit über ansah, und ich schüttelte den Kopf.
Dafür musterte mich Bell wissend an. Aber sie sagte nichts.
Wie lange ließt du schon meine Gedanken?, dachte ich an Iris gewandt.
«Seit gerade eben. Aber psst, ich bin nicht da.»
Wo bist du denn?!
Auf diese Frage bekam ich keine Antwort, Iris meldete sich nicht mehr.
„Wir sind also gut genug?“, vergewisserte sich Bell.
„Leider ja.“, stimmte Jo zu.
„Und was jetzt?“, fragte Ely mit gelangweiltem und müdem Unterton.
Sie verstand genauso viel von Spielen wie ich. Also fast gar nichts.
„Wir müssen trainieren.“, antwortete Toni.

Am Abend kam Leo zurück, gerade rechtzeitig zum Abendessen.
„Ich konnte Iris nicht finden.“, berichtete er und erzählte von seiner Suche.
Ich bekam schlechtes Gewissen, da ich nichts gesagt habe, als Iris sich gemeldet hatte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top