Leb wohl
Lyla
Immer darauf bedacht, sich unauffällig zu verhalten, schlich ich durch die Gänge, an den Wachen vorbei in Richtung des Traktes der Bediensteten. Dort würde ich am ehsten übersehen werden. Es erschien mir sicherer als der Weg durch die königlichen Korridore. Womöglich würde ich dort auch noch Julia und Matthew antreffen und das wollte ich auf jeden Fall verhindern.
Als ich auf dem Weg zur Küche war, um mich mit den nötigsten Nahrungsmitteln für meine Reise einzudecken, erklangen plötzlich Schritte hinter mir im Gang und ließen mich aufhorchen.
"Halt, stehen bleiben", ertönte eine tiefe Stimme und ich zuckte mitten in der Bewegung zusammen. Ich sog scharf die Luft ein und befürchtete schon von einer Wache aufgehalten worden zu sein, als ich mich langsam herumdrehte und meinem Gegenüber ins Gesicht sah.
Erleichtert stellte ich fest, dass es nur ein Bediensteter der Küche war. Denn er trug ein weißes Hemd, eine leichte Hose und eine Schürze. Zudem verriet ihn die Kochmütze auf seinem Kopf.
"Was hast du in diesen Gängen zu suchen? Ich hab dich hier noch nie gesehen", fragte er etwas forsch und beäugte mich misstrauisch. Unsicher biss ich mir auf die Unterlippe. Welche Ausrede würde plausibel klingen? Ich gehörte nun mal nicht zur Küche, das schien er auf jeden Fall bemerkt zu haben. Als er ungeduldig eine Augenbraue hochzog, begann ich stotternd:" Ähm also... Ich versorge die Pferde über Nacht und äh hatte Hunger ..." Es war das erst Beste, was mir in den Sinn kam.
"Ein Mädchen?", meinte er skeptisch. "Seit wann bist du im Dienst?" "Noch nicht sehr lange. Ich arbeite nur, wenn es von Nöten ist." Inständig hoffte ich, er würde meinen Worten glauben schenken und mich einfach laufen lassen, doch das ungute Gefühl in meinem Inneren lies nicht ab.
Noch einmal beäugte er meine Erscheinung skeptisch, verzog dann das Gesicht und lachte laut auf. Verwirrt zog ich die Brauen zusammen und musterte den Mann verständnislos. Was hatte ich den nun verpasst?
"So so. Der gute Larry bestellt sich gelegentlich ein Mädchen her.", grunzte er beinahe erregt. "Kann ich ihm nicht verübeln. Es muss aufregend sein, ein so junges Ding im Heu zu nehmen." Meine Augen wurden groß. Er dachte doch nicht ernsthaft, ich sei die Hure des Stallburschen?
Gerade als ich protestieren wollte, hielt ich den Atem an und überlegte einen Moment lang. Es war eindeutig von Vorteil, wenn er dachte, ich sei nur irgendein Weib, welches zum Vergnügen der Männer beitrug. So würde er mich nicht weiter beachten und sich seinen Teil denken.
"Dann sind wir wohl aufgeflogen", sagte ich bestürtzt und spielte das Spielchen mit. Der Mann machte eine abwehrende Handbewegung. "Ach, Mädchen. Jeder hat sich Spaß an seiner Arbeit verdient - ganz gleich auf welche Weise. Also nimm dir, was du braucht und verschwinde"
Er wirkte gelassen, was mich aufatmen lies. Alles lief nach Plan. Somit lief ich an ihm vorbei und packte mir eine Tasche mit etwas zu Essen. Ein Laib Brot, ein wenig Käse und ein paar Äpfel glitten hinein, ebenso wie ein Wassertank und ein Küchenmesser. Man konnte ja nie wissen, was passierte.
Nachdem ich das Schloss durch den Boteneingang verließ, schlich ich zum Stall, entfachte eine Fackel und eilte durch die Gänge. Die Pferde prusteten leise, sonst jedoch blieben sie still. In Windeseile erreichte ich die Box von Mystery, Matthews Hengst. Ein wahrlich schönes Tier.
Zur Begrüßung wieherte er leise und legte den Kopf schief. "Scch", machte ich und strich ihm über den Hals. "Wir müssen leise sein. Es soll uns doch keiner bemerken" Zur Bestechung gab ich dem Pferd einen Apfel, welchen er genüsslich verspeiste, während ich nach Sattel und Zaumzeug suchte.
Schnell wurde ich in einer Abstellkammer fündig, als ich jedoch danach greifen wollte, geriet ich ins Stolpern und wäre beinahe hingeflogen. Es ertönte ein lautes Schnarchen aus Richtung Boden und ich schrak zurück.
Nach einigen Sekunden fing ich mich wieder und stellte fest, dass es der Stallbursche war. Ein guter Junge, dachte ich sarkastisch. Der würde nie und nimmer irgendetwas merken. Vorsichtig stupste ich mit dem Fuß gegen sein Bein.
Der Junge seufzte daraufhin und drehte sich in die andere Richtung, sodass ich an alles heran kam, was ich brauchte.
Im Eiltempo sattelte ich Mystery und brachte ihn so leise wie möglich aus dem Stall, dann stieg ich auf und gab ihm die Schenkel. Als wir durch das Tor ritten beachteten uns die Wachen nur kläglich und ehe sie genauer hinsehen konnten, verschwanden wir auch schon in der tiefschwarzen Nacht.
Es war ein herrliches Gefühl, das Schloss hinter mir immer kleiner werden zu sehen. Mein Leben am Hofe war nun endgültig vorbei. Matthew hatte mich verloren. Es war mir gleich, was er nach meinem erfolgreichen Fluchtversuch tun würde. Er konnte sich eine neue Braut suchen oder vergeblich auf mich warten.
Ich würde nicht zurückkehren - nicht in diesem Leben.
Ganz gleich, ob Jason mich in Rumina Willkommen heißen würde oder nicht. Meine Leben werde ich fortan abseits der Schlossmauern führen.
"Ich bin endlich frei", flüsterte ich Mystery zu und trieb ihn voran. Am liebsten würde ich Rumina noch vor Sonnenaufgang erreichen. Es würde mir mehr Sicherheit geben, wenn ich wüsste, dass zwischen Matthew und mir eine Grenze liegt.
Ehe ich jedoch Richtung Grenzlinie ritt, entschloss ich mich dazu, noch einmal bei meinem alten Zuhause vorbeizuschauen. Schon so lange lag der Besuch zurück. Gerne würde ich mich vergewissern, dass es meiner Familie gut ging, dass der König seine Versprechen diesbezüglich eingehalten hatte und sie glücklich und zufrieden mit ihrem neuen Anwesen waren.
Innerlich hoffte ich, dass ich niemanden von ihnen zu Gesicht bekommen würde zu so später Stunde. Denn sollte ich meinem Vater, meiner Mutter oder Liv begegnen, dann würde ich womöglich meinen Plan verwerfen und bei ihnen bleiben wollen. Und das ging auf gar keinen Fall.
Dort würde Matthew mich sofort finden.
Schon von Weitem erkannte ich, wie sehr sich unser Hof verändert hatte. Er war nicht mehr der klapprige Holzhaufen, den ich in Erinnerung hatte, sondern ein beachtliches Mauerwerk. Es schien mir größer, stabiler und mächtiger. Es war kein Bauernhaus mehr, es war ein Adelshaus, wenn auch nicht so prunkvoll.
Ich konnte mir schon denken, dass Vater und Mutter viel zu bescheiden dafür gewesen waren, auch noch zu prahlen. Sie waren so gute und ehrliche Menschen.
Als wir näher kamen, erreichte uns das schwache Licht der aufgestellten Fackeln, die in Wind hin und her wehten und Mystery wurde langsamer, bis er schließlich stehen blieb.
Bedauernd, dass ich ich nicht einfach reingehen und meiner Familie alles erklären konnte, seufzte ich leise auf und klopfte dem prustenden Pferd sachte auf den Hals.
"Das war mal mein Zuhause", erklärte ich ihm leise und sah mich noch einmal um.
Es war niemand zu sehen und auch das Hausinnere schien still zu sein. Kein einziges Licht drang durch die Fenster hinaus. Womöglich schliefen sie alle schon. Und das war auch gut so.
"Bitte verzeiht mir", murmelte ich. "Ich muss meinen eigenen Weg gehen, so wie es mir immer bestimmt war. Lebt wohl!" Mit diesem Worten führte ich das Pferd herum und wollte mich nun endgültig davon stehlen. Doch ehe ich den Hengst voran treiben konnte, ertönte eine mir bekannte Stimme hinter mir:"Lyla?"
Es war meine kleine Schwester Olivia - ohne jeden Zweifel.
Ich rührte mich nicht. Konnte ich gehen, trotz einen Blick auf sie oder sollte ich jetzt davon reiten und ihr nie wieder ins Gesicht sehen?
"Lyla, bist du es? Bitte, sag doch was" Ihre zarte Stimme klang flehend. Natürlich musste ich sie ansehen, daran führte kein Weg vorbei. Das war ich ihr schuldig.
Somit drehte ich das Pferd, nahm die Kapuze meines Mantels vom Kopf und sah sie mit festem Blick an. Dieser bröckelte allerdings sehr schnell, als ich sie dort auf der Veranda stehen sah.
Sie war so wunderschön: Langes blondes Haar, ein zartes Gesicht und groß war sie geworden - in jeder Hinsicht. In ihrem weißen Nachtkleid und mit nackten Füßen stand sie einfach dort und starrte mich ungläubig an. Ich erkannte, dass sie fraulicher geworden war - viel gesünder.
"Olivia", keuchte ich und sprang vom Pferd ab, um sie in die Arme schließen zu können. Sie kam mir derweil entgegen und riss mich beinahe von den Füßen, als sich ihre Arme um meinen Körper schlossen, um mich an sich zu pressen.
"Gott, ich dachte, ich sehe dich nie wieder", flüsterte ich erleichtert und drückte sie an mich. Ihre Wärme durchschoss meinen Körper und ließ mich schaudern. Wie lange hatten wir uns nicht mehr gesehen? Wie lange hatte ich sie nicht mehr in die Arme geschlossen?
Freude und Glück durchströmten mein Innerstes, sodass ich unwillkürlich lächeln musste. Olivia und ich hatten uns zwar immer schon geliebt, aber ich hatte es nie so offen zugegeben. Doch heute war das anders. Wahrscheinlich würde ich sie heute zum aller letzten Mal sehen und da gestattete ich es mir durchaus mehr Liebe zu zeigen.
"Oh, Lyla. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe", kam es leise von meiner Schwester, während sie sich aus meinen Armen befreite und mich musterte. "Oh doch", lachte ich. "Du hast mir ebenso gefehlt" Wenn nicht sogar noch viel mehr. Meine Familie war damals alles für mich gewesen. Alles, was ich jemals gehabt hatte.
Ihr Blick wurde mit einem Mal ernst, als sie mich musterte. "Lyla, wie siehst du überhaupt aus?" Verdammt. Ertappt schloss ich die Augen, presste sie einen kurzen Moment zusammen und öffnete sie dann seufzend. "Liv", versuchte ich die passenden Worte zu finden. "Ich brauchte etwas unauffälliges" Ehe ich weitersprechen konnte, fragte sie verwirrt: "Etwas Unauffälliges? Aber wofür?"
Sie trat ein paar Schritte zurück, wandte ihren Blick von mir bis hin zu Mystery, der friedlich vor sich hin graste. Dann entdeckte sie mein Gepäck, welches ich am Sattel befestigt hatte und fuhr hastig zu mir herum. "Lyla, was hast du angestellt?" Fassungslosigkeit fand sich in ihren blauen Augen wieder und noch etwas. War es etwas Verachtung?
Erschrocken zuckte ich zusammen. Meine Schwester hatte sich verändert und es tat weh, wie sie von mir zu denken schien, als hätte ich etwas getan, was wir womöglich alle bereuen würden. Vielleicht hatte sie damit sogar recht, doch nun war es zu spät.
"So sprich mit mir, Lyla! Oder ich wecke Vater und Mutter" So energisch hatte Liv noch nie mit mir gesprochen und als sie dann auch noch Anstalten machte ins Haus zu stürmen, hielt ich sie auf.
"Liv", sagte ich seufzend und setzte die Kapuze meines Mantels wieder auf. Der Stoff verhinderte, dass sie durch das Licht in meine Augen sehen konnte. "Ich habe eine Entscheidung getroffen"
"Was für eine Entscheidung?" Ihre Stimme klang piepsig. Ruhig atmend ging ich einen Schritt auf sie zu. "Die Entscheidung mein Leben fortan nicht mehr in diesem Land zu fortzuführen. Ich habe erkannt, dass ein Mädchen unserer Herkunft niemals eine Königin werden kann. Matthew wird dies eines Tages auch erkennen und mich in Frieden gehen lassen." Ich seufzte bei dem Gedanken an Matthew.
Ihm würde nicht mal im Traum einfallen, dass ich geflohen war, weil er sein Wort gebrochen hatte. Wahrscheinlich würde es ihn nicht einmal einen Dreck scheren, dass ich fort war. Er hatte doch Lady Julia. Sie würde ihn sicherlich trösten, wenn sie nicht schon längst in seinen Armen lag.
Schnell verwarf ich diesen fiesen Gedanken und fuhr fort in meiner Erklärung:" Es wird euch nichts geschehen, Liv. Das verspreche ich. Und ich hoffe, dass auch du mir im Gegenzug etwas versprichst. Bitte sag niemanden, dass du mich gesehen hast. Es ist wichtig, verstehst du?"
"Auch nicht Mutter und Vater?"
Ich nickte schweren Herzens. "Auch nicht ihnen. Das ist unser Geheimnis, Liv. Vergiss nicht, dass ich euch von ganzem Herzen liebe, auch wenn ich euch verlassen muss. Leb wohl, kleine Schwester. Leb wohl"
"Leb wohl, Lyla"
Eine Träne lief mir über die Wange, als ich mich umdrehte und ohne noch einmal zurückzuschauen davon ritt, immer weiter auf dem Weg nach Rumina.
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